"Es ist eigenartig, wie viel der Mensch ertragen kann,
solange ihm das Schicksal in kleinen Portionen verabreicht wird. Es ist
genau wie mit Gift, das man gefahrlos schlucken kann, wenn man mit kleinen
Dosen beginnt und diese nur langsam steigert, bis der Körper sich
schließlich daran gewöhnt."
David van Hessen, Mai 1943
Diese Zeilen stammen vom Vater jenes jüdischen Mädchens,
dessen Jugend den Mittelpunkt dieses Beitrags bildet, und sie
charakterisieren zugleich nicht nur dessen Schicksal, sondern die
Leidensgeschichte der ganzen Familie van Hessen. Edith van Hessen, eine
Niederländerin aus Den Haag, überlebte beinahe als Einzige ihrer Familie den
Holocaust und die Schrecken des Zweiten Weltkrieges. Mit Hilfe ihrer
geretteten Tagebuchaufzeichnungen 1
gelang ihr die Verfassung und Publikation einer Autobiografie, die uns und
den nachkommenden Generationen einen Einblick in die damaligen Ereignisse
sowie in die Handlungen der damaligen Akteure, aus der Perspektive einer
jungen, heranwachsenden Frau erzählt, gewährt.
Da Holland ähnlich wie im Ersten Weltkrieg auch anno 1939
nach wie vor an seiner Neutralität 2
strikt festhielt, in der Hoffnung, auch im Zweiten Weltkrieg außerhalb des
Kriegsgeschehens bleiben zu können, hatte die niederländische Regierung
weder mit den belgischen Nachbarn noch mit den Alliierten irgendwelche
Verteidigungsstrategien oderpläne entwickelt, so dass die Invasion der
deutschen Heeresgruppe B am 10. Mai 1940 mit keinen allzu großen
Schwierigkeiten vor sich gehen konnte.
Die damals beinahe 15-Jährige Edith van Hessen vermerkte
in ihrem Tagebuch:
"10. Mai 1940, halb sechs Uhr morgens. Ich wurde [...]
von einem wahnsinnig lauten Krachen geweckt. [...] Plötzlich wurde mir klar,
dass das Krachen Geschützdonner war. Alle Nachbarn standen an den Fenstern.
[...] Unzählige Flugzeuge flogen über die Stadt. [...] Leuchtkugeln. Ein
wahnsinniger Krach! So etwas habe ich noch nie erlebt. Und dann so ganz in
der Nähe! Direkt hinter unserem Haus. Die Kugeln flogen über unsere Dächer
hinweg und an den Fenstern vorbei. Überall hingen dicke Rauchwolken und
dazwischen kleinere Wölkchen am Himmel. [...] Was wird jetzt wohl werden?
Kämpfen wir gegen die oder die gegen uns? Wie dem auch sei ich mache mir
Sorgen. Was wird die Zukunft bringen? Ich weiß es nicht. Aber jetzt will ich
erst mal versuchen, noch ein bisschen weiter zu schlafen. Inzwischen ist
wieder alles ruhig draußen." 3
Obwohl ein Krieg gegen das Dritte Reich als unvermeidlich
zu sein schien und von so manchen holländischen Autoren wie beispielsweise
A. den Doolaard 4
einige Jahre vor dem Einmarsch der deutschen Truppen prophezeit worden war,
hoffte man dennoch auf eine Änderung der politischen Situation. Noch am
selben Morgen des 10. Mai 1940 ließ die Landung zweier deutscher
Fallschirmjäger Edith zum ersten Mal richtig Angst verspüren. Alle Nachbarn
seien in Bademänteln und Pantoffeln auf die Straße gelaufen. Edith schnappte
sich ihr Tagebuch und begleitete ihren Vater hinunter. Dort hielt sie
folgendes fest: "10 Mai 1940, zwanzig vor zehn morgens. Wir führen Krieg
gegen Deutschland. An den Grenzen wird gekämpft. Die ganze Zeit laufen
Sondersendungen im Radio. [...] Ich höre gerade im Radio, dass die Schulen
hier auch geschlossen sind. [...] Wir mussten alle in die Schutzkeller.5
Schrecklich! Die ganze Welt steht kopf. [...]."6
Doch der Einmarsch der Deutschen schritt unaufhaltsam
