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VERGANGENHEIT UND ZUKUNFT:
DIE WIENER SCHIFFSCHUL

Gespräch mit Benno Kern

DAVID: Was können Sie uns bitte über die Gründungsgeschichte der Wiener Schiffschul erzählen?

B. Kern: Die Anfänge sind schon auf das Revolutionsjahr 1848 zurückzuverfolgen, damals bildeten nach Wien einwandernde Juden aus Galizien, Ungarn, Mähren und der Slowakei den Grundstock zu einer orthodoxen Gemeinde. Zunächst hatten sie ihre Bethäuser in der Schönlatern – und Sterngasse im ersten Bezirk, wenig später gründeten sie in der Ankergasse (heute Hollandstraße) die so genannte "Ankerschul". Bald darauf wurde dieser Ankerschul ein Beth Hamidrasch angegliedert, ab 1853 konnte Salomon Spitzer als deren geistiger Führer gewonnen werden.

Hebräische Inschrift über dem Eingang: "Das Haus sei erhaben" 5625 (Jahr 1864)

DAVID: Wann wurde die sogenannte "Schiffschul" errichtet?

B. Kern: Nachdem die Räumlichkeiten in der Ankerschul zu eng wurden, gelang es einem Proponententeam mit Yitschak Leb Freistadt an der Spitze die behördliche Zustimmung zum Bau einer den damaligen Erfordernissen entsprechenden Synagoge im Hof des Grundstückes Große Schiffgasse 8 -10 zu erlangen. (Von dieser Straßenbenennung leitet sich auch der Name "Schiffschul" ab). Der Grundstein dürfte schon 1858 gelegt worden sein, doch erst nach Überwindung allerlei Schwierigkeiten und mancherlei Behinderungen auch seitens der damals noch jungen Israelitischen Kultusgemeinde konnte die neu errichtete Schiffschul am 16.9.1864 in Anwesenheit verschiedener Behörden feierlich eröffnet werden. Es sollte eine "mächtige Festung gegen Reform und Assimilation in Wien und ein Vorposten für ‚Jiddischkeit’ sein", vermerkte ein zeitgenössischer Bericht. 1892 wurde das Bethaus mit dem dazugehörigen Grundstück durch das Schiffschulkomittee käuflich erworben, im selben Jahr anstelle des kleinen Häuschens vor dem Bethaus – nach Plänen des Baurates Wilhelm Stiassny - ein dreistöckiges Haus errichtet, in dessen erster Etage dann auch das Beth Hamidrasch untergebracht war. 1925 mußten dringend notwendige Renovierungsarbeiten im Tempelinneren durchgeführt werden, zu mehr reichte damals das Geld nicht. In der Nacht des Novemberpogroms (1938) wurde die Schiffschul völlig niedergebrannt, der Vordertrakt blieb erhalten.

Bimah

DAVID: Die Schiffschul war mehr als ein Bethaus; Sie übernahm zusätzlich viele Funktionen einer "Kehilla"! Können sie uns einiges über ihre Infrastruktur erzählen?

B. Kern: 1897 übernahm die als Dachverband gedachte Organisation "Adass Jisroel" die zahlreichen Funktionen der Schiffschul. Ihr Wirkungsbereich entsprach einer de facto autonom verwalteten Kehilla. Sie unterhielt bzw. unterstützte zahlreiche Institutionen, von denen einige namentlich genannt seien:

Zunächst die schon im Jahre 1854 gegründete Wiener "Talmud-Tora-Schule", welche in der Zwischenkriegszeit von Rabbiner Dr. Joel Pollak geleitet wurde. Weiters das "Beth Hamidrasch Tora Ez Chaim", das 1865 von Salomon Spitzer gegründet wurde und im Haus Große Schiffgasse 8 untergebracht war. Der Schulverein "Jesod Hatora" der Adass Israel befand sich in der Nestroygasse 11 und unterhielt neben Kindergarten und Grundschule auch Cheder und Jeschiwah. Assoziiert waren auch eine Mazzotbäckerei, Schwarz- und Weiß- sowie Zuckerbäckereien, 10 Fleischverschleißstellen und 2 Selchereien. Unterhalten wurden die "Volks- und Mittelstandsküche Einheit" sowie der "Krankenverein" mit eigener Küche im AKH zur Versorgung jüdischer Patienten in allen Spitälern; ferner der Verein "Tomech Ewjomim" zur Versorgung Armer und Kranker an Schabbabot und Feiertagen und vieles andere...

