PESSACH UND DER DRANG ZUR FREIHEIT
Ferdinand DEXINGER
Kaum eine Reflexion über Pessach und die
Pessach-Haggada übergeht den Gedanken an die Freiheit,
der im Hinblick auf das zugrunde liegende Ereignis der Befreiung
aus Ägypten (2Mos 13) alle Texte des Seder durchzieht.
Nicht von abstrakter, spiritueller Freiheit ist die Rede,
sondern vielmehr von dem, was man heute die Selbstbestimmung
eines Volkes nennt: Freie Menschen in einem eigenen Territorium:
"Dieses Jahr hier; im Kommenden im Land Israel. Dieses
Jahr Sklaven im kommenden freie Männer (=Bne Chorin)."
Die so formulierte Erwartung soll auch existenziell verinnerlicht
werden. So könnte man in heutiger Sprache ausdrücken,
was die Haggada in folgende Worte kleidet: "In allen
Geschlechtern ist es Pflicht jedes einzelnen Menschen, sich
so zu sehen, als ob er selbst aus Ägypten ausgezogen
sei." Man sollte hier nicht übersehen, dass dieser
Vorgang der Befreiung mit einem anderen, religiös überaus
bedeutsamen Begriff umschrieben wird, nämlich dem der
"geula", der Erlösung. Es ist offenkundig,
dass diese Gedanken zum Ausdruck bringen, was Menschen empfinden,
die ihre eigene Lage als nahezu identisch mit der ihrer unterdrückten
Vorfahren erfahren.
Nahezu zwei Jahrtausende lang haben fromme Juden diese Texte
gehört, ohne dass für sie die reale Verwirklichung
dieser Erwartung auch nur annähernd vorstellbar gewesen
wäre. Dazu kommt noch, dass die religiöse Sprache
an sich schon dazu beiträgt im Bewusstsein der Frommen
den allzu massiven Realitätsbezug zu überwinden
und die Aussagen zu spiritualisieren. Dass das nicht nur eine
moderne Unterstellung ist, zeigen Aussagen des Philo von Alexandrien.
In seiner Schrift über die Wanderung Abrahams (De migratione
Abrahami) interpretiert er die Abraham gegebene Landverheißung
(Gen 12,3: ... in das Land, das ich dir zeigen werde! Ich
will dich zu einem großen Volke machen. ) eindeutig
allegorisch und spirituell. Philo (Migr 70.1) versteht die
beiden Verheißungen so:
"Zwei Gaben also sind bereits besprochen, nämlich
die Hoffnung, ein betrachtendes Leben führen zu können,
und das Heranwachsen zur Menge und Größe des Schönen.".
Hierher gehört auch der bekannte Text aus der Bergpredigt
des Neuen Testaments. In der Bergpredigt (Mt 5,5), erscheint
durch das Zitat von Ps 37,11 in der Form der LXX(=Ps 36,11),
das Land als Gegenstand der Verheißung für die
Sanftmütigen:
"Selig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land
besitzen."
Im Unterschied dazu sind es in der hebräischen Version
von den "Armen" die Rede. Das Land dürfte in
diesem Zusammenhang jedoch kaum als reales Territorium verstanden
worden sein, sondern eher als Symbol für das spirituelle
Heil der Zukunft oder auch die Neue Erde in apokalyptischem
Verständnis. Dabei handelt es sich natürlich um
eine jüdische Sichtweise und nicht etwa um eine spezifisch
christliche Interpretation.
Es wäre jedoch eine Verzeichnung der tatsächlichen
Verhältnisse, wollte man in dieser Spiritualisierung
den Hauptstrom des Freiheitsverständnisses in der jüdischen
Tradition sehen.
Die hebräische Bibel kennt den abstrakten Begriff "herut
= Freiheit" nicht, sie spricht aber von konkreten Vorgängen,
in denen Befreiung geschieht. Das Paradebeispiel ist eben
Pessach, dessen Festgedanke mit der Befreiung (=Herausführung)
aus Ägypten verbunden ist. Es ist nicht überraschend,
wenn man sich die geschichtlichen Abläufe vor Augen führt,
dass der hebräische Begriff der Freiheit (herut), verstanden
als politische Unabhängigkeit , erst in der späteren
Zeit des zweiten Tempels Gestalt gewinnt. In der Zeit nämlich,
in der die Makkabäer nationale Unabhängigkeitskriege
verbunden mit bewussten Territorialgewinnen führten.
Entlang dieser Linie bewegen sich die darauf folgenden messianischen
Bewegungen, die ganz ausdrücklich auf die Erlangung nationaler
Freiheit hingerichtet waren. Hierher gehört vor allem
auch der jüdische Aufstand gegen Rom unter Bar Kochba
(132-135 n. Chr.). Vom hebräischen Sprachgebrauch her
ist interessant, dass auf den in dieser Zeit geprägten
Münzen sowohl von der "Freiheit (herut) für
Jerusalem" wie auch von der "geula" die
Rede ist. Das Selbstverständnis dieser Gruppen findet
wohl seinen prägnantesten Ausdruck in der Rede des Eleazar
in Masada, die bei Josephus Flavius zu finden ist:
"Vor Zeiten haben wir uns dafür entschieden,
wackere Männer, dass wir weder den Römern noch
irgend jemand anderem dienen außer Gott; denn dieser
allein ist der wahre und gerechte Herr über die Menschen.
Jetzt aber ist die Stunde gekommen, die uns befiehlt, diese
Gesinnung in Taten zu erweisen. Angesichts dieser Stunde
sollten wir uns selbst nicht Schande bereiten. Vormals wollten
wir uns nicht einmal unter eine Knechtschaft beugen, die
ohne jede Lebensgefahr war. Nun aber sollten wir freiwillig
eine Knechtschaft hinnehmen, die von unerbittlicher Rache
sein wird, sobald wir lebend in die Gewalt der Römer
geraten? Denn so wie wir als erste von allen uns gegen sie
aufgelehnt haben, so kämpfen wir auch als letzte gegen
Sie." (Bell 7,8,6 §§ 323-324).
