Im Frühjahr 2002 kamen bei Abrissarbeiten eines Anbaus an
einem Gebäude in der Fischergasse in Tulln die Reste einer älteren Wand zum
Vorschein, die anhand des Mauerwerks und zwei noch in situ erhaltenen
zugemauerten gotischen Lanzettfenstern auf eine Entstehungszeit im späten
13. Jh. datiert werden konnte. Bei einer Begutachtung und Vermessung des
Gebäudes durch Mitarbeiter des Fachgebiets Baugeschichte im Herbst 2002
stellte sich heraus, daß sich vermutlich neben der bis zur Trauflinie
erhaltenen Nordwand des Gebäudes trotz massiver Umbauten im 19. Jahrhundert
auch im übrigen Gebäude Bausubstanz des ursprünglichen mittelalterlichen
Bauwerks erhalten hat. 1
Aufgrund der Lage des Gebäudes im Bereich des
mittelalterlichen jüdischen Siedlungsgebietes und einiger auffälliger
Merkmale an der zutage getretenen Bausubstanz selbst ist zu vermuten, dass
es sich bei diesem Bauwerk einst um die Synagoge der jüdischen Gemeinde
Tullns gehandelt haben könnte. 2
Anhand der erhaltenen schriftlichen Quel-lenhinweise zum Areal des
ehemaligen jüdischen Wohnbereiches und der oftmals in den Stadtbüchern und
in Urkunden als "Judenschul" genannten Synagoge ist eine Lokalisierung
dieses Gotteshauses in diesem Bereich wahrscheinlich, allerdings wurde der
Standort bisher auf der östlichen Seite der Fischergasse, gegenüber dem
fraglichen Gebäude vermutet.3
Die im Verlauf der Untersuchung des Gebäudes und der
derzeit noch laufenden Auswertung der Bauaufnahme gemachten ersten
Beobachtungen und Überlegungen sollen hier vorgestellt werden und dazu
veranlassen, die bisherige Lokalisierung zu überprüfen und die Hinweise
daraufhin neu zu interpretieren.
Heutiges Erscheinungsbild und
baugeschichtliche Befunde
Das Gebäude Fischergasse 5 liegt am westlichen Ende der
Fischergasse an der ehemaligen, heute nicht mehr vorhandenen
mittelalterlichen Stadtmauer, die das Stadtgebiet zur Donau hin abschloss.
Das heutige Erscheinungsbