"Nur der Feige, der verreckt
Eine Suche nach den Spuren der jüdischen Zwangsarbeiter
aus Ungarn in Droß, Tel Aviv und Massuot Yizhaq.
Robert STREIBEL
Der Krieg ist in Droß, in der Nähe
von Krems noch nicht zu Ende. So steht es geschrieben am verfallenen
Haus außerhalb der Ortschaft: "Nur der Feige, der verreckt.
Durchhalteparolen aus den letzten Kriegswochen, mehr als vierzig Jahre
alt und noch immer leserlich. Ein Fall für den Denkmalschutz.
Wie einer unsichtbaren Spur folgend tauchte auch mitten im Ort eine
ähnliche Inschrift auf: "Schützt die deutsche Ostmark.
(In der Zwischenzeit ist das Haus jedoch neu verputzt worden) Bei
manchen sind die Wunden nur von einer dünnen Haut überwachsen,
der Geschäftigkeit des Alltags zum Beispiel.
Am Beginn der Suche nach den offenen und versteckten Wunden des
Krieges in Droß stand der Zufall. Martin Kalchhauser, der
von Beginn an bei der Initiative für ein Denkmal auf dem jüdischen
Friedhof in Krems beteiligt war, berichtete knapp vor der Geburt
seines dritten Kindes über die möglichen Vornamen: Sollte
es ein Bub werden, würde er Severin heißen, nach einem
Verwandten seiner Frau aus Droß, der zu Kriegsende Juden das
Leben gerettet haben soll, aber wenige Jahre nach der Befreiung
verstorben sei. Um den "Namenspaten entsprechend würdigen
zu können, habe seine Frau damit begonnen, die Geschichte zu
rekonstruieren und dabei sei sie auf die Adresse eines gestoßen,
der die Familie in Droß 1983 besucht habe. Dieser Besuch sei
ein Versprechen gewesen, erinnerte sich ihre Großmutter, das
Moshe Wohlberg seinem verstorbenen Vater gegeben habe, in den Ort
zu fahren, in dem die Familie verschleppt worden war und den Nachkommen
zu danken. Soweit die Familiengeschichte. Im Juni 1995 bekam die
Familie Kalchhauser eine Antwort aus Massuoth Yizchak in Israel.
"In Betracht ihrer Bitte Ihnen mein Wissen über Ihren
Urgroßvater mitzuteilen, werde ich Sie wahrscheinlich etwas
enttäuschen, da ich zur Zeit ein elfjähriges Kind war,
und welchen Kontakt hatte schon ein solches mit dem Chef, oder welche
Gelegenheit mit ihm auch nur zu sprechen. Außerdem war der
Chef immer sehr beschäftigt. Schon frühmorgens zog er
in den Wald zur Arbeit zum Bäumefällen mit einer Gruppe
jüdischer Arbeiter und kam erst spät des abends zurück.
Nur Sonntags sah ich ihn sich etwas um seine Haustiere kümmern;
einige Kaninchen und etwas Geflügel, die draußen umherliefen.
Jedenfalls habe ich nie eine Klage über eventuelles grausames,
oder auch nur unnötig schroffes Benehmen seinen Arbeitern gegenüber
von meinen Schwestern oder meinem Vater gehört.(...) 1
Moshe Wohlberg in Massaout Yizhaq 1997
Wer war dieser Severin Worel, woher kamen die jüdischen Zwangsarbeiter
aus Droß 1944/45? Was war zu Kriegsende geschehen? Einer, der
die Geschichten über Severin Worel selbst noch gehört hatte,
war Franz Stradinger. Demnach war Severin Worel ein Findelkind, der
sich in Lengenfeld als Knecht verdingt hatte, bevor er nach Droß
gekommen sei, wo er im Jägerhaus, das im Besitz der jüdischen
Familie Guttmann gestanden war, dort hätte er mit einer Frau
Maier gewohnt und dort seien auch zu Kriegsende die Juden aus Ungarn
untergebracht gewesen. Für diese jüdischen Zwangsarbeiter
sei er "Partieführer gewesen.