Tabernakel Vorhang aus blauem Plüsch mit echt goldener Fadenhandarbeit. 1925 von Ignatz Back zum Gedenken an seine verstorbene Gattin gespendet.

DAVID: Dürfen wir sie auch über die geistigen Führer der Wiener Schiffschul befragen?

B. Kern: Die erste bestimmende Persönlichkeit war der 1826 in Alt-Ofen geborene Rabbiner Salomon Spitzer. Er kam 1853 nach Wien und erhielt zunächst die Stelle eines Bethausrabbiners, 1864 übersiedelte er mit der "Ankerschul" in die Große Schiffgasse. Er spielte in der Auseinandersetzung zwischen Reform und Orthodoxie eine entscheidende Rolle. Den von der IKG angebotenen Posten eines Oberrabbiners lehnte er ab, da diese Position an die Bedingung geknüpft gewesen wäre, von seinen orthodoxen Ansichten abzurücken. Er verwahrte sich gegen radikale Veränderungen der Gebets- und Gottesdienstordnung und legte 1872 alle Funktionen in der IKG zurück. Fortan widmete er sich ausschließlich den Belangen der Schiffschul. Die Bitte der gesetzestreuen Israeliten um die Erlaubnis der Gründung einer eigenen Kultusgemeinde in Wien wurde 1874 seitens des zuständigen Ministeriums abschlägig beschieden. Salomon Spitzer starb 1893; ihm folgte Oberrabbiner Jesaja Fürst. Dieser war nicht nur Leiter der Schiffschul, sondern profilierte sich auch als prominenter Führer der Weltorganisation "Agudas Israel". Auch in seiner Schaffensperiode versuchten orthodoxe Juden eine eigene Kultusgemeinde zu gründen, doch scheiterte dies erneut am Widerstand der Behörden. Neben Oberrabbiner Fürst wirkten Rabbiner Josef Baumgarten und sein Sohn Rabbiner Schlojme Baumgarten.

Rabbiner Josef Israel Segelbaum aus Makov (1949 - 1952: Rabbiner in der Schiffschul)

DAVID: Gehen wir einen großen Schritt weiter: Was geschah in den Jahren 1938 bis 1945?

B. Kern: Die Schiffschul selbst war niedergebrannt, die Gebäude Große Schiffgasse 8 und 10 wurden 1938 vom Stillhaltekommissar zur Arisierung freigegeben; zwei Personen haben sich darum beworben, die dann auch den damals geforderten Preis bei die nationalsozialistischen Behörden erlegten. Im ersten Stock des Hauses Große Schiffgasse 8 war eine Uniformerzeugung untergebracht, die übrigen Räumlichkeiten wurden zu Wohnzwecken genutzt. Die Liegenschaft Gr. Schiffgasse 10 erlitt 1945 einen schweren Bombentreffer und wurde später abgerissen. Die Baulichkeiten in der Malzgasse 16 wurden arg verwüstet, dienten aber nach Beschlagnahme des Rothschildspitals ab 1942 als Ausweichspital für in Wien lebende Patienten jüdischer Abstammung, da diesen die Aufnahme in anderen Spitälern untersagt war.

Aufruf zur Tora, im neuen Schiffschul-Zentrum, Ende 1946 v.l.n.r.: Benno Kern, Josef Rubin-Bittmann, Rabbiner Alter Simche, Pejssach Engländer, "Schamesch" Bezalel Meth

DAVID: Wie war die Situation unmittelbar nach Kriegsende?

B. Kern: Als die wenigen von den alliierten Streitkräften befreiten KZ-Überlebenden einzeln nach Wien zurückkehrten, scharte sich um Rabbiner Alter Simche und seinem treu ergebenen Helfer Heinrich Seliger eine Gruppe von religiösen Juden. Durch deren unermüdliche und aufopfernde Tätigkeit bildete diese bald einen wichtigen Mittelpunkt für die entwurzelten und demoralisierten Menschen. Große Hilfe in der Stunde Null kam auch von den Angestellten des jüdischen Spitals, von denen ich Frau Helene Klaar, Frau Dr. Schustermann, Herrn Leiser Hausmann und Herrn Direktor Rudolf Weinstock namentlich anführen möchte. Rabbiner Alter Simche, der mit Wissen von Dr. Emil Tuchmann in einem Keller des Hauses der Malzgasse 7 den Krieg überdauert hatte, organisierte in einem eigens eingerichteten Versammlungsraum Gottesdienste und Zusammenkünfte. Auch das in unmittelbarer Nähe befindliche ehemalige Bürolokal der Agudas Israel konnte notdürftig adaptiert werden, um dort täglich koschere Mahlzeiten auszuteilen. Selbige bestanden anfangs nur aus Erbsen und Kartoffeln, und wenn es gut ging auch aus Bohnen. Als dann Wien in 4 Zonen geteilt war, erhielten wir - über Vermittlung von Captain Chaplain Oscar M. Lipschütz - von den Amerikanern auch koschere Fisch- und Fleischkonserven zugeteilt. Dann bekamen wir auch Öl und Margarine, am mühsamsten war die Beschaffung von koscherer Milch, die wir nur mit Bezugsscheinen eigens von einem Bauern in Oberlaa holen mußten. Nach wiederholtem Ersuchen errichtete auch die IKG eine koschere Küche in der Haidgasse, das unserer rituellen Aufsicht unterstand. An dieser Stelle sei Frau Citrom für ihre jahrelange, hingebungsvolle Mitarbeit gedankt.

Rabbiner Elieser Weiser (1. v.r.) und Präsident Naphtali Rotkopf (2. v.r.) im Schiffschul-Zentrum (1989). Rotkopf war bis zu seinem Tode i. J. 2000 Präsident der Adass Jisroel und über 50 Jahre lang in aufopfernder Weise für die Organisation tätig.

DAVID: Gab es auch andere Organisationen, die sich um die Belange der orthoxen Juden in Wien kümmerten?

B. Kern: Natürlich! Parallel zu unseren Bemühungen entfaltete auch die Agudas Israel unter der souveränen Führung von Oberrabbiner Chaim Grünfeld s. A. eine ehrenhafte und uneigennützige Tätigkeit und hat sich – wie die "Machsike Hadass" – zu einer wichtigen Stütze der Wiener Orthodoxie entwickelt. Auf die Aktivitäten eines Benjamin Schreiber, von dem sich Chaim Grünfeld nach schweren Auseinandersetzungen eindeutig distanziert hat, soll hier nicht näher eingegangen werden. Agudas Israel und Adass Jisroel haben stets eng zusammengarbeitet, sind aber rechtlich getrennte Körperschaften, auch mit Machsike Hadass und Khal Chassidim bestehen Kooperationen, wie noch später ausgeführt werden soll.

Brith Mila im Jahre 1946 v.l.n.r.: Dr. Stern, Prof. Benzion Lazar, Jakob Necker, Josef Rubin-Bittmann, Heinrich Seliger, Rabbiner Alter Simche, Herr Ettinger, IKG-Präsident David Brill, Joez David Glück, Ernst Schiff

DAVID: Wie hat sich die Situation für Adass Jisoel weiter entwickelt?