voran: Panzerverbände der deutschen 18. Armee unter Generaloberst Georg von
Küchler nahmen in den ersten Tagen die Ijsselmeer-Stellung sowie die
Peel-Stellung im Süden Hollands ein. Deutsche Fallschirmjäger sprangen in
der Nähe der so genannten "Festung Holland", wo sie gemeinsam mit weiteren
Panzerverbänden strategisch wichtige Brücken okkupierten und das
niederländische Heer in die Isolation zwangen, ab. Die Aussicht der in
Bedrängnis geratenen niederländischen Truppen auf Unterstützung von Seiten
der französischen Verbände schien hoffnungslos. 7
Vier Tage des Innehaltens, Hoffens und Bangens innerhalb
der Bevölkerung waren vergangen, als die holländische Armee sich gezwungen
sah, die Kapitulation anzutreten. Vier Tage lang hatte Edith sich immer
wieder eingeredet: "Nur nicht den Mut verlieren!". 8
Gerüchte kursierten herum, dass ganze Trupps von Deutschen erschossen worden
seien und diese dennoch in niederländischen Uniformen getarnt, in die Städte
kämen. Das Losungswort "Scheveningen" für Nichtholländer ein wahrer
Zungenbrecher - galt es, korrekt auszusprechen; wer dazu nicht in der Lage
war, wurde auf der Stelle von den niederländischen Kontrollposten als Spion
verhaftet.9
Die Stadt Rotterdam, die mit Amsterdam und Utrecht die
letzte Verteidigungslinie der holländischen Armee, die "Festung Holland"
gewesen war, fiel Bombardements der deutschen Luftwaffe zum Opfer. Von
holländischer Seite unternommene Übergabeverhandlungen erreichten die
deutschen Kommandostellen mit Verspätung: bloß die zweite Staffel des
Kampfgeschwaders 54 erhielt den Befehl, eine weitere Bombardierung zu
unterlassen. Die zweitgrößte Stadt des Landes mit über 600 000 Einwohnern
wurde Opfer von über 90 Tonnen Bomben. 10
David van Hessen hatte zu Kriegsbeginn 1939
Sicherheitsvorkehrungen getroffen und der ganzen Familie Pässe mit Visa für
die Vereinigten Staaten von Amerika ausstellen lassen. Nun war die Chance
zur Emigration in die USA dahin, denn die Reisedokumente, die sich im
amerikanischen Konsulat in Rotterdam befunden hatten, verbrannten zur Asche. 11
Ediths Heimatstadt Den Haag wurde am 15. Mai 1940 von
deutschen Fallschirmspringern okkupiert. Den Haag fungierte außerdem als
Sitz des "Reichskommissars für die besetzten niederländischen Gebiete", des
Österreichers Dr. Arthur Seyß-Inquart, welcher zehn Tage nach der
Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrages gemeinsam mit seinem aus vier
Generalkommissären bestehenden Kabinett die Agenden der Zivilverwaltung in
Angriff nahm. 12
Die "einzig spürbare Veränderung in den ersten Tagen der
deutschen Besatzung war für mich, dass ich mehr im Haushalt helfen musste" 13 ,
erinnerte sie sich, denn angesichts der Entwicklung waren Sparmaßnahmen
unbedingt erforderlich, und bald sollte die Beschäftigung eines
nichtjüdischen Dienstmädchens in jüdischen Haushalten verboten werden. Trotz
so mancher Restriktionen bezeichnet Edith ihren 15. Geburtstag, den sie am
3. Juli 1940 im Kreise ihrer Familie feierte, als den "schönsten Geburtstag"
ihres Lebens! Sie bekam 12,50 Gulden, einen Gutschein für ein neues Fahrrad,
Schuhe, Blumen und Süßigkeiten.14
Auf ausdrücklichem Wunsch des Führers sollten die
Nazifizierungsmassnahmen schonender als in anderen besetzten Staaten
durchgeführt werden: Das niederländische Volk sollte den Nationalsozialismus
auf freiwilliger Basis anerkennen und von sich selbst aus annehmen.
Auch die "Endlösung der Judenfrage" wurde vorerst nicht
aufgerollt. Doch bereits im August/September 1940 ergingen diverse
Verordnungen, welche den Ausschluss des jüdischen Populationsanteils aus dem
wirtschaftlichen, kulturellen und öffentlichen Leben zum Inhalt hatten. Dass
die Germanisierungs- und Nazifizierungspolitik im Vergleich zu jener in der
sogenannten Ostmark radikal durchgeführten "Entjudungspolitik" "schonender"
vor sich ging, zeigt beispielsweise, dass Ediths Eltern zu Silvester des
Jahres 1940 trotz großer Besorgnis um ihre Zukunft, diese zumindest für
jenen Abend "ablegen" konnten und mit Smoking bzw. rotem Paillettenkleid
gekleidet, den Eintritt ins neue Jahr feierten. 15
Mit langsamen Schritten waren die Einschränkungsmaßnahmen
des Besatzungsregimes allerorts zu spüren: Die Straßenlaternen wurden abends
zwecks Verdunklung ausgeschaltet, Radioapparate und Automobile, so auch der
Chevrolet der Familie van Hessen, wurden konfisziert. Das Betreten von
Lokalen, Kinos, der Besuch von öffentlichen Schwimmbädern, Stränden, Parks
oder Rennbahnen waren für Juden verboten. Die 15-Jährige Edith betrachtete
es als eine Folge jener Maßnahmen, dass sie sich ihrer "jüdischen Identität
plötzlich stärker bewusst" wurde und wusste, so manche Verordnung zu
umgehen, indem sie sich mit Freunden an einem verlassenen Stück Strand traf
und dort gemütliche Nachmittage verbrachte. 16
Sie wurde das jüngste Mitglied der zionistischen Jugendorganisation "Gideon"
und betrachtete es als eine "riesengroße Ehre"17 ,
mit 15 Jahren aufgenommen worden zu sein.
Bald durften jüdische Kinder keine öffentlichen Schulen
mehr besuchen; der Judenrat beauftragte daher das Komitee für Jüdische
Erziehung mit der Gründung einer jüdischen Schule: am 8. Oktober 1941 wurde
das Jüdische Lyzeum schließlich eröffnet. 18
Der Schulalltag gestaltete sich ähnlich wie in den anderen, öffentlichen
Schulanstalten auch: Am Ende des Schuljahres wurden Gedichte zitiert, Lieder
gesungen und die Sorgen des Alltags für eine Weile vergessen. Alle Schüler
trugen an ihren Revers eine "fröhliche gelbe Narzisse". "Wir konnten
nicht ahnen, dass wir keinen Monat später an derselben Stelle den gelben
"Judenstern" würden tragen müssen."19 ,
bemerkte sie hierzu. Überall waren Schilder mit "Juden unerwünscht" zu
lesen, auf den Straßen wurden antisemitische Plakate angebracht. Edith fiel
auf, dass gerade auf dem Laternenpfahl vor ihrem Haus besonders viele
Pamphlete angeklebt worden waren; und dennoch versuchte sie, sich selbst
Courage und Zuversicht zuzusprechen: es hätte sie "große Mühe" gekostet,
ihre Umgebung von ihrem Optimismus zu überzeugen. Trotz aller Repressalien
verleugnete sie ihre Abstammung nicht, sondern manifestierte ihren Stolz,
indem sie sogar auf ihren Schal einen gelben Stern nähte. Eines Tages spürte
sie jedoch einen Stoß in den Rücken und einen Schlag auf dem Kopf, die ihr
von einem unbekannten Radfahrer verabreicht wurden, und erst da begriff sie,
dass es auch Andersdenkende gab, die jenen Stern keineswegs als
"Ehrenzeichen" betrachteten.20
Ab Mitte des Jahres 1942 standen Deportationen und
Razzien an der Tagesordnung. Deshalb wurden Fluchtpläne in allen Varianten
geschmiedet: Ediths Bruder, Jules beabsichtigte, in die östlichen
Niederlande zu fahren und seinen Lebensunterhalt als Bauernknecht zu
verdienen, um danach nach England zu flüchten. Es gelang ihm, von einer
Untergrundorganisation gefälschte Personalausweise zu bekommen, die im
Elternhaus mit Hilfe von Gummistempeln, Scheren, kleinen Messern und
Pinzetten sowohl für die Familie van Hessen als auch für Jules´ Freunde
rekonstruiert und adaptiert wurden. Als Vorwand für die vielen Besucher im
Hause van Hessen gab man die Schlittschuhschleifmaschine an: Während einer
der Freunde mit dem Schleifen der Eislaufschuhe viel Lärm verursachte,
widmete sich der Rest dem Fälschen von Dokumenten. 21
Die Mutter der Kinder Hilde van Hessen war inzwischen mit
einem diffizilen Beckenbruch ins Krankenhaus eingeliefert worden, doch
wusste sie über die Fluchtpläne ihrer Schützlinge Bescheid. Am 18. Juli 1942
machte sich das Geschwisterpaar Edith und Jules zum letzten Mal auf den Weg
ins Spital. Edith Velmans-van Hessen beschrieb jene Momente des Abschieds
mit folgenden Worten: "[...] Das Zimmer meiner Mutter zu verlassen,
kostete mich die allergrößte Mühe. Jules und ich gingen in Richtung Tür,
kehrten aber immer wieder um, für einen letzten Kuss, noch eine letzte
Umarmung, wobei wir, um das Theater aufrechtzuerhalten die Mutter lag
in einem Zweibettzimmer [Anm. D.C. Albu] jedes Mal so taten, als hätten
wir vergessen, ihr etwas zu sagen. `Denk dran, morgen die Taschentücher
mitzubringen, Edith`, sagte meine Mutter [...] Ihre Stimme klang ganz
normal, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.[...]".
22
Edith mit ihrer Mutter, den beiden Brüdern
Guus (stehend) und Jules und dem Hund Fifi im Jahre 1938
Wieder zu Hause angekommen wurden die allerletzten
Vorbereitungen getroffen: Mit Nagelschere und Rasiermesser wurden die gelben
Sterne von allen Kleidungsstücken sorgfältig entfernt. Die Großmutter und
der Vater der Beiden nahmen am Abend einige Schlaftabletten ein, denn der
Plan lautete dahingehend, dass die Kinder van Hessen beschlossen hätten,
ohne Wissen oder Zustimmung der
Eltern in die Schweiz zu flüchten. 23
Edith van Hessen existierte am nächsten Morgen nicht mehr: Von nun an hieß
sie Antoinette Schierboom, geboren am 22. Juli 1925, stammte aus Wassenaar
und kam bei einer mit den Eltern ihres Freundes Adrie Verhulst befreundeten
Familie aus Breda als Haushaltshilfe unter. Die Kleinsmiedes waren etwa im
gleichen Alter wie Ediths Eltern und hatten eine um fünf Jahre ältere
Tochter namens Ineke. Nettie, wie Edith nun genannt wurde, galt als Inekes
beste Freundin aus dem Norden, die den Sommer bei ihr und deren Familie
verbrachte.24
Da das Führen eines Tagebuches sie unter Umständen hätte
verraten können, waren die durch Kuriere überbrachten Briefe ihrer
Familienangehörigen, die Edith entgegen der Ermahnung ihrer Mutter, sie nach
dem Lesen sogleich zu verbrennen, aufbewahrte, das einzige, woran sie sich
klammern konnte und ihr ein Gefühl der Zugehörigkeit und Geborgenheit
vermittelte. 25
Insbesondere der Briefverkehr zwischen Edith und ihrer
Mutter gestaltete sich sehr rege. Anfangs waren die Briefe eher kurzgehalten,
die ganze Sorge der Mutter galt ihren Familienangehörigen. Da die Großmutter
ihren einzigen Sohn im Ersten Weltkrieg verloren und dafür das Ehrenkreuz
verliehen bekommen hatte, glaubte man, sie von der Gefahr einer Deportation
ausschließen zu können, was eine Zeit lang mit viel Glück auch tatsächlich
funktionierte. Nachdem sich Ediths Vater einer komplizierten Kieferoperation
er hatte Krebs unterziehen musste, fungierte Edith als erste Ansprech-
und Vertrauensperson, und sie fühlte sich geschmeichelt, von der eigenen
Mutter als erwachsene Person betrachtet zu werden. In einem ihrer vielen
Briefe schrieb Hilde van Hessen: "[...] Wir reden von gleich zu gleich
miteinander, und deswegen habe ich Dir mein Herz ausgeschüttet und Dir meine
größten Sorgen anvertraut. [...] Doch wem sollte ich sonst mein Seelenleid
offenbaren als Dir, mein Engel? Du verstehst mich, und Du bist mein Trost.
[..]". 26
Edith mit ihrem Bruder Jules im Jahre 1931
1942 begannen die "Säuberungsmaßnahmen" und "Entjudung"
vieler Ortschaften und Gemeinden. Die deutschen Juden wurden ins
"Polizeiliche Durchgangslager Westerbork" untergebracht, welches
ursprünglich - also seit Kriegsbeginn 1939 bis zur Invasion der deutschen
Truppen im Mai 1940 als Aufnahmestelle für Flüchtlinge mosaischen Glaubens
aus dem Altreich fungiert hatte; die niederländischen Juden hingegen
verfrachtete man im Zuge eines Aufenthaltsverbotes in Haarlem, Heemstede,
Bloemendaal und Voorschoten zunächst ins Lager Vught bei Hertogenbosch bzw.
nach Amsterdam. Doch bald sollte das 50.000 qm große Zwischenlager
Westerbrock als Zwischenstation auf dem Weg in den sicheren Tod für alle
Angehörigen des jüdischen Glaubens dienen. 27
Ein letztes Mal war es Edith beschert, ihren Bruder Jules
Anfang 1943 (wieder zu) sehen: mit einem alten rostigen Fischerboot
beabsichtigte er, gemeinsam mit Ediths Freund Adrie nach Groningen und von
dort aus nach England zu fahren. Jules schien voller Optimismus und guter
Hoffnung zu sein, als er sich von seiner Schwester mit den Worten "Auf ein
ganz, ganz baldiges Wiedersehen, Nettie!" Und denk dran, die Befreiung rückt
immer näher!" 28
verabschiedete. Doch relativ bald wurde er verraten, arretiert, ins
Durchgangslager Westerbork überstellt und schließlich nach
Auschwitz-Birkenau deportiert, von wo er nie mehr zurückkehren sollte.29
Als Freundin des zweiten Sohnes 30
der Familie van Hessen, der zu Beginn des Krieges in die USA emigriert war,
getarnt, betrat Edith die Abteilung der Mund- und Kieferchirurgie des
Krankenhauses in Utrecht. Das deformierte Gesicht ihres schwerkranken Vaters
war kaum wieder zu erkennen, doch er versuchte, ihr durch versteckte
Botschaften Mut zuzusprechen. Er begleitete sie schließlich bis zum
Ausgangstor und sagte: "Der Tag wird kommen. Der Tag wird kommen." Edith
schrieb dazu in ihr Buch: "Langsam drehte er sich um und ging zurück zum
Krankenhaus. Noch einmal wandte er sich zu mir um und winkte. Als ich dort
stand und ihm hinterher blickte, wusste ich, dass ich ihn nie mehr
wiedersehen würde."31
Nun war es so weit: auch Altersheime und Spitäler wurden
nach Juden durchkämmt. Ediths Mutter und Großmutter kamen nacheinander ins
Hauptdurchgangslager Westerbrock. Die Lagerordnung, die den Gefangenen das
Feiern von jüdischen Fest- und Gedenktagen und den Empfang von Briefen und
Paketen ermöglichte, sowie das relativ geordnete Lagerleben, das
musikalische, künstlerische und sportliche Veranstaltungen erlaubte, machten
den beiden Frauen Hoffnung auf eine Rückkehr bzw. einen möglichen Verbleib
in den Niederlanden. 32
In Ihren langen Briefen an ihre Tochter vermengten sich Hoffnung und Trauer,
Zuversicht und Verzweiflung. Mit letzter Kraft versuchte Hilde van Hessen,
Stärke und Courage zu beweisen und vor allem ihren Familienangehörigen Mut
zuzusprechen, wie dies aus einem Brief an ihren Gatten, den sie in der Nacht
vor dem Abtransport verfasste, zum Ausdruck kommt: "[...] Ich komme
gewiss zurück, und dann nehmen wir das Leben wieder auf, das wir uns, lange
bevor dieser Alptraum begann, geschaffen haben. Du musst Dein Bestes tun, um
zu genesen, denn wenn ich zurückkomme, werde ich Dich mehr denn je brauchen.
Ich will, dass Du diese Krankheit bezwingst und Dich nicht von den
Grausamkeiten unterkriegen lässt, die die Nazis uns zufügen. [...] Und Ihr
müsst auch Euer Bestes tun, verstanden? Ich zähle auf Euch und werde Euch
dringend brauchen, wenn ich zurückkomme. Dann müsst Ihr da sein! Ich werde
Euch immer lieben. Hilde."33
Auch Ediths Vater spürte sein Ende nahen. Seine Briefe
schloss er stets mit Botschaften wie "Auf Wiedersehen, meine liebe Freundin.
Du hast mir nichts als Freude gemacht!" oder "Lebe wohl, mein Engel ich
liebe Dich bis über das Grab hinaus." 34
Edith weigerte sich, dies zu akzeptieren, und dennoch schaffte sie es, ihren
geliebten Vater mit den Worten " [...] Du hast uns so viel Glück
und so viel schönes gegeben. [...] Mach Dir keine Sorgen mehr. Auf
Wiedersehen, mein lieber Vati. Ich küsse Dich nochmals innig und werde immer
bei Dir sein, von Dir und für Dich. Dein Kind." aus dieser Welt zu
entlassen. Wenige Stunden nach dem Erhalt jenes Briefes starb David van
Hessen.35
Nun schienen die Einsamkeit und Isolation sowie die
Monotonie des Alltags für Edith immer unerträglicher zu werden; sie spielte
mit dem Gedanken, sich selbst anzuzeigen. Am 29. Oktober 1944 jedoch begann
der Traum von der Befreiung endlich wahr zu werden: Explosionen und Schüsse
waren zu hören, Flüchtlinge zogen durch die Straßen, und drei Tage später
hielten polnische Befreier mit ihren Panzern Einzug in Den Haag. Nun gaben
die Kleinsmiedes die wahre Identität der Nettie Schierboom preis, und alle
Nachbarn umarmten und beglückwünschten sie. 36
In den letzten Jahren vor Kriegsende waren Entbehrungen
im Nahrungsmittelbereich hie und da zu spüren; Butter war ein begehrtes und
rares Produkt. Nach dem Tode ihres Vaters bekam Edith dessen Anzug und ein
Paar Schuhe, die sie vorerst als Erinnerungsstücke aufbewahren wollte.
Zögernd, widerwillig und unentschlossen tauschte sie dann schließlich die
Schuhe gegen Mehr, Eier und ein Stückchen Butter ein. 37
Im Norden des Landes sollte der Krieg bis zum 5. Mai 1945
andauern und eine unvorstellbare Hungersnot ausbrechen. Während im Radio
Berichte vom Ver-zehr von Tulpenzwiebeln, Zuckerrüben und Katzen zu hören
waren, erschien Edith und ihrer Pflegefamilie ihr "armselige Mahl [...]
geradezu ekelhaft üppig." 38
Mit Beginn des Frühlings des Jahres 1945 gewann Edith
ihre Lebensfreude wieder zurück. Eine Tagebucheintragung vom 26. März 1945
teilt uns folgendes mit: "Ich habe oft so ein Gefühl in mir: Ich will
glücklich sein, und ich werde glücklich sein. Ich bin dem Leben gewachsen,
und wenn es mir auch noch so viele Steine in den Weg legt. [...] Das Leben
muss einfach schön werden, wenn man anderen etwas zu geben hat, anstatt
immer nur zu nehmen. Dieses Gefühl der Kraft verleiht mir Mut und die
Gewissheit, stark genug zu sein für das Leben. Es hilft mir, vieles zu
überstehen. [...]" 39
Mit diesem Optimismus und dem Vorsatz, immer glücklich
sein zu wollen, meisterte sie ihr Leben nach dem Krieg: Sie feierte das
Wiedersehen mit ihrem Bruder Guus, absolvierte das Studium der Psychologie
und heiratete Loet Velmans, einen Schulfreund ihres im KZ umgekommenen
Bruders Jules. 40
Edith Velmans-van Hessen lebt heute mit ihrem Ehegatten und ihren drei
Töchtern in den USA.41
1 Als die Großmutter der Autorin im September 1938 nach
Holland emigrierte, machte sie ihrer Enkelin ein Album, welches in
späterer Folge als Tagebuch benutzt wurde, zum Geschenk. Einen Tag, bevor
Edith van Hessen in Breda untertauchen musste, vertraute sie ihrer besten
Freundin Miep Fernandes ihre Tagebücher in einem schwarzen Lacklederkoffer
verpackt, in dem die Großmutter ihre Unterwäsche für die Beerdigung
aufbewahrte, an. Edith Velmans-van Hessen, Ich wollte immer
glücklich sein. Das Schicksal eines jüdischen Mädchens im Zweiten
Weltkrieg, Frankfurt/Main 2001, S13-14. (Die Originalausgabe erschien 1997
unter dem Titel Edith Velmans-van Hessen, Het verhaal van Edith,
Amsterdam 1997.)
2 Die geographische Lage Hollands machte eine neutrale
Haltung erforderlich, denn ähnlich wie Belgien und Luxemburg lag/liegt es
in der Rheinfront und konnte im Falle einer militärischen
Auseinandersetzung zwischen den europäischen Großmächten Frankreich und
Deutschland als Spielball benutzt werden. Theodora Redlich, Die
Stellung der Niederlande im Zweiten Weltkrieg (unveröffentlichte
Diplomarbeit, Universität Wien 1987), S7-15.
3 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S35,
ebda.
4 A. den Doolaard verfasste 1938 das Werk Het
hakenkruis over Europa Das Hakenkreuz über Europa. Edith hatte ein
Segelboot, welches sie "Den Doolaard" taufte. E. Velmans-van Hessen,
Glücklich sein...; S25, ebda.
5 Die Familie van Hessen hatte nach der Kriegserklärung
Frankreichs und Großbritanniens an Hitlerdeutschland im eigenen Garten
einen Bunker angelegt, welcher mit Grassoden und Narzissen verdeckt, mit
Gasmasken, Taschenlampen u. dgl. ausgestattet wurde und als Abstellraum
bzw. als Spielraum für Edith und deren Freunde fungierte. E.
Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S28, ebda.
6 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein....;
S36, ebda.
7 Die "Festung Holland umschloss die Städte Rotterdam,
Amsterdam und Utrecht. Vgl. www.dhm.de/lemo/html/wk2/kriegsverlauf/niederlande
oder Frans S.A. Beekman, Franz Kurowski, Der Kampf um die
Festung Holland, Herford 1981.
8 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S36,
ebda.
9 General Winkelmann, Chef des niederländischen Heeres,
unterzeichnete am 15. Mai 1940 den deutsch-niederländischen
Waffenstillstandsvertrag. Die Bilanz des fünftägigen Krieges waren 2890 im
Kampf gefallene (holländische) Soldaten und 2500 Tote unter der
Zivilpopulation. Th. Redlich, Die Niederlande...; S46, ebda. E.
Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S38, ebda.
10 Vgl. Frans S.A. Beekman, Sturmangriff aus der
Luft. Die erste Fallschirm- und Luftlandeoperation der Kriegsgeschichte in
der Festung Holland, Berg am See 1990.
11 David van Hessen hatte eine künstlerische Ausbildung
absolviert und zusätzlich einen kaufmännischen Beruf im Holzhandel erlernt
und fungierte als europäischer Repräsentant der amerikanischen Firma
Ritter Lumber Company of Columbus (Ohio). E. Velmans-van Hessen,
Glücklich sein...; S21-22, ebda.
12 Ursprünglich hatte Adolf Hitler die Einrichtung
einer reinen Militärverwaltung vorgesehen, welche die Sicherheit im
Inneren und die Ankurbelung des Wirtschaftslebens gewährleisten sollte.
Der Kölner Regierungspräsident Eggbert Reeder wurde zum Chef der
Militäradministration ernannt; doch bestand dadurch die Gefahr des
Überhandnehmens militärischer Kompetenzen, so dass die neuen Instruktionen
des Führers nach dem 15. Mai 1940 die Einrichtung eines
Reichskommissariats anordneten. Th. Redlich, Die Niederlande...;
S50-58, ebda. Zu den Generalkommis-sären gehörten der ehemalige
österreichische Staatssekretär und Regierungspräsident in Regensburg
Friedrich Wimmer, der nunmehr für Verwaltung und Justiz zuständig war,
Hans Fischböck, der ehemalige Wiener Bankpräsident und nunmehriger
Kommissar für Wirtschaft und Finanzen; Hanns Albin Rauter, höherer
SS-Polizeiführer fungierte als Chef der Sicherheit und Polizei, Fritz
Schmidt betreute das Kommissariat zur besonderen Verwendung, und Otto Bene
war für die außenpolitischen Angelegenheiten verantwortlich. Horst
Lademacher, Die Niederlande. Politische Kultur zwischen Individualität
und Anpassung, In: Propyläen Geschichte Europas, Ergänzungsband, (Berlin,
Frankfurt/Main 1993), S409.
13 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...;
S41, ebda.
14 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...;
S44, ebda. Im Juni 1942 war Edith gezwungen, ihr Fahrrad abzugeben. In ihr
Tagebuch schrieb sie: "[...] Ich musste von halb elf bis zwei Uhr warten.
Kein Jude darf jetzt mehr Fahrrad fahren. Was für eine Schweinerei. Sogar
das nehmen sie uns noch weg! In letzter Zeit halte ich mir die ganze zeit
den Spruch vor Augen: ´Wenn die Not am größten ist, muss die Rettung nahe
sein.` [...]". E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S120-121,
ebda.
15 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...;
S53, ebda.
16 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...;
S51, 55, 61,72, 76, 78 ebda.
17 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...;
S62, ebda.
18 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...;
S88, 93, 95, ebda.
19 Am 2.5.1942 wurde der "gelbe Judenstern" mit der
Aufschrift "Jood" eingeführt. Die Verpflichtung bestand bei jedem Auftritt
in der Öffentlichkeit, selbst wenn sich die betreffende Person auf dem
eigenen Balkon oder am eigenen Fenster aufhielt. Auf Plakaten wurde
verkündet, an welcher Stelle der Stern, der vor dem Aufnähen gewaschen
werden musste, um ein Eingehen zu verhindern, angebracht werden musste. E.
Lademacher, Niederlande...; S581, ebda. E. Velmans-van Hessen,
Glücklich sein...; S106, 108 ebda.
