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Wirklich nur Politiker?
Angelika M. HAUSENBICHL

Für viele Zeitgenossen war er ein unruhiger, immer nur zu ein wandernder und wandelnder Geist, stets prüfend und auf der Suche, wo er sich ideologisch niederließ und seine Bewußtheit ihn etwas für notwendig halten ließ, kannte er kein anderes Muß daneben; so beschrieb ihn bereits zu Lebzeiten Leo Herrmann.
Es ist die Rede von Nathan Birnbaum, jener politischen Persönlichkeit, die heute wie es scheint, nahezu in Vergessenheit geraten ist. In dem folgenden Aufsatz werde ich sein bisher bekanntes politisches Tätigkeitsfeld als Zionist, kurzer Zeitbegleiter Theodor Herzls (1860-1904), als Verfechter einer jüdischen Kulturautonomie sowie seine Anlehnung an die jüdische Orthodoxie im Zusammenhang seines kaum bekannten Kulturverständnisses behandeln.

Der Publizist, Politiker, Übersetzer und Literat Birnbaum wurde als Sohn ostjüdischer Einwanderer am 16. Mai 1864 in Wien geboren. Als einziges Kind genoß er eine traditionell-religiöse Erziehung. Bereits im Gymnasium engagierte er sich publizistisch und gab eine handschriftliche Schülerzeitung über die Palästinakolonisation heraus. 1882 begann Birnbaum mit dem Jurastudium an der Universität Wien und schloß dieses 1885 ab. Noch zu Beginn der 90er Jahre besuchte er orientalische und philosophische Lehrveranstaltungen. Mit achtzehn Jahren half Birnbaum bei der Gründung der "Kadimah" (gegründet im März 1883), dem ersten jüdisch-akademischen Studentenverein in Wien, dem ersten mit jüdisch-nationalem Gedankengut in Österreich. Seine erste Zeitschrift "Selbst-Emancipation" – in Anspielung auf die von dem Vorläufer des modernen Zionismus Leon Pinsker (1821-1891) verfaßte Schrift "Autoemanzipation" im Jahre 1882 – war Sprachrohr der "Kadimah", sowie Nachrichtenblatt der jüdischen Vereine.
Als Absolvent der juridischen Fakultät nahm er seine Tätigkeit in einer Wiener Rechtsanwaltskanzlei auf; dort arbeitete er jedoch nur kurze Zeit, da der Antisemitismus es ihm unmöglich machte, gleich wie nichtjüdische Juristen behandelt zu werden.
1890 heiratete er Rosa Korngut (1869-1934), die ihm drei Söhne gebar. Der älteste Sohn, Solomon Ascher (1891-1989) wurde ein berühmter Sprachwissenschafter (Jiddisch, Hebräisch, etc.), Literatur- und Kunsthistoriker. Menachem (1893-1944 (?) war ein begabter "Buchkünstler" und Illustrator; er sollte mit seinen Angehörigen den Tod in einem polnischen Konzentrationslager finden. Uriels (1894-1956) Talente zeigten sich im Kunstdruck, der Karikatur, der Malerei und auch in der Lyrik.
Nathan Birnbaum ging in die Geschichte als jener Mann ein, der den Begriff ‚Zionismus‘ noch vor dem Auftreten Theodor Herzls prägte. Er war auch der Initiator der ersten Konferenz für die jiddische Sprache in Czernowitz, auf der er sich mit wichtigen jüdischen Themen, wie Religion, Kultur, Sprache und Kunst mit bemerkenswertem Engagement und Eifer auseinandersetzte. In seinen Beiträgen, die zum größten Teil in jüdischen Zeitungen, Zeitschriften, Kalendarien und Broschüren in Österreich (Wien), Deutschland, Polen sowie Rußland veröffentlicht wurden, propagierte er seine Ideen, denen er zusätzlich durch Gründungen sowie Mitbegründungen von Institutionen Nachdruck verlieh. Anfang der Dreißiger Jahre verließ Birnbaum endgültig Österreich und übersiedelte nach Holland. Nach schwerer Krankheit starb er am 2. April 1937 in Scheveningen, einem Vorort von Den Haag.

Nathan Birnbaums Kulturarbeit wurde und wird, insofern sie seine politische Überzeugung betrifft, von der Forschung sehr ausführlich behandelt. Begriffe wie Kunst, Ästhetik, Dichtung oder gar Theater werden allerdings zögerlich, kurz oder gar nicht erwähnt. So viel bekannt ist, versuchte Birnbaum beispielsweise am Wiener Hofburgtheater und am Theater in Köln zu debütieren. Seine ersten dramatischen ‚Übungsstätten‘ zeigen sich in Novellen und Lesedramen in dialogisierten Feuilletons. Darin geht er als aufmerksamer Beobachter mit seinen Mitmenschen oft streng ins Gericht; Themen dabei sind etwa Zionismus, Sozialismus, Liebe, Tod, Menschenschicksale im allgemeinen. In den 90er Jahre des vorletzten Jahrhunderts steckt Birnbaum noch in seiner zionistischen Ideologie und sieht im Theater nicht nur die Möglichkeiten der Verbreitung seiner ideologischen Weltanschauung oder die Bestätigung und Bekräftigung seines dichterischen Könnens, sondern auch, um sich selbst und seine Familie aus der prekären finanziellen Lage herauszuholen.
Als Theaterkritiker für verschiedene Zeitungen setzte er bereits um 1895 den Anfang. Schillers "Räuber" (1896) in dem damals neu eröffneten ‚Theater des Westens‘ in Berlin oder Schnitzlers Dramentrilogie "Der grüne Kakadu", "Paracelsus" und "Die Gefährtin", die 1899 am Burgtheater uraufgeführt werden, gehören dabei genauso zu seiner analytischen Kritikerarbeit, wie Aufführungen jiddischsprachiger Ensembles in Wien, Czernowitz. Auch während seines Amerikaaufenthaltes 1908 in New York und Washington schrieb er Theaterkritiken. Da sich trotz Birnbaums Bemühungen in absehbarer Zukunft kein Erfolg als Stückeschreiber zu ergeben schien, richtete er seine Aufmerksamkeit auf die theoretischen Hintergründe, weshalb es kein (anspruchsvolles) jüdisches Theater gibt.
Birnbaum wendet sich schon bald nach dem ersten Zionistenkongreß (1897), - bei dem er selbst als einer der Hauptreferenten in Erscheinung tritt, - ab vom Zionismus, hin zum Gedanken einer eigenen jüdischen Kulturautonomie. Ihm ist wohl bewußt, daß die Gründung eines Judenstaates den Juden weltweit zugute kommen würde, doch müsse an die lange Zwischenzeit, d.h. bis zum Zeitpunkt der Gründung eines Staates Israel, somit an die in der Diaspora lebenden Juden gedacht werden. Das Judentum im eigenen Staat, sprich Israel werde eine eigene Kultur schaffen, doch die wichtigere Frage für Birnbaum ist, was mit dem "Kulturschicksal" des jüdischen Volkes in der Diaspora passieren werde. Das Ostjudentum mit seiner eigenen, selbständigen Kultur und Identität zum Vorbild nehmend, setzt er sich 1901 in vier aufeinander folgenden Aufsätzen in dem zionistischen Zentralorgan "Die Welt" unter dem Pseudonym ‚Pantarhei‘1 mit dem jüdischen Theater, welches stellvertretend für die Situation des gesamten ‚jüdischen Volkes‘ steht, auseinander. Er versucht darin herauszufinden, weshalb es keine jüdische Bühne in seinem Sinne gibt. Stücke assimilierter Juden, wie Arthur Schnitzler (1862-1931) oder Georg Hirschfeld (1873-1942) können für ihn aufgrund ihrer ‚jüdischen Entwurzelung‘ nie jenes ‚ursprüngliche Judentum‘ auf die Bühne bringen, welches der ‚Ostjude‘ mit seiner lebendigen jüdischen ‚Unmittelbarkeit‘ (Resultat aus der Sprache, dem Jiddischen, der Religion und der Tradition) repräsentiert
Um eine jüdische Bühne zu schaffen, geht Birnbaum Anfang des 20. Jahrhunderts daran, eine dafür verantwortliche ‚Kunstpolitik‘ zu schaffen. Diese sollte die Kenntnis des Jiddischen durch Sprachkurse, Vorträge, Lesungen, Gesangs- und Theateraufführungen verbreiten.
