VERGANGENHEIT UND ZUKUNFT:
DIE WIENER SCHIFFSCHUL
Gespräch mit Benno Kern
DAVID: Was können Sie uns bitte über
die Gründungsgeschichte der Wiener Schiffschul erzählen?
B. Kern: Die Anfänge sind schon auf
das Revolutionsjahr 1848 zurückzuverfolgen, damals
bildeten nach Wien einwandernde Juden aus Galizien,
Ungarn, Mähren und der Slowakei den Grundstock zu einer
orthodoxen Gemeinde. Zunächst hatten sie ihre Bethäuser
in der Schönlatern und Sterngasse im ersten Bezirk,
wenig später gründeten sie in der Ankergasse (heute
Hollandstraße) die so genannte "Ankerschul". Bald darauf
wurde dieser Ankerschul ein Beth Hamidrasch
angegliedert, ab 1853 konnte Salomon Spitzer als deren
geistiger Führer gewonnen werden.
Hebräische Inschrift
über dem Eingang: "Das Haus sei erhaben" 5625 (Jahr
1864)
DAVID: Wann wurde die sogenannte "Schiffschul"
errichtet?
B. Kern: Nachdem die Räumlichkeiten
in der Ankerschul zu eng wurden, gelang es einem
Proponententeam mit Yitschak Leb Freistadt an der Spitze
die behördliche Zustimmung zum Bau einer den damaligen
Erfordernissen entsprechenden Synagoge im Hof des
Grundstückes Große Schiffgasse 8 -10 zu erlangen. (Von
dieser Straßenbenennung leitet sich auch der Name "Schiffschul"
ab). Der Grundstein dürfte schon 1858 gelegt worden
sein, doch erst nach Überwindung allerlei
Schwierigkeiten und mancherlei Behinderungen auch
seitens der damals noch jungen Israelitischen
Kultusgemeinde konnte die neu errichtete
Schiffschul am
16.9.1864 in Anwesenheit verschiedener Behörden
feierlich eröffnet werden. Es sollte eine "mächtige
Festung gegen Reform und Assimilation in Wien und ein
Vorposten für Jiddischkeit sein", vermerkte ein
zeitgenössischer Bericht. 1892 wurde das Bethaus mit dem
dazugehörigen Grundstück durch das Schiffschulkomittee
käuflich erworben, im selben Jahr anstelle des kleinen
Häuschens vor dem Bethaus nach Plänen des Baurates
Wilhelm Stiassny - ein dreistöckiges Haus errichtet, in
dessen erster Etage dann auch das Beth Hamidrasch
untergebracht war. 1925 mußten dringend notwendige
Renovierungsarbeiten im Tempelinneren durchgeführt
werden, zu mehr reichte damals das Geld nicht. In der
Nacht des Novemberpogroms (1938) wurde die Schiffschul
völlig niedergebrannt, der Vordertrakt blieb erhalten.
Bimah
DAVID: Die Schiffschul war mehr als
ein Bethaus; Sie übernahm zusätzlich viele Funktionen
einer "Kehilla"! Können sie uns einiges über ihre
Infrastruktur erzählen?
B. Kern: 1897 übernahm die als
Dachverband gedachte Organisation "Adass Jisroel" die
zahlreichen Funktionen der Schiffschul. Ihr
Wirkungsbereich entsprach einer de facto autonom
verwalteten Kehilla. Sie unterhielt bzw. unterstützte
zahlreiche Institutionen, von denen einige namentlich
genannt seien:
Zunächst die schon im Jahre 1854
gegründete Wiener "Talmud-Tora-Schule", welche in der
Zwischenkriegszeit von Rabbiner Dr. Joel Pollak geleitet
wurde. Weiters das "Beth Hamidrasch Tora Ez Chaim", das
1865 von Salomon Spitzer gegründet wurde und im Haus
Große Schiffgasse 8 untergebracht war. Der Schulverein "Jesod
Hatora" der Adass Israel befand sich in der Nestroygasse
11 und unterhielt neben Kindergarten und Grundschule
auch Cheder und Jeschiwah. Assoziiert waren auch eine
Mazzotbäckerei, Schwarz- und Weiß- sowie
Zuckerbäckereien, 10 Fleischverschleißstellen und 2
Selchereien. Unterhalten wurden die "Volks- und
Mittelstandsküche Einheit" sowie der "Krankenverein" mit
eigener Küche im AKH zur Versorgung jüdischer Patienten
in allen Spitälern; ferner der Verein "Tomech Ewjomim"
zur Versorgung Armer und Kranker an Schabbabot und
Feiertagen und vieles andere...