20 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...;
S91, 108, 114 ebda.
21 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...;
S126-127, ebda.
22 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...;
S131, ebda.
23 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...;
S130, ebda.
24 Edith wurde von ihrem Freund Adrie nach Breda
begleitet: "[...] Da wir in den morgendlichen Hauptverkehrszeit
unterwegs waren, wimmelte es nur so von deutschen Soldaten. [...] Mir
klopfte das Herz bis zum Hals. Trotzdem fühlte ich mich frei wie ein
Vogel. [...] Adrie und ich saßen Hand in Hand und versuchten, [...] uns
wie ein ganz normales verliebtes Pärchen zu verhalten. In meiner
Brieftasche hatte ich, wie alle anderen, meinen Ausweis ohne das
abscheuliche `J´[...]:" E. Velmans-van Hessen, Glücklich
sein...; S132-135; 138-139, ebda.
25 Sie las die Briefe ihrer Eltern und Freunde so oft,
so dass sie jene beinahe auswendig konnte. Gemeinsam mit selbstverfassten
Gedichten und selbstangefertigten Zeichnungen versteckte sie diese unter
einem Stapel Kleidung im Schrank. E. Velmans-van Hessen, Glücklich
sein...; S164, ebda.
26 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...;
S176, ebda.
27 E. Lademacher, Niederlande
; S580-582, ebda.
28 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...;
S192, ebda.
29 In einem Brief an seine Mutter schrieb er, er werde
vom Gefängnispersonal "sehr gut" behandelt, warte auf den Abtransport nach
Westerbork und bitte um einige Kleidungsstücke. Jules hatte als
Inhaftierter zwei Fluchtversuche unternommen, weshalb er den Vermerk "S"
in seine Dokumente eingetragen wurde, was ihm eine "Sonderbehandlung"
bescherte. In Westerbrock war er zu Zwangsarbeit verurteilt worden.
Beinahe ein Jahr nach der Deportation starb Jules van Hessen am 29.
Februar 1944. Adrie Verhulst, Ediths Freund, erhielt von David van Hessen
den Auftrag, das Segelboot, das als Fluchtmittel für Jules dienen hätte
sollen, zum Verkauf anzubieten. Bevor er das Boot bei einem Schiffsbauer
in der Nähe von Loodsrecht ablieferte, gönnte er sich noch einen
Segeltörn, was ihn in Ediths Augen als herz- und taktlos erscheinen ließ.
Jene Geschichte habe einen Wendepunkt in ihren Gefühlen für Adrie
markiert, stellte Edith fest. E. Velmans-van Hessen, Glücklich
sein...; S206-207; 212; 214-215; 216-217; 300, ebda.
30 Guus reiste am 1. März 1940, also einige Monate vor
der Okkupation Hollands nach Amerika und sollte neben Edith der einzig
Überlebende der Familie van Hessen sein. Vgl. E. Velmans-van Hessen,
Glücklich sein...; S215, ebda.
31 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...;
S196, ebda.
32 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...;
S218-221, ebda. Vgl. außerdem E. Lademacher, Niederlande...; S582,
ebda.
33 Hilde van Hessen starb gemeinsam mit ihrer aus
Deutschland stammenden Mutter in den Gaskammern von Sobibor. E.
Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S231-232; 300 ebda.
34 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...;
S235, ebda.
35 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...;
S240-241, ebda.
36 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...;
S259-262, ebda.
37 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...;
S244-248, ebda.
38 Da Hitler ausdrücklich angeordnet hatte, dass der
Lebensstandard der Niederländer unangetastet bleiben und nicht unter jenen
der Deutschen sinken sollte, waren Einschränkungen erst ab 1942
festzustellen, die vor allem im Norden Hollands im Hungerwinter 1944/45
kulminierten. E. Lademacher, Niederlande...; S588, ebda. E.
Velmans-van Hessen, Glücklich sein...; S270.
39 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...;
S287, ebda.
40 E. Velmans-van Hessen, Glücklich sein...;
S308-309, ebda.
41 Bei der Geburt ihrer beiden Zwillingstöchter 1950 in
einem Amsterdamer Krankenhaus teilte Edith Velmans-van Hessen das Zimmer
mit einer gewissen Miep Gies, jener Person, die der Familie der Anne Frank
während der Besatzungszeit Unterschlupf gewährt hatte. E. Velmans-van
Hessen, Glücklich sein...; S11-13, ebda. Vgl. außerdem: Carol Ann
Lee, Anne Frank. Die Biographie. München, Zürich 2002.
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