"Als alle Wege rund um Droß
schon hergerichtet waren, hat er immer noch Arbeit gefunden für
seine Leute. Manchmal ist ihm einer mit der Beiwagenmaschine nachgefahren
und hat kontrolliert. Wenn er die Staubwolke gesehen hat, da hat er
mit den Juden zu schimpfen begonnen: ,Ihr Bagage! Ihr Juden, ihr werdet
noch schaun, wenns net arbeitets. und so. Der Nazi hat
ihm dann auf die Schulter geklopft und ihm gratuliert.
Der SS-Führer hat zum Severin gesagt: ,Nächste Woche brauchts
nimmermehr arbeiten, weil da müß ma die Gräber
ausheben und zwar drüben beim Grauwald. Und der Severin hat zum
Hauptmann gesagt: ,Das ist doch unmöglich. Der Führer braucht
jede Hand. Und er hat sich so aufgeregt: ,Des kann ma no allaweil,
Herr Hauptmann! Da is no immer Zeit. Die knall ma um, aber zerst
brauch ma die Arbeitskraft. Und so hat ers so weit bracht,
daß er sie überzeugt hat. Der Severin Worel hat die Erschießung
so lange hinausgezögert, bis es für die SS zu spät
war.2
Zwischen den auch heute noch entzifferbaren Schriftzügen in Droß
hat sich das Leben von Moshe Wohlberg als Elfjähriger bewegt.
Moshe Wohlberg ist einer der Tausenden Juden aus Ungarn, die in den
letzten Kriegsmonaten in die "deutsche Ostmark verschleppt
wurden und hier Zwangsarbeit verrichten mußten. Moshe Wohlberg,
sein Vater, seine Cousinen und rund mehrere Dutzend Menschen haben
in Droß überlebt. War es Zufall oder haben sie ihr Leben
dem Einsatz des Landarbeiters Severin Worel zu verdanken. Im Juni
1997 konnte eine Spursensuche in Droß, Massuot Yizhaq und Tel
Aviv begonnen werden. Auf viele, heute gestellte Frage, gibt es heute
keine eindeutige Antwort mehr, ist ein Ergebnis dieser Bemühungen.
Moshe Wohlberg wohnt im Kibbuz Massuot Yizhaq im Süden von Israel.
Sein Weg dorthin führte wie bei so vielen Juden über mehrere
Stationen, eine davon war Straßhof und eine Droß in der
Nähe von Krems. Begonnen hat alles in der kleinen ungarischen
Stadt Hajduhadhaz wenige Kilometer von Debrecen entfernt. Der Vater
Shmuel betrieb einen Holzhandel und hatte es zu Wohlstand gebracht.
Als die Deutschen 1944 in Ungarn die Macht übernehmen, wird die
Familie Wohlberg gemeinsam mit 400 Juden der Stadt in ein Ghetto gesperrt,
bis eines Tages um 5 Uhr Früh der Befehl zum Abtransport kommt.
Zehn Minuten bleiben Zeit, um die wenigen persönlichen Sachen
zusammenzusuchen. Die Fahrt im überfüllten Waggon, kein
Platz um zu sitzen, eine Kanne Wasser. Die Vernichtung der ungarischen
Juden hat begonnen. Moshe Wohlberg, 11 Jahre, ist sich der Tragik
der Situation nicht bewußt. "Für uns Kinder war es
abenteuerlich. Im Ghetto hatten wir keine Schule, wir haben immer
gespielt. Es war bloß ein Mosaiksteinchen im Bild der
Ausgrenzung und Verfolgung, die auch in seiner Heimatstadt zum Alltag
gehörten. Auch der Transport im Waggon war bloß ein Puzzelsteinchen,
all diese Erlebnisse zu einem kompletten Bild mit den Umrissen von
Auschwitz zu vervollständigen, wäre dem Jungen damals nicht
eingefallen. "Wenn es die Eltern gewußt haben, so haben
sie es uns nicht gesagt. Die Fahrt der mit ungarischen Juden
angestopften Waggons endete an der ungarisch-russischen Grenze. "Ich
habe ein Blackout, an manche Dinge kann ich mich nicht mehr erinnern,
ich weiß nicht, ob wir auf dieser mehrtägigen Fahrt überhaupt
etwas gegessen haben. Der Zug wird zurückgeschickt an die
Grenze zur Ostmark, bei Straßhof werden alle ausgeladen und
kommen in ein Lager. "Es war ein kleiner Vorgeschmack auf ein
KZ mit den ukrainischen Wachmannschaften, den Rufen: "Raus ihr
Judenschweine und den Hunden. Die Drecksarbeit im Lager verrichten
die Ukrainer. Eines Tages kommt es zu einer Selektion. Alle müssen
sich nackt ausziehen, für die frommen Juden eine Katastrophe,
für Moshe Wohlberg bis heute. Damals sieht er seinen Vater, seine
Tante und seine Cousinen das erste Mal nackt. "Alle standen in
einer langen Reihe.