Den ‚Jargon‘ ablehnend, wird Birnbaum zum Verfechter des Jiddischen. Nicht die jüdische Theatertruppe, die ‚Budapester‘, dessen jahrelanger Direktor der Schauspieler Heinrich Eisenbach (1870-1923) war und wo Hans Moser (1880-1964) seine ersten komödiantischen Gehversuche machte, nimmt er als Vorbild, sondern die ‚Polnischen‘, die etwa zeitgleich in der Leopoldstadt spielten. Dieses Ensemble macht auf ihn einen stärkeren Eindruck, da es sich auch bemüht, ernste Stücke von angesehenen jüdischen Dramatikern wie etwa David Pinski (1872/73)-1959), Jakob Gordin (1853-1909) oder Peretz Hirschbein (1880-1948) aufzuführen, sowie Vorstellungen in Osteuropa, wie etwa in Czernowitz zu geben.
Birnbaum sah im Theater die Möglichkeit, Menschen für seine Sache zu gewinnen, nämlich den ‚Westjuden‘ die wichtige Rückbesinnung auf ihre jüdische Identität zu verschaffen. Solange jedoch die jüdischen Bühnen keine seriöse Kunststätte mit ausgereiften Theaterstücken von vorwiegend jüdischen Dramatikern war, sondern lediglich ein Ort für Klamauk, konnte die Verwirklichung seiner Überlegung nicht durchgesetzt werden. In seinem Einsatz gegen Assimilation und Antisemitismus und für das Erreichen von Kulturautonomie geht Birnbaum daran, eine intensive Kulturarbeit im Bereich des Theaters, der Literatur und der Musik zu fördern. Dazu unternimmt er viele Vortragsreisen nach Osteuropa und selbst nach Amerika. Er tritt als Begründer bzw. Mitbegründer von Vereinen, wie die bereits erwähnten "Jüdischen Abende" (1904, Wien) und dem akademischen Verein "Jüdische Kultur" (1905, Wien und 1910, Czernowitz), der etwa 1920 in "Jüdischer Gesangsverein" aufging, hervor. Die Unterstützung und das Bekanntmachen besonders ‚ostjüdischer‘ Künstler und deren Werk stehen in all den Veranstaltungen im Vordergrund.
Der Höhepunkt Birnbaums Auseinandersetzung mit dem Jiddischen stellt die Czernowitzer Sprachkonferenz (30. August bis 3. September 1908) dar. Die Erwartungen, welche Birnbaum und seine Helfer in das Zusammentreffen namhafter jiddischsprachiger Persönlichkeiten Europas und Amerikas setzten, erfüllten sich nicht. Scholem Alechem (1859-1910) und Mendele Mocher Sforim (1835/36)-1917), die "Klassiker moderner Jiddischer Literatur" sagten ab, ebenso der in Amerika lebende David Pinski. Teilgenommen haben Jizchak Leb Perez (1852-1915), der berühmte Schriftsteller und Essayist und die damals noch jungen Literaten wie Schalom Asch (1880-1957), Abraham Reisen (1876-1953) oder H. D. Nomberg (1876-1927). Von den ursprünglich zwölf Programmpunkten, die im Laufe der Sitzungen behandelt werden sollten, wurden einige aus Zeitgründen nicht zur Diskussion gebracht und nur schriftlich dem ‚Büro‘ übergeben; dazu gehören beispielsweise der siebente und der neunte Punkt, die sich mit dem jiddischen Theater, dem jiddischsprachigen Schauspieler, sowie mit dessen ökonomischen Status auseinandersetzen. Beim zehnten und letzten Punkt, der Anerkennung der jiddischen Sprache, zeigt sich die grundlegende Uneinigkeit bezüglich der Bedeutung der jiddischen Sprache; es gab bei den Teilnehmern, die aus verschiedenen politischen Lagern kamen, oft stürmische und lang anhaltende Debatten. Trotz des Anscheins ungenügenden Erfolges der Sprachkonferenz bleibt Birnbaums Einsatz für das Jiddische und die jüdische Bühne bedeutend.