Tabernakel Vorhang aus blauem Plüsch
mit echt goldener Fadenhandarbeit. 1925 von Ignatz Back
zum Gedenken an seine verstorbene Gattin gespendet.
DAVID: Dürfen wir sie auch über die
geistigen Führer der Wiener Schiffschul befragen?
B. Kern: Die erste bestimmende
Persönlichkeit war der 1826 in Alt-Ofen geborene
Rabbiner Salomon Spitzer. Er kam 1853 nach Wien und
erhielt zunächst die Stelle eines Bethausrabbiners, 1864
übersiedelte er mit der "Ankerschul" in die Große
Schiffgasse. Er spielte in der Auseinandersetzung
zwischen Reform und Orthodoxie eine entscheidende Rolle.
Den von der IKG angebotenen Posten eines Oberrabbiners
lehnte er ab, da diese Position an die Bedingung
geknüpft gewesen wäre, von seinen orthodoxen Ansichten
abzurücken. Er verwahrte sich gegen radikale
Veränderungen der Gebets- und Gottesdienstordnung und
legte 1872 alle Funktionen in der IKG zurück. Fortan
widmete er sich ausschließlich den Belangen der
Schiffschul. Die Bitte der gesetzestreuen Israeliten
um die Erlaubnis der Gründung einer eigenen
Kultusgemeinde in Wien wurde 1874 seitens des
zuständigen Ministeriums abschlägig beschieden. Salomon
Spitzer starb 1893; ihm folgte Oberrabbiner Jesaja
Fürst. Dieser war nicht nur Leiter der Schiffschul,
sondern profilierte sich auch als prominenter Führer der
Weltorganisation "Agudas Israel". Auch in seiner
Schaffensperiode versuchten orthodoxe Juden eine eigene
Kultusgemeinde zu gründen, doch scheiterte dies erneut
am Widerstand der Behörden. Neben Oberrabbiner Fürst
wirkten Rabbiner Josef Baumgarten und sein Sohn Rabbiner
Schlojme Baumgarten.
Rabbiner Josef Israel Segelbaum aus
Makov (1949 - 1952: Rabbiner in der Schiffschul)
DAVID: Gehen wir einen großen Schritt
weiter: Was geschah in den Jahren 1938 bis 1945?
B. Kern: Die Schiffschul selbst war
niedergebrannt, die Gebäude Große Schiffgasse 8 und 10
wurden 1938 vom Stillhaltekommissar zur Arisierung
freigegeben; zwei Personen haben sich darum beworben,
die dann auch den damals geforderten Preis bei die
nationalsozialistischen Behörden erlegten. Im ersten
Stock des Hauses Große Schiffgasse 8 war eine
Uniformerzeugung untergebracht, die übrigen
Räumlichkeiten wurden zu Wohnzwecken genutzt. Die
Liegenschaft Gr. Schiffgasse 10 erlitt 1945 einen
schweren Bombentreffer und wurde später abgerissen. Die
Baulichkeiten in der Malzgasse 16 wurden arg verwüstet,
dienten aber nach Beschlagnahme des Rothschildspitals ab
1942 als Ausweichspital für in Wien lebende Patienten
jüdischer Abstammung, da diesen die Aufnahme in anderen
Spitälern untersagt war.
Aufruf zur Tora, im neuen
Schiffschul-Zentrum, Ende 1946 v.l.n.r.: Benno Kern,
Josef Rubin-Bittmann, Rabbiner Alter Simche, Pejssach
Engländer, "Schamesch" Bezalel Meth
DAVID: Wie war die Situation
unmittelbar nach Kriegsende?
B. Kern: Als die wenigen von den
alliierten Streitkräften befreiten KZ-Überlebenden
einzeln nach Wien zurückkehrten, scharte sich um
Rabbiner Alter Simche und seinem treu ergebenen Helfer
Heinrich Seliger eine Gruppe von religiösen Juden. Durch
deren unermüdliche und aufopfernde Tätigkeit bildete
diese bald einen wichtigen Mittelpunkt für die
entwurzelten und demoralisierten Menschen. Große Hilfe
in der Stunde Null kam auch von den Angestellten des
jüdischen Spitals, von denen ich Frau Helene Klaar, Frau
Dr. Schustermann, Herrn Leiser Hausmann und Herrn
Direktor Rudolf Weinstock namentlich anführen möchte.
Rabbiner Alter Simche, der mit Wissen von Dr. Emil
Tuchmann in einem Keller des Hauses der Malzgasse 7 den
Krieg überdauert hatte, organisierte in einem eigens
eingerichteten Versammlungsraum Gottesdienste und
Zusammenkünfte. Auch das in unmittelbarer Nähe
befindliche ehemalige Bürolokal der Agudas Israel konnte
notdürftig adaptiert werden, um dort täglich koschere
Mahlzeiten auszuteilen. Selbige bestanden anfangs nur
aus Erbsen und Kartoffeln, und wenn es gut ging auch aus
Bohnen. Als dann Wien in 4 Zonen geteilt war, erhielten
wir - über Vermittlung von Captain Chaplain Oscar M.
Lipschütz - von den Amerikanern auch koschere Fisch- und
Fleischkonserven zugeteilt. Dann bekamen wir auch Öl und
Margarine, am mühsamsten war die Beschaffung von
koscherer Milch, die wir nur mit Bezugsscheinen eigens
von einem Bauern in Oberlaa holen mußten. Nach
wiederholtem Ersuchen errichtete auch die IKG eine
koschere Küche in der Haidgasse, das unserer rituellen
Aufsicht unterstand. An dieser Stelle sei Frau Citrom
für ihre jahrelange, hingebungsvolle Mitarbeit gedankt.
Rabbiner Elieser Weiser (1. v.r.) und
Präsident Naphtali Rotkopf (2. v.r.) im
Schiffschul-Zentrum (1989). Rotkopf war bis zu seinem
Tode i. J. 2000 Präsident der Adass Jisroel und über 50
Jahre lang in aufopfernder Weise für die Organisation
tätig.
DAVID: Gab es auch andere
Organisationen, die sich um die Belange der orthoxen
Juden in Wien kümmerten?
B. Kern: Natürlich! Parallel zu
unseren Bemühungen entfaltete auch die Agudas Israel
unter der souveränen Führung von Oberrabbiner Chaim
Grünfeld s. A. eine ehrenhafte und uneigennützige
Tätigkeit und hat sich wie die "Machsike Hadass" zu
einer wichtigen Stütze der Wiener Orthodoxie entwickelt.
Auf die Aktivitäten eines Benjamin Schreiber, von dem
sich Chaim Grünfeld nach schweren Auseinandersetzungen
eindeutig distanziert hat, soll hier nicht näher
eingegangen werden. Agudas Israel und Adass Jisroel
haben stets eng zusammengarbeitet, sind aber rechtlich
getrennte Körperschaften, auch mit Machsike Hadass und
Khal Chassidim bestehen Kooperationen, wie noch später
ausgeführt werden soll.
Brith Mila im Jahre 1946 v.l.n.r.: Dr.
Stern, Prof. Benzion Lazar, Jakob Necker, Josef
Rubin-Bittmann, Heinrich Seliger, Rabbiner Alter Simche,
Herr Ettinger, IKG-Präsident David Brill, Joez David
Glück, Ernst Schiff
DAVID: Wie hat sich die Situation für
Adass Jisoel weiter entwickelt?
B. Kern: In den ersten Wochen und
Monaten war es oft schwer, ein Minjan zusammenzustellen,
da die Wohnungsnot sehr groß war und die Leute oft sehr
weit voneinander wohnten. Durch die Tätigkeit der
Brichah, welche heimatlos gewordene Juden nach Palästina
bringen sollte, wurde Österreich, insbesondere Wien zu
einem wichtigen Stützpunkt für Displaced Persons.
Damit wuchs auch der Bedarf an orthodoxen Einrichtungen.
Es bestand nun ein dringendes Interesse, die
Einrichtungen der Schiff-schul und der Agudas Israel zu
reaktivieren. Der Ariseur wehrte sich zunächst, doch
erklärte er sich dann bereit, die Räumlichkeiten, wo
sich die Uniformfabrik befunden hatte, "in Untermiete"
zu vergeben. Da die die Gefahr bestand, dass der Ariseur
das Objekt an Drittpersonen verkaufen könnte, versuchte
man eine einstweilige Verfügung zu erwirken, doch
zeigten sich die Beamten (Kastner u.a.) des von Krauland
geführten BMs für Vermögenssicherung und Wirtschaftliche
Planung äußerst unkooperativ. Schließlich gelang es, den
sowjetischen Oberkommandierenden General Lebedenko dafür
zu interessieren. Dieser erklärte freimütig, man solle
ihn verstehen, er habe für religiöse Belange überhaupt
kein Verständnis und er glaube, dass auch wir einmal
einsehen werden, dass nur der marxistische Standpunkt
Zukunft habe. Aber er werde uns helfen, dass
unrechtmäßig enteignetes Vermögen dem Besitzer
zurückerstattet werde. Er ließ sofort eine Ordonanz
kommen und diktierte einen Brief auch gleich in
deutscher Übersetzung und übergab uns das
unterzeichnete Dokument.
Iranische Juden beim Lag Baomer-Fest
(2001)
DAVID: Wie war die weitere rechtliche
Vorgangsweise?
B. Kern: Zunächst galt es, die 1938
aufgelösten Vereinigungen Adass Jisroel und Agudas
Israel zu reaktivieren. Dabei stießen wir bei der
Beamtenschaft auf nicht unerhebliche Schwierigkeiten,
allen voran der Innenminister Oskar Helmer; einige
Beamte versuchten uns sogar zu schikanieren (z.B.
mussten die neu zusammengesetzten Proponentenkomittees
eine Erklärung unterzeichnen, dass sie keiner
Naziorganisation angehört hatten!),einige zeigten aber
Entgegenkommen und auch Engagement. Die meisten
Schwierigkeiten erwuchsen uns seitens der IKG, die sich
als alleinige Rechtsnachfolgerin aller Organisationen
betrachtete, sodass letztendlich unser Ansuchen in der
ersten Instanz abschlägig beschieden wurde. Gegen diesen
Bescheid wurde Einspruch erhoben und erst durch massive
Intervention der Agudas Israel World Organization,
insbesondere ihres Präsidenten Morenu Reb Jacob
Rosenheim, ferner durch Harry A.Goodman der Agudas
Israel in London sowie zahlreiche prominente Mitglieder
der ehemaligen Schiffschul (Ch. Richter, J. Steinfeld,
Rabbiner Schlojme Baumgarten, die Familien Breuer,
Wosner, Stroh, Herzka, Stern u.a.) wurden beide
Organisationen mit ihren angeschlossenen Vereinen und
Einrichtungen wieder anerkannt. Nur die Rückstellung der
Liegenschaft Nestroygasse 11 wurde auf Grund einer mehr
als einseitigen Interpretation des Arisierungsaktes
seitens des Bundesministers Krauland abgelehnt, sodass
das Gebäude an den Ariseur verloren ging. Präsident des
ersten nach dem Krieg konstituierten Vorstands der Adass
Jisroel war Rabbiner Alter Simche, ihm zur Seite standen
Heinrich Seliger, Ephraim Seiden und als Jüngster Benno
Kern.
Oberrabbiner der Khal Chassidiem
Avraham J. Schwartz anläßlich des Lag Baomer-Festes 2001
DAVID: Wie gestaltete sich das
Verhältnis zur IKG?
B. Kern: Das Verhältnis zur IKG blieb
gespannt, wenn auch der Kultuspräsident David Brill
mehrmals Einladungen Folge leistete. Trotz seiner
kommunistisch orientierten Sicht hatte er ein gewisses
Verständnis für orthodoxe Belange. Mit seinen
Mitarbeitern Akim Levit und Michael Kohn bestand
keinerlei Diskussionsbasis. Der ehemalige
Religionsschulinspektor Isidor Öhler trat sogar mit der
Forderung auf, dass jegliche religiöse Tätigkeit "ihm
unmittelbar zu unterstehen habe". Nur die beiden
Kultusräte Josef Rubin-Bittmann und Benzion Lazar waren
uns bei der Einrichtung des Beth Hamidrasch sehr
behilflich.
Nationalratspräsident Dr. Heinrich
Neisser besucht am 20. 03. 95 das Schiffschul-Zentrum
DAVID: Was geschah mit den
Liegenschaften?
B. Kern: Das Gebäude in der
Nestroygasse 11 ging wie oben schon angeführt
verloren, das Haus Gr. Schiffgasse 10 war
bombenbeschädigt und wurde abgerissen, seither findet
sich dort ein leerer Platz. Nach Reaktivierung der Adass
Jisroel blieben wir im Haus Gr. Schiffgasse 8 vorerst
"Mieter beim Ariseur". Er wollte uns durch diese Geste
dazu bringen, auf eine komplette Rückstellung zu
verzichten. Wir einigten uns schließlich, dass wir den
Rückstellungsprozeß gerichtlich durchführen, ihn aber
auf gewisse Zeit im Hause wohnen lassen. 1949 war es
dann soweit. Nach 1955 wurde die Liegenschaft in der
Malzgasse 16 an unsere Organisation zurückerstellt.
Unmittelbar danach wurde mit "Machsike Hadass" eine
Vereinbarung getroffen, wonach wir ihr das ganze
Schulgebäude kostenlos, d.h. unentgeltlich für eine
separat zu gründende Talmud-Tora-Schule mit
Öffentlichkeitsrecht für alle Kinder orthodoxer Eltern
zur Verfügung stellen. Diese Vereinbarung besteht bis
heute lückenlos, seit mehr als 47 Jahren. ( Ein
damaliges Angebot, diese Liegenschaft an einen
Chemiekonzern für 1.5 Millionen Schilling jährlich zu
vermieten kam aus ideologischen Gründen für uns nicht in
Frage.)
Gastvortrag für "Junge Leute" der Khal
Chassidim
DAVID: Kehren wir nochmals zurück zum
Jahr 1945, damals wurde im ersten Stock des Hauses Gr.
Schiffgasse 8, wo sich das frühere Beth Hamidrasch
befunden hatte, wieder eine Betstube eröffnet.
B. Kern: Im Jahre 1945 begannen wir
mit vereinten Kräften, die zu einer Fabrik umgeänderten
Räumlichkeiten des ehemaligen Beth Hamidrasch "Tora Ez
Chaim" wiederherzustellen. Für alle Materialien,
Schrauben, Nägel oder Holz, Stromkabel, Farben, Zement
oder Gips benötigte man Bezugsscheine und wieder
Bezugsscheine. Als die ganze Einrichtung einigermaßen
hergestellt war, fehlten noch 100 Sitzplätze für die
Frauenschul. Schließlich borgten wir gegen Bezahlung -
100 goldene Sessel vom Wr. Rathaus. Für die erste
Heizperiode hatten wir keine Kohlenzuteilung, sodass wir
uns mit Holz und anderem brennbaren Material behelfen
mußten. Eine große Hilfe waren uns Frau Esther Bondi
(deren seliger Mann Oskar 20 Jahre bei uns
Vorstandsmitglied und dessen Bruder Kmr. Siegmund Bondi
vor dem Krieg führendes Schiffschul-Vorstandsmitglied
waren), die Herren Simon Moskowicz s.A., Pinkas Müller,
Isser Mermelstein und Siegfried Lazar. In weiterer Folge
wurde ein Talmud-Tora-Unterricht eingerichtet, wir
hatten durchschnittlich 130 Kinder, meist 100 Buben, 30
Mädchen. Die Buben lernten im Bethaus, für die Mädchen
mieteten wir im Hotel Salztor (vormals Hotel-Restaurant
Barschak) den großen Speisesaal. Dabei hat uns der
Joint, insbesonders die Herrn Harold Trobe, Fred
Ziegellaub und Egon Fink sehr viel geholfen. Für jedes
Kind erhielten wir einen Zuschuß, für das Lehrpersonal
jeweils die Hälfte des Gehalts. Damals wurde der
Grundstock für eine jüdisch-orthodoxe Bevölkerung in
Wien gelegt!
