Porträt Anatoli
L. Kaplan
(Zeichnung, Tusche)
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Seine Bilder geben Einsichten
in den jüdischen Alltag, in Sitten und Bräuche,
in das Leben kleiner Leute, Bauern, Handwerker,
Händler und sogenannter Luftmenschen, wie sie
einst in der Heimat des Künstlers gelebt haben.
Es ist eine vernichtete und verschwundene Welt,
die heute nur noch in den Erzählungen von Schalom
Alejchem, Isaak Bashevis Singer und anderer Schriftsteller
weiterlebt,
jene Welt, die nun in zahlreichen Bildern, schmerzlich
verklärt und märchenhaft farbig, wieder
entsteht. Doch was wir sehen, bleibt ein Stück
Vergangenheit, denn jene Menschen und ihre traditionsbewußte
Kultur gibt es nicht mehr. |
Die Bilder aber, die uns nun erreichen und auch überdauern
werden, entstanden aus dem Gedächtnis, der Erinnerung.
Sie sind, wie auch die Gedankenwelt des Künstlers,
der sie schuf, in der Erinnerung beheimatet, und es
sind Zeugnisse aus Lebenssphären jiddisch sprechender
Menschen, wie oft kompositorisch eingefügte Wörter
und kleine Texte zeigen. Ihre naiv wirkende Aufrichtigkeit
aber, die schlichte formale Ausdrucksweise, das von
der Volkstradition geprägte Wirklichkeitsempfinden
sie führen uns zu den Lebensformen, zum
Wesen ostjüdischer Menschen in den kleinen und
fernen weißrussischen Städtchen und Schtetls,
mit denen der Künstler immer geistig verbunden
blieb, auch als er längst seine engere Heimat verlassen
hatte.
Dieser Künstler, dessen 100. Geburtstag sich am
28. Dezember 2002 jährt, hieß Tanchum ben
Lewi-Jizchok Kaplun; bekannt wurde er später unter
dem veränderten, russifizierten Namen Anatoli Lwowitsch
Kaplan. In seinem Geburtsort, dem Schtetl Rogatschow
am Dnjepr 1902 mit 9104 Einwohnern, davon 6020
Juden besaß der Vater, Lejb Jizchok Kaplun,
einen Fleischerladen und musste von den bescheidenen
Einnahmen seine sieben Kinder Tanchum ("Tane"
oder "Tolja") und die Geschwister Aaron, Rebecca,
Gita, Sonja, Jankel, Dasja ernähren und
großziehen. Aaron zog nach Charkow und wurde dort
Buchhalter, Tanchum, als zweitältester Sohn, sollte
das "Gwelb" des Vaters übernehmen, doch
er hatte andere Interessen, und so wurde Jankel dann
Fleischer, und die Eltern entschieden, dass Tanchum,
die Mittelschule besuchen soll, um weiter zu lernen.
In einem Gespräch sagte einst die jüngste
Schwester Dasja, befragt über den Bruder Tolja:
"Tolja ins Geschäft? Wie kann man nur so etwas
denken? Er ist doch so anders... immer freundlich und
gut Metzger oder Fleischverkäufer: im Leben
nie!" Und Jahre danach erinnerte sie sich: "Er
saß oft am Fluß. Hatte die Natur gerne,
er lief durch die Wälder, spielte mit den Haustieren,
zeichnete schon mit neun oder zehn Jahren, zuerst nach
Büchern und Ansichtskarten, später auch nach
dem Leben." Seine ersten "Honorare" verdiente
er dann als Maler von Firmenschildern, die er zusammen
mit Salomon Galkin (1897-1966), ebenfalls in Rogatschow,
dem späteren Lyriker, Romancier und Dramaturgen,
gestaltete, wobei Kaplan die schwierigen hebräischen
Schriftzeichen und die Werbebilder Stiefel, Bejgels,
Fische, Geräte, Kleider u.a. künstlerisch
darstellte.
Nach dem Besuch einer Schule zur Ausbildung für
Neulehrer auch Zeichenlehrer in Charkow,
die er 1919 mit einem Zeugnis als "Lehrkraft"
abschloß, wurde er 1921 von der "Abteilung
für Volksbildung" zum Studium nach Petrograd
(dem späteren Leningrad und heutigen St. Petersburg)
geschickt, wo er an der berühmten Akademie der
Künste, 1921-1927, Malerei und Grafik studierte;
seine unmittelbaren Lehrer waren Arkadij A. Rylow, Nikolaj
Radlow und Kusma P. Petrow-Wodkin. Um sein Studium zu
finanzieren, arbeitete er zwischendurch als Zeichner
und Schriftenmaler am Petrograder Konservatorium, wo
er auch Bühnenbilder entwarf und Plakate malte.