Während seines dreijährigen Aufenthaltes in Czernowitz wendet er sich erneut dem Verfassen von Kritiken hauptsächlich jüdischer Theaterstücke zu. Er gründet gemeinsam mit dem Rechtsanwalt Max Diamant im Jahre 1910 den Verein "Jüdisches Theater" in Czernowitz und fungiert als einer der Vorstandsmitglieder.
In nur wenigen Tagen verfasste Birnbaum den Einakter Ich bin Salomo, der von einer Laiengruppe aufgeführt wurde und als einziges Stück im zweiten Band seiner "Ausgewählten Schriften" abgedruckt wurde.
Wie bereits in Wien, so gibt er auch in Czernowitz eigene Zeitungen heraus: "Dr. Birnbaums Wochenblatt" (jidd. 1908) und "Das Volk" (1910). Nach seinem Aufenthalt in Czernowitz unternimmt er eine längere Vortragsreise nach Russland und lässt sich anschließend in Berlin nieder. Knapp vor dem Ersten Weltkrieg übersiedelt er wieder nach Wien. In dieser Zeit setzt er sich eingehender mit jüdischen Fragen auseinander und nähert sich der jüdischen Orthodoxie. Birnbaum gründet die Gemeinschaft "Die Aufsteigenden", hebräisch "Ha-Olim" und wird 1919 Generalsekretär der Agudas Israel. Vermehrt setzt er sich nun auch mit grundlegenden religiösen Fragen auseinander. Den im "Gottes Volk" (1918) beschriebenen Messiasglauben überträgt der Dramatiker Birnbaum in seine Trilogie "Stärker als der Tod". Die darin behandelten Beziehungen zwischen Mann und Frau stehen stellvertretend für seine Auffassung vom spirituellen Kontext des Judentums, der ‚Heiligkeit der Erkenntnis‘, ‚Heiligkeit des Erbarmens‘ und ‚Heiligkeit der Pracht‘. Neben seiner jüdischen Monatsschrift "Der Aufstieg" (Berlin, Wien 1930-1933), dessen Titelblatt sein Sohn Menachem gestaltete, gibt Nathan Birnbaum als seine letzte Zeitung "Der Ruf" (1934-37) heraus, die später in eine Monatsschrift umgewandelt wurde.
Die Gefahr der Machtergreifung Hitlers erkennend, übersiedelt Birnbaum bereits 1933 nach Holland, wo er im Frühjahr 1937, am Vorabend des Pessach-Festes 5697 stirbt.

Literaturhinweis:
Angelika M. Hausenbichl: Nathan Birnbaum. Seine Bemühungen um das jüdische Theater und die jüdische Kultur. Diplomarbeit. Wien 2001

1 ‚Panta rhei‘ (griech.) bedeutet ‚alles fließt‘, man schreibt es Heraklit zu; die Mitarbeit Birnbaums an "Die Welt" wurde streng geheim gehalten – besonders vor Herzl -, da er und Birnbaum bereits zu dieser Zeit ein angespanntes Verhältnis hatten.

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