Gedenkveranstaltung am 18. 10. 98, am
Mikrofon Benno Kern (re. vorne), li. vorne Vizebürgerm.
Dr. Bernhard Görg
DAVID: Wer waren die Rabbiner, die
seit 1945 an der Schiffschul gewirkt hatten?
B. Kern: Erster Rabbiner war Alter
Simche. Gleich nach der Befreiung organisierte er in
einer eigens eingerichteten kleinen Betstube (Malzgasse
7) ein Minjan mit regelmäßigen Gottesdiensten und
übersiedelte dann in das Haus Große Schiffgasse 8, um
schrittweise die Räumlichkeiten im ersten Stockwerk den
Erfordernissen eines Bethauses und einer
Talmud-Tora-Schule anzupassen. Er war eine integrierende
Persönlichkeit für rückkehrende Juden orthodoxer
Ausrichtung und organisierte gemeinsam mit Heinrich
Seliger und den Angestellten des jüdischen Spitals
koschere Mahlzeiten bzw. Lebensmittelzuteilungen. Die
Lubawitscher Rabbiner Schnier Salmen aus Taschkent und
Schamchat aus Sarmakand haben 1947/48 die Mikwot im
Rothschildspital und in der Floßgasse 14 rituell "gekaschert";
Rabbiner Mojsche Schönfeld aus Budapest betreute 1946
bis 1949 das Kaschruth des reliösen Blockes im
Rothschildspital. Der Tenker Rabbiner Schlojme Salmen
Friedmann stand Rabbiner Alter Simche in den Jahren 1948
bis 1949 zur Seite und betreute ebenfalls die Mikwe in
der Floßgasse. 1949 verstarb Rabbiner Alter Simche im
Alter von 93 Jahren, ihm folgte bis 1952 Rabbiner Josef
Israel Segelbaum aus Makov. Auch er beaufsichtigte die
Mikwot im Rothschildspital und in der Floßgasse 14 sowie
die private Fleischbank der Fa. Resetritsch (Große
Pfarrg. 6). Sein Sohn führte als sein würdiger
Nachfolger die Schiffschul in New York. 1952 bis 1956
amtierte bis zu seiner Weiterreise nach den USA Rabbiner
Jechiel Mechel Neumann aus Serencz; auch ihm oblag die
Aufsicht über die Mikwot und die Koscher-Fleischbank der
Fa Resetritsch. 1960 bis 1970 war der Wolozer Rabbiner
Jehoschua Lerner an unserem Bethaus tätig.
Die längste Zeit, von 1956 bis zu
seinem Tod, amtierte der Neupester Rabbiner Eliezer
Weiser in der Schiffschul. Er betreute viele Jahre auch
das Bethaus in der Glasergasse und zählte zu den
beliebtesten Persönlichkeiten, er hatte das Wissen eines
Gelehrten und die Liebenswürdigkeit eines Chassid.
Seit 22 Jahren betreuen wir in der
Schiffschul iranische Flüchtlinge (mit bis zu 120
Personen bei voller Auslastung). Reb Michoel
Pressburger, Enkel des bekannten großen Bonyhader Row
Reb Aharon Pressburger HJD, sorgt sich in liebevoller
und verantwortungsbewusster Weise um deren leibliches
und geistiges Wohl, wofür wir ihm Respekt und
Anerkennung erweisen.