Der Befreiungskampf erscheint hier mit der Menschenwürde
als solcher verbunden. Denn, obwohl hier ausdrücklich
auf Gott, den Gott Israels, Bezug genommen wird, handelt es
sich doch um einen Kampf im Namen der Menschenwürde und
nicht (nur) eines nationalen Anspruches. Freiheit kommt dem
Menschen an sich zu! Diese Sicht überrascht nicht, wenn
man bedenkt, dass Josephus seinen nichtjüdischen Lesern
in Rom die Vorgänge plausibel machen wollte. Freilich
verbindet schon die Einleitung zu den Zehn Geboten die Befreiung
aus Ägypten mit der Beobachtung des Dekalogs vom Sinai.
So gesehen steht jeder Freiheitskampf Israels unter dem Anspruch
des göttlichen Gebotes. Umgekehrt wird und wurde auch
innerjüdisch immer wieder gefragt, ob ein konkreter Befreiungskrieg
in Analogie zur ersten Befreiung aus Ägypten gesehen
werden kann. Bekanntlich gibt es ein nicht unerhebliches Problem
die Aktivitäten des Staates Israel aus jüdisch-religiöser
Sicht zu deuten. Die Formel unter der das möglich erscheint,
ist die von der "atchalta di geula" (=aramäisch:
Anfang der Erlösung). Das Geschehen ist eher Zeichen
denn Erfüllung der Hoffnung auf das Kommende.
Ähnlich wie bei Philo das Land zu einer spirituellen
Größe wird, wandelt sich in seinen Überlegungen
auch die Freiheit von einem politischen zu einem geistigen
Gut. Dieser Linie ist das rabbinische Judentum bekanntlich
nicht gefolgt, sondern hat gleichsam einen Mittelweg beschritten.
Die Freiheit des Volkes und die Sammlung aus der Diaspora
werden durchaus real und nicht nur spirituell gedacht, jedoch
in die messianische Zeit verlegt, deren Ankunft man geduldig
(eine spirituelle Haltung!) erwarten müsse, da sie kein
bloßes Menschenwerk ist. Eine offene Erwartung eben,
wie sie in den angeführten Texten der Pessach-Haggada
zum Ausdruck kommt. Man kann sich leicht vorstellen, dass
solch religiöse Geduld im Gefolge der Aufklärung
nicht jedermanns Sache war. Die Lage der Juden Osteuropas
war etwa für Herzl ein wichtiges Motiv, seine Bemühungen
im Sinne des Zionismus auch unter schwierigen Bedingungen
fortzusetzen und zu betonen, dass zwar er Zeit zu Verhandlungen
hätte, die Lage der Juden vor allem in Osteuropa jedoch
ein rasches Ergebnis fordere. Es ist völlig klar, dass
die religiös motivierten, wenig konkreten Befreiungshoffnungen
das säkular-pragmatische, politische Handeln im Rahmen
des Zionismus vorbereitet hatten und auch nie aufhörten,
Motivationen und Zielvorstellungen zu liefern. Es ist aber
ebenso klar, dass die zionistische Bewegung im Kern eine nichtreligiöse
ist, die jedoch die religiösen Kräfte so weit als
möglich nützen und integrieren möchte. In diesem
Doppelaspekt liegt auch eine grundlegende, nicht immer deutlich
genug gesehene Schwierigkeit für das christlich-jüdische
Gespräch: Kann und darf man konkrete, politische und
militärische Aktionen theologisieren? Die Problematik
ist noch dadurch verschärft, dass das Christentum sich
theologisch im Prinzip auf der Linie der jüdischen Sicht
des Philo von Alexandrien bewegt, die sich mit einer allzu
realen Verwirklichung von Heilserwartungen nur schwer verträgt.
Wenn hier vom Drang nach Freiheit die Rede ist, so darf ein
Aspekt der Freiheit nicht übersehen werden, der sowohl
im traditionellen religiösen Denken, wie auch im Bewusstsein
von Freiheitsbewegungen an den Rand gedrängt wird: Die
Freiheit der anderen! So verständlich es auch sein mag,
dass dieser Aspekt in der Hitze des Gefechtes verdrängt
wird, so fatal ist jedoch langfristig gesehen diese Verdrängung.
Es geht nicht darum, dass der Mensch und auch jede Gemeinschaft
notwendigerweise ihr eigenes Wohl im Auge hat. Denkerische
Bemühungen der politischen Philosophie haben jedoch deutlich
gemacht, dass Freiheit ein relationaler Begriff ist. D.h.,
dass jeder realistische Freiheitsbegriff immer auch schon
die Freiheit des anderen und eben seinen Drang nach Freiheit
mitdenken muss. Das ist umso schwieriger, je weiter die Zielvorstellungen
der jeweiligen Kontrahenten auseinander liegen. Ein Verstoß
gegen dieses Prinzip hat historisch betrachtet aber vielfach
nicht zum Ziel geführt und jedenfalls folgenden Generationen,
in deren Namen vielfach der "Befreiungskampf" angeblich
geführt wurde, jene Lasten aufgebürdet, die dann
den Gegenstand der Vergangenheitsbewältigung der Nachfahren
darstellen.
Im Grunde gilt als Maß für jedwede Realisierung
eines Freiheitsanspruches uneingeschränkt was Hillel
als den Kern der Tora bezeichnete: "Was dir nicht angenehm
ist, das tu auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze
Torah. Der Rest ist Kommentar" (bSab 31 a).
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