In der Stadt an der Newa, die inzwischen Leningrad hieß,
machte sich Kaplan bald als Grafiker einen Namen, als
1932 drei broschierte Bücher mit Illustrationen
von ihm erschienen, darunter der Schtetl-Roman "Straße
der Schuster" von Doiwber Lewin, zu dem der Künstler
eine Folge von Bildern aus eigener Erinnerung schuf.
Es ist "Lokales und Jüdisches, der Wirklichkeit
Entnommenes und persönlich Erlebtes", schreibt
Rudolf Mayer. "Und er nutzt die Gelegenheit, seinerseits
zu erzählen, eine eigene, in sich verbundene Bilderwelt
zu entwerfen. So bieten diese in Federzeichnung niedergeschriebenen
kleinen Illustrationen den ersten Anlauf und einen vorauseilenden
Entwurf zu jenen späteren großen Serien,
mit denen sein Name sich einer erstaunten Öffentlichkeit
offeriert."
Im Sommer 1932 besuchte ihn eines Tages ein junges hübsches
Mädchen, das er flüchtig aus Rogatschow kannte:
Ewgenija ("Ginja") Israilewna Liebmann; Ginja
brachte ihm ein Paket mit Esswaren von seiner Mutter.
Nach einem Jahr heirateten die beiden, und 1935 wurde
ihr einziges Kind Ljuba geboren.
In den darauffolgenden dreißig Jahren, 1937-1967,
erschienen außer den bekannten expressiven und
sensiblen lithographischen Folgen "Aus dem
Leben des jüdischen Volkes" (1937), "Leningrad
in den Tagen der Blockade" (1943-1945), "Das
Zicklein" (1952-1962), "Jiddische Volkslieder
(1959-1960) auch zahlreiche Buchillustrationen,
so zu Werken von Boris (Doiwber) Lewin ("Uliza
Saposhnikow"), Anton Tschechow ("Mensch im
Futteral"), Schalom Alejchem ("Der behexte
Schneider", "Tewje, der Milchiger", 149
Blätter), Mendele Mojcher Sforim ("Fischke,
der Lahme"), Johannes Bobrowski ("Levins Mühle")
u.a., die Anatoli Kaplan auch außerhalb der Sowjetunion
berühmt machten. 1965 erhielt er die erste große
Auszeichnung: die Silbermedaille der 4. Internationalen
Buchkunst-Ausstellung in Leipzig.
Nach seinen beiden ersten Eigenausstellungen außerhalb
des sowjetischen Machtbereichs 1959 in New York
und 1960 in Paris folgten, 1962-1978, weitere
Werkretrospektiven in Museen und Galerien, in London,
Mailand, Los Angeles, Dresden, Weimar, Wien, Toronto,
Berlin, Rom, Prag, Liberec (Reichenberg), Basel, Schwerin,
Leipzig, Braunschweig, Magdeburg, Riesa, Karl-Marx-Stadt
(Chemnitz), Jerusalem, Tel Aviv, Haifa, München
usw. Damit hatte seine Kunst die ideologisch eingeengte
Szene im Land des "Sozialistischen Realismus"
endgültig verlassen.
Das Werk Anatoli Kaplans umfasst heute 1300 lithographische
Druckplatten, die er in den Jahren nach 1937 bearbeitet
hat. Von den radierten Tiefdruckplatten entstanden,
nach Schätzungen der Kunsthistoriker, mehr als
60.000 Abzüge, die der Künstler selbst angefertigt
hat; etwa 30.000 solcher, in der Handpresse realisierter
Abdrucke wurden als Originale mit Bleistift beschriftet
und signiert. Zu den Lithographien und Radierungen kommen
außerdem noch Handzeichnungen, Keramiken und Gemälde,
vornehmlich in Pastell hinzu.
Heute sind Anatoli Kaplans Bilder von den ostjüdischen
Menschen und ihren Geschichten weltbekannt, und sie
werden oft mit jenen von Marc Chagall und Chaim Soutine
verglichen, die ebenfalls aus weißrussischen Kleinstädten
kamen, der eine aus Witebsk, der andere aus Smilowitschi.
Doch ihre Wege führten nicht nach Leningrad sondern
weit weg nach Paris, wo die unmittelbare Beziehung zu
den Landschaften ihrer Herkunft abbrach. Durch Anatoli
Kaplan aber er starb am 3. Juli 1980 wurde
"Chagalls alleiniges Recht auf dieser Welt, als
Künstler vom Judentum in Rußland zu berichten,
überwunden", schrieb Wladimir A. Wlassow,
"Kaplan ist für mich die einzige Wahrheit,
es sind wundervolle Bilder, und auf solche Weise hat
noch keiner diese Welt gezeichnet."
Anatoli L. Kaplan: "Auf
dem Heimweg" (Radierung)
Anatoli L. Kaplan: "Mann
mit Ziege"
(Radierung)
Anatoli L. Kaplan: "Liebesglück"
(Radierung)
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