Seit 2 Jahren ist im Erdgeschoß
unseres Hauses Gr. Schiffg. 8 eine dynamische Gruppe
"junger Leute" untergebracht. Sie steht unter der der
Führung des allseits geschätzten Oberrabbiners der Khal
Chassidim Khal Israel Avraham J. Schwartz. Diese
Gruppe hat unser Haus mit neuem Leben erfüllt und
versorgt als "der" zukunftsreiche Verein Wien und
Österreich mit Kaschruth und anderen für das Leben eines
rituellen Juden wichtigen Belangen.
Im Souterrain wurde vor kurzem eine
Mikwe eröffnet, wichtige Adaptierungsarbeiten im
Erdgeschoß konnten bis dato noch nicht abgeschlossen
werden, da es auf Initiative eines gewissen auch sonst
in seinen Aktivitäten höchst umstrittenen Mojsche Arye
Friedmann zu einer Flut von Anzeigen bei verschiedenen
Behörden gekommen ist.
Besuch der Staatssekretärin Mag.
Brigitte Ederer am 30.08.1994
DAVID: Welche Zukunftspläne verfolgt
Adass Jisroel mit den noch immer brach liegenden
Liegenschaften Gr. Schiffgasse 8-10?
B. Kern: Exakt an dieser Stelle stand
bis 1938 die Synagoge der Adass Jisroel; das Bethaus,
erbaut im Jahr 1864, entsprach in der Raumgestaltung den
Vorstellungen eines streng orthodoxen Bethauses. Der
Grundgedanke bei der Neuerrichtung des "Schiffschul"-Zentrums
an dieser Stelle besteht darin, einerseits den an diesem
Ort zerstörten und für die Wiener Orthodoxie bedeutsamen
Tempel für die in Wien lebenden Mitglieder von Adass
Jisroel wiederherzustellen, und anderseits gleichzeitig
für die orthodoxen Juden Wiens ein religiöses,
kulturelles, gesellschaftliches und soziales Zentrum,
einschließlich der gesamten heute erforderlichen
Infrastruktur zu schaffen. Um dies zu realisieren,
benötigt man neben einem Bethaus ein angegliedertes
Gemeindezentrum mit allen dafür erforderlichen
Einrichtungen und Institutionen, z.B.: für Familien- und
Berufsberatung, Fortbildungskurse, Sprachseminare,
Kulturveranstaltungen, Teeabende, Fitnessaktivitäten,
Kindergärten, Kinderspielplätze. All dies soll im Rahmen
des neu zu erbauenden Zentrums realisiert werden, wobei
die Synagoge exakt an der Stelle und unter Verwendung
ähnlicher Gestaltungselemente und -prinzipien der ehem.
"Schiffschul" errichtet werden soll. Die Gebäude und
Räumlichkeiten des Gemeindezentrums sollen sich
gleichsam um die Synagoge und einem vorgelagerten
Arkadenhof gruppieren. Weiters ist straßenseitig eine
Wohnbebauung für kinderreiche Familien samt Tiefgarage
vorgesehen.
Dr. Kurt Scholz besucht am 4. 10. 2001
die Schiffschul
DAVID: Welche
Finanzierungsmöglichkeiten stehen Ihnen zur Verfügung?
B. Kern: Förderungen seitens des
Bundes, des Landes und der Gemeinde wurden zwar in
Aussicht gestellt aber trotz mehrfacher
Projektvorlagen bzw. Abänderungsvorschläge - noch nicht
in ausreichendem Maße zugesagt. Besonderes Interesse
bewiesen durch ihren Besuch Frau Staatssekretärin Mag.
Brigitte Ederer, Herr Nationalratspräsident Dr. Heinrich
Neisser und Herr Dr. Kurt Scholz. Das bevorstehende
Projekt hängt auch von der Zuerkennung von
Restitutionsgeldern ab wenn schon nicht in Höhe des
historischen Wertes, so doch in jenem Maße, dass
endlich, 65 Jahre nach der Zerstörung, mit dem Bau des
neuen Schiffschul-Projektes begonnen werden kann!
Alle interessierten Leser sind herzlich eingeladen,
nach vorheriger Anmeldung (Tel.: (01) 21 45 206), unser
Zentrum in der großen Schiffgasse zu besuchen.
Zurück
|