B. Kern: In den ersten Wochen und Monaten war es oft schwer, ein Minjan zusammenzustellen, da die Wohnungsnot sehr groß war und die Leute oft sehr weit voneinander wohnten. Durch die Tätigkeit der Brichah, welche heimatlos gewordene Juden nach Palästina bringen sollte, wurde Österreich, insbesondere Wien zu einem wichtigen Stützpunkt für Displaced Persons. Damit wuchs auch der Bedarf an orthodoxen Einrichtungen. Es bestand nun ein dringendes Interesse, die Einrichtungen der Schiff-schul und der Agudas Israel zu reaktivieren. Der Ariseur wehrte sich zunächst, doch erklärte er sich dann bereit, die Räumlichkeiten, wo sich die Uniformfabrik befunden hatte, "in Untermiete" zu vergeben. Da die die Gefahr bestand, dass der Ariseur das Objekt an Drittpersonen verkaufen könnte, versuchte man eine einstweilige Verfügung zu erwirken, doch zeigten sich die Beamten (Kastner u.a.) des von Krauland geführten BMs für Vermögenssicherung und Wirtschaftliche Planung äußerst unkooperativ. Schließlich gelang es, den sowjetischen Oberkommandierenden General Lebedenko dafür zu interessieren. Dieser erklärte freimütig, man solle ihn verstehen, er habe für religiöse Belange überhaupt kein Verständnis und er glaube, dass auch wir einmal einsehen werden, dass nur der marxistische Standpunkt Zukunft habe. Aber er werde uns helfen, dass unrechtmäßig enteignetes Vermögen dem Besitzer zurückerstattet werde. Er ließ sofort eine Ordonanz kommen und diktierte einen Brief – auch gleich in deutscher Übersetzung – und übergab uns das unterzeichnete Dokument.

Iranische Juden beim Lag Baomer-Fest (2001)

DAVID: Wie war die weitere rechtliche Vorgangsweise?

B. Kern: Zunächst galt es, die 1938 aufgelösten Vereinigungen Adass Jisroel und Agudas Israel zu reaktivieren. Dabei stießen wir bei der Beamtenschaft auf nicht unerhebliche Schwierigkeiten, allen voran der Innenminister Oskar Helmer; einige Beamte versuchten uns sogar zu schikanieren (z.B. mussten die neu zusammengesetzten Proponentenkomittees eine Erklärung unterzeichnen, dass sie keiner Naziorganisation angehört hatten!),einige zeigten aber Entgegenkommen und auch Engagement. Die meisten Schwierigkeiten erwuchsen uns seitens der IKG, die sich als alleinige Rechtsnachfolgerin aller Organisationen betrachtete, sodass letztendlich unser Ansuchen in der ersten Instanz abschlägig beschieden wurde. Gegen diesen Bescheid wurde Einspruch erhoben und erst durch massive Intervention der Agudas Israel World Organization, insbesondere ihres Präsidenten Morenu Reb Jacob Rosenheim, ferner durch Harry A.Goodman der Agudas Israel in London sowie zahlreiche prominente Mitglieder der ehemaligen Schiffschul (Ch. Richter, J. Steinfeld, Rabbiner Schlojme Baumgarten, die Familien Breuer, Wosner, Stroh, Herzka, Stern u.a.) wurden beide Organisationen mit ihren angeschlossenen Vereinen und Einrichtungen wieder anerkannt. Nur die Rückstellung der Liegenschaft Nestroygasse 11 wurde auf Grund einer mehr als einseitigen Interpretation des Arisierungsaktes seitens des Bundesministers Krauland abgelehnt, sodass das Gebäude an den Ariseur verloren ging. Präsident des ersten nach dem Krieg konstituierten Vorstands der Adass Jisroel war Rabbiner Alter Simche, ihm zur Seite standen Heinrich Seliger, Ephraim Seiden und als Jüngster Benno Kern.

Oberrabbiner der Khal Chassidiem Avraham J. Schwartz anläßlich des Lag Baomer-Festes 2001

DAVID: Wie gestaltete sich das Verhältnis zur IKG?

B. Kern: Das Verhältnis zur IKG blieb gespannt, wenn auch der Kultuspräsident David Brill mehrmals Einladungen Folge leistete. Trotz seiner kommunistisch orientierten Sicht hatte er ein gewisses Verständnis für orthodoxe Belange. Mit seinen Mitarbeitern Akim Levit und Michael Kohn bestand keinerlei Diskussionsbasis. Der ehemalige Religionsschulinspektor Isidor Öhler trat sogar mit der Forderung auf, dass jegliche religiöse Tätigkeit "ihm unmittelbar zu unterstehen habe". Nur die beiden Kultusräte Josef Rubin-Bittmann und Benzion Lazar waren uns bei der Einrichtung des Beth Hamidrasch sehr behilflich.

Nationalratspräsident Dr. Heinrich Neisser besucht am 20. 03. 95 das Schiffschul-Zentrum

DAVID: Was geschah mit den Liegenschaften?

B. Kern: Das Gebäude in der Nestroygasse 11 ging – wie oben schon angeführt – verloren, das Haus Gr. Schiffgasse 10 war bombenbeschädigt und wurde abgerissen, seither findet sich dort ein leerer Platz. Nach Reaktivierung der Adass Jisroel blieben wir im Haus Gr. Schiffgasse 8 vorerst "Mieter beim Ariseur". Er wollte uns durch diese Geste dazu bringen, auf eine komplette Rückstellung zu verzichten. Wir einigten uns schließlich, dass wir den Rückstellungsprozeß gerichtlich durchführen, ihn aber auf gewisse Zeit im Hause wohnen lassen. 1949 war es dann soweit. Nach 1955 wurde die Liegenschaft in der Malzgasse 16 an unsere Organisation zurückerstellt. Unmittelbar danach wurde mit "Machsike Hadass" eine Vereinbarung getroffen, wonach wir ihr das ganze Schulgebäude kostenlos, d.h. unentgeltlich für eine separat zu gründende Talmud-Tora-Schule mit Öffentlichkeitsrecht für alle Kinder orthodoxer Eltern zur Verfügung stellen. Diese Vereinbarung besteht bis heute lückenlos, seit mehr als 47 Jahren. ( Ein damaliges Angebot, diese Liegenschaft an einen Chemiekonzern für 1.5 Millionen Schilling jährlich zu vermieten kam aus ideologischen Gründen für uns nicht in Frage.)

Gastvortrag für "Junge Leute" der Khal Chassidim

DAVID: Kehren wir nochmals zurück zum Jahr 1945, damals wurde im ersten Stock des Hauses Gr. Schiffgasse 8, wo sich das frühere Beth Hamidrasch befunden hatte, wieder eine Betstube eröffnet.

B. Kern: Im Jahre 1945 begannen wir mit vereinten Kräften, die zu einer Fabrik umgeänderten Räumlichkeiten des ehemaligen Beth Hamidrasch "Tora Ez Chaim" wiederherzustellen. Für alle Materialien, Schrauben, Nägel oder Holz, Stromkabel, Farben, Zement oder Gips benötigte man Bezugsscheine und wieder Bezugsscheine. Als die ganze Einrichtung einigermaßen hergestellt war, fehlten noch 100 Sitzplätze für die Frauenschul. Schließlich borgten wir – gegen Bezahlung - 100 goldene Sessel vom Wr. Rathaus. Für die erste Heizperiode hatten wir keine Kohlenzuteilung, sodass wir uns mit Holz und anderem brennbaren Material behelfen mußten. Eine große Hilfe waren uns Frau Esther Bondi (deren seliger Mann Oskar 20 Jahre bei uns Vorstandsmitglied und dessen Bruder Kmr. Siegmund Bondi vor dem Krieg führendes Schiffschul-Vorstandsmitglied waren), die Herren Simon Moskowicz s.A., Pinkas Müller, Isser Mermelstein und Siegfried Lazar. In weiterer Folge wurde ein Talmud-Tora-Unterricht eingerichtet, wir hatten durchschnittlich 130 Kinder, meist 100 Buben, 30 Mädchen. Die Buben lernten im Bethaus, für die Mädchen mieteten wir im Hotel Salztor (vormals Hotel-Restaurant Barschak) den großen Speisesaal. Dabei hat uns der Joint, insbesonders die Herrn Harold Trobe, Fred Ziegellaub und Egon Fink sehr viel geholfen. Für jedes Kind erhielten wir einen Zuschuß, für das Lehrpersonal jeweils die Hälfte des Gehalts. Damals wurde der Grundstock für eine jüdisch-orthodoxe Bevölkerung in Wien gelegt!