Moshe Wohlberg kurz nach dem Krieg
Die Selektion nahm eine Frau in Uniform
vor, sie stempelte den Menschen entweder ein x oder ein y mit einem
Gummistempel auf die Hand. Meine Tante und ihre Töchter bekamen
ein x gestempelt, mein Vater, ich und meine Geschwister ein y. Es
war surrealistisch und keiner von uns wußte was das bedeutet.
Meine Tante kam dann zu meinem Vater und fragte, was sie machen solle,
mein Vater sagte ihnen: ,Wisch es ab und stelle dich zu uns.
So hat meine Tante überlebt. Ich habe nie einen wiedergetroffen,
der ein x gestempelt bekam.
Moshe Wohlberg erzählt in Hebräisch nur manchmal antwortet
er auf meine Fragen in Englisch, einige Brocken Deutsch hat er noch
im Gedächtnis. Seine Frau sitzt neben ihm, sie soll wissen,
was er erzählt, sie kennt seine Geschichte nur in Bruchstücken.
Beide haben jetzt fünf Enkelkinder, erst dem jüngsten
Sohn, der jetzt 31 Jahre alt ist, habe er einiges erzählt.
Manchmal werde er gefragt, ob er vor Schülern über den
Holocaust reden könne. Wenn er dies mache, dann komme er einfach
aus dem Gleichgewicht, dann brauche er einige Tage, um sich im Alltag
wieder zurechtzufinden.
Gemeinsam mit rund 40 anderen erreicht die Familie Wohlberg auf
einem Lastwagen Droß. Die Zahl unterscheidet sich von den
Angaben, die seine Cousine Magda Ellenbogen, die in Tel Aviv wohnt,
in Erinnerung hat: Sie spricht von 38 Leidensgenossen und vom Tod
der Mutter von Moshe. Bis heute weiß der Sohn nicht, daß
die schwerkranke Mutter noch nicht tot war, als sie in die Waggons
verladen wurden. "Keinmal kann ich nicht vergessen. Sie ist
geblieben allein. Man hat sie gemacht tot. Doch nicht nur
das. Die Mutter wurde, nachdem die ungarische Heimatstadt "judenfrei
war, hinter einem Pferd durch den Ort geschliffen, mit einer Tafel:
"Der letzte Jude.
In Droß schlafen alle anfangs auf Stroh, erst später
werden mehrstöckige Pritschen gebaut. Jede Familie bekommt
eine Ecke. Ob sie ein Eßgeschirr gehabt haben, weiß
Moshe heute nicht mehr, an einen Tisch kann er sich nicht erinnern.
Die 38 ungarischen Juden müssen täglich in den Wald ausrücken,
bei jedem Wetter, notdürftig bekleidet. Bei Sonnenaufgang kommt
der für sie zuständig Vorarbeiter Severin Worel und holt
sie ab, bei Sonnenuntergang kommen sie wieder "heim.
Worel ist in der Erinnerung von Moshe Wohlberg ein kleiner untersetzter
Mann, ein Bauer, der zeitlebens nur Knecht gewesen und nun zu einer
Art Autorität geworden ist. Er hat mit uns geschrien und geschimpft
"Ihr seid zum Arbeiten da und nicht zum Faulenzen. Bellende
Hunde beißen nicht. Ich glaube er hat so geredet, um Eindruck
zu schinden vor seinen Vorgesetzten, wenn die weg waren, war er
anders. Für seine Cousine Magda war Worel korrekt, mehr
auch nicht, an eine Hilfe oder Unterstützung durch ihn kann
sie sich nicht erinnern. "Er hat immer gesagt: Schnell, schnell,
aber er hat vergessen, daß das doch Kinder waren, die gearbeitet
haben.