Gedenkveranstaltung am 18. 10. 98, am Mikrofon Benno Kern (re. vorne), li. vorne Vizebürgerm. Dr. Bernhard Görg

DAVID: Wer waren die Rabbiner, die seit 1945 an der Schiffschul gewirkt hatten?

B. Kern: Erster Rabbiner war Alter Simche. Gleich nach der Befreiung organisierte er in einer eigens eingerichteten kleinen Betstube (Malzgasse 7) ein Minjan mit regelmäßigen Gottesdiensten und übersiedelte dann in das Haus Große Schiffgasse 8, um schrittweise die Räumlichkeiten im ersten Stockwerk den Erfordernissen eines Bethauses und einer Talmud-Tora-Schule anzupassen. Er war eine integrierende Persönlichkeit für rückkehrende Juden orthodoxer Ausrichtung und organisierte gemeinsam mit Heinrich Seliger und den Angestellten des jüdischen Spitals koschere Mahlzeiten bzw. Lebensmittelzuteilungen. Die Lubawitscher Rabbiner Schnier Salmen aus Taschkent und Schamchat aus Sarmakand haben 1947/48 die Mikwot im Rothschildspital und in der Floßgasse 14 rituell "gekaschert"; Rabbiner Mojsche Schönfeld aus Budapest betreute 1946 bis 1949 das Kaschruth des reliösen Blockes im Rothschildspital. Der Tenker Rabbiner Schlojme Salmen Friedmann stand Rabbiner Alter Simche in den Jahren 1948 bis 1949 zur Seite und betreute ebenfalls die Mikwe in der Floßgasse. 1949 verstarb Rabbiner Alter Simche im Alter von 93 Jahren, ihm folgte bis 1952 Rabbiner Josef Israel Segelbaum aus Makov. Auch er beaufsichtigte die Mikwot im Rothschildspital und in der Floßgasse 14 sowie die private Fleischbank der Fa. Resetritsch (Große Pfarrg. 6). Sein Sohn führte als sein würdiger Nachfolger die Schiffschul in New York. 1952 bis 1956 amtierte bis zu seiner Weiterreise nach den USA Rabbiner Jechiel Mechel Neumann aus Serencz; auch ihm oblag die Aufsicht über die Mikwot und die Koscher-Fleischbank der Fa Resetritsch. 1960 bis 1970 war der Wolozer Rabbiner Jehoschua Lerner an unserem Bethaus tätig.

Die längste Zeit, von 1956 bis zu seinem Tod, amtierte der Neupester Rabbiner Eliezer Weiser in der Schiffschul. Er betreute viele Jahre auch das Bethaus in der Glasergasse und zählte zu den beliebtesten Persönlichkeiten, er hatte das Wissen eines Gelehrten und die Liebenswürdigkeit eines Chassid.

Seit 22 Jahren betreuen wir in der Schiffschul iranische Flüchtlinge (mit bis zu 120 Personen bei voller Auslastung). Reb Michoel Pressburger, Enkel des bekannten großen Bonyhader Row Reb Aharon Pressburger HJD, sorgt sich in liebevoller und verantwortungsbewusster Weise um deren leibliches und geistiges Wohl, wofür wir ihm Respekt und Anerkennung erweisen.

Seit 2 Jahren ist im Erdgeschoß unseres Hauses Gr. Schiffg. 8 eine dynamische Gruppe "junger Leute" untergebracht. Sie steht unter der der Führung des allseits geschätzten Oberrabbiners der Khal Chassidim – Khal Israel Avraham J. Schwartz. Diese Gruppe hat unser Haus mit neuem Leben erfüllt und versorgt als "der" zukunftsreiche Verein Wien und Österreich mit Kaschruth und anderen für das Leben eines rituellen Juden wichtigen Belangen.

Im Souterrain wurde vor kurzem eine Mikwe eröffnet, wichtige Adaptierungsarbeiten im Erdgeschoß konnten bis dato noch nicht abgeschlossen werden, da es auf Initiative eines gewissen auch sonst in seinen Aktivitäten höchst umstrittenen Mojsche Arye Friedmann zu einer Flut von Anzeigen bei verschiedenen Behörden gekommen ist.

Besuch der Staatssekretärin Mag. Brigitte Ederer am 30.08.1994

DAVID: Welche Zukunftspläne verfolgt Adass Jisroel mit den noch immer brach liegenden Liegenschaften Gr. Schiffgasse 8-10?

B. Kern: Exakt an dieser Stelle stand bis 1938 die Synagoge der Adass Jisroel; das Bethaus, erbaut im Jahr 1864, entsprach in der Raumgestaltung den Vorstellungen eines streng orthodoxen Bethauses. Der Grundgedanke bei der Neuerrichtung des "Schiffschul"-Zentrums an dieser Stelle besteht darin, einerseits den an diesem Ort zerstörten und für die Wiener Orthodoxie bedeutsamen Tempel für die in Wien lebenden Mitglieder von Adass Jisroel wiederherzustellen, und anderseits gleichzeitig für die orthodoxen Juden Wiens ein religiöses, kulturelles, gesellschaftliches und soziales Zentrum, einschließlich der gesamten heute erforderlichen Infrastruktur zu schaffen. Um dies zu realisieren, benötigt man neben einem Bethaus ein angegliedertes Gemeindezentrum mit allen dafür erforderlichen Einrichtungen und Institutionen, z.B.: für Familien- und Berufsberatung, Fortbildungskurse, Sprachseminare, Kulturveranstaltungen, Teeabende, Fitnessaktivitäten, Kindergärten, Kinderspielplätze. All dies soll im Rahmen des neu zu erbauenden Zentrums realisiert werden, wobei die Synagoge exakt an der Stelle und unter Verwendung ähnlicher Gestaltungselemente und -prinzipien der ehem. "Schiffschul" errichtet werden soll. Die Gebäude und Räumlichkeiten des Gemeindezentrums sollen sich gleichsam um die Synagoge und einem vorgelagerten Arkadenhof gruppieren. Weiters ist straßenseitig eine Wohnbebauung für kinderreiche Familien samt Tiefgarage vorgesehen.

Dr. Kurt Scholz besucht am 4. 10. 2001 die Schiffschul

DAVID: Welche Finanzierungsmöglichkeiten stehen Ihnen zur Verfügung?

B. Kern: Förderungen seitens des Bundes, des Landes und der Gemeinde wurden zwar in Aussicht gestellt aber – trotz mehrfacher Projektvorlagen bzw. Abänderungsvorschläge - noch nicht in ausreichendem Maße zugesagt. Besonderes Interesse bewiesen durch ihren Besuch Frau Staatssekretärin Mag. Brigitte Ederer, Herr Nationalratspräsident Dr. Heinrich Neisser und Herr Dr. Kurt Scholz. Das bevorstehende Projekt hängt auch von der Zuerkennung von Restitutionsgeldern ab – wenn schon nicht in Höhe des historischen Wertes, so doch in jenem Maße, dass endlich, 65 Jahre nach der Zerstörung, mit dem Bau des neuen Schiffschul-Projektes begonnen werden kann!

Alle interessierten Leser sind herzlich eingeladen, nach vorheriger Anmeldung (Tel.: (01) 21 45 206), unser Zentrum in der großen Schiffgasse zu besuchen.

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