Die Gruppe der 38 Juden von Droß bekommt Essen nur für
20 Personen. Nur wer arbeitet, soll auch essen. Ohne die Aufbesserung
der kärglichen Ration kann die Gruppe nicht überleben,
und das ist eine Aufgabe des elfjährigen Moshe. Im Ort geht
er nicht betteln. Ein Mädchen, etwas älter als er, ist
ebenfalls immer unterwegs: "Wir haben uns verabredet: Du gehst
dort hin, ich dort. Wir haben die Dörfer aufgeteilt, damit
wir nicht ins Streiten kommen.
Die Unterweisung für das Betteln erhält Moshe von seinem
Vater, der fließend Deutsch spricht und ihm einen wichtigen
Unterschied beibringt, den zwischen Häftling und Flüchtling.
"Wir waren Flüchtlinge, Schwaben, vor den Russen auf der
Flucht. Bei mir war das auch vom Aussehen her möglich, da ich
blonde Haare hatte und durchaus nicht jüdisch aussah."
Um Essen zu bekommen, sind ausgedehnte Wanderung notwendig, 10-12
Kilometer am Tag, bei jedem Wetter. Die Lebensmittel, ein paar Kartoffeln,
Brot, liefert Moshe ab.
Magda Ellenbogen, damals 20 Jahre, kann sich an keine Zuwendung
durch die Dorfbewohner erinnern. Einmal bekommt sie Schokolade von
zwei amerikanischen oder englischen Kriegsgefangenen, die ebenfalls
in Droß arbeiten. "Zwei haben gehört ,Jud,
haben sie ein bißchen geholfen, mit Essen und Kleidung.
Kurze Zeit später werden die beiden aus dem "Ort weggenommen.
Als das deutsche Militär nach Droß kommt, weiß
Wohlberg noch nichts von den Dimensionen des Völkermordes.
"Die Soldaten haben das Lager genau gegenüber von unserem
Haus aufgeschlagen. Das war das Divisionskommando, mit Küche
und allem. Sie hatten diese Zeichen am Kragen, es war SS. Ab diesem
Zeitpunkt mußten wir nicht mehr in den Wald gehen, die Mädchen
haben im Lager gearbeitet, geputzt, was halt so anfällt. Ob
die Militärs gewußt haben, wer wir sind, das weiß
ich nicht. Das Wort Jude habe ich nicht gehört. Nur einmal
hat ein Offizier seinem Schäferhund den Befehl gegeben und
der ist mich angesprungen und hat mich umgehauen. Der Mann hat gelacht.
Ich weiß nicht, was das war, ob das Spaß war, wie ich
das deuten soll. Das ist die einzige Szene, die mir in Erinnerung
ist.
In Droß erzählen einige ältere Bewohner, daß
die ungarischen Juden erschossen hätten werden sollen. Der
Landarbeiter Severin Worel hat die Gruppe in den Wald geschickt
und ihnen so das Leben gerettet. Magda Ellenbogen kann das so nicht
bestätigen, Moshe Wohlberg antwortet ausnahmsweise in Englisch:
"I think, he cant be a bad man, because he had many chances
to make us troubles. He didnt. Warum die Gruppe überlebt
hat und welche Rolle der einfache Landarbeiter Severin Worel gespielt
hat, wird wohl nie richtig geklärt werden können.
Nach rund drei Stunden ist Moshe Wohlberg zumindest in seiner Geschichte
mit einem Bein bereits wieder in Israel. "Das ist eine andere
Geschichte: Neun Monate in Zypern, die Briten haben mich geschnappt,
und ich hatte nichts, eine kurze Hose und ein Hemd. So bin ich auch
nach Israel gekommen, pro Monat haben nur 500 Personen ein Zertifikat
bekommen, so habe ich eben gewartet.
Das Gespräch ist zu Ende. Wir werden zum Essen eingeladen.
Käse, Gemüse, Fisch steht auf dem Tisch. Moshe Wohlberg
ißt nicht viel, seine Frau fragt ihn, ob es ihm nicht schmeckt.
Diese Geschichten bringen ihn aus der Balance, er braucht einige
Zeit, um wieder Fuß zu fassen. Kurz bevor wir gehen, die Sonne
ist hinter den Häusern des Kibbutz Massuot Yizhaq längst
verschwunden, ißt Moshe Wohlberg eine Yogurt.
1 Moshe Wohlberg. Brief an Gudrun Kalchhauser
vom 28.6.1995.
2 Franz Stradinger. Interview mit Robert Streibel am 5.7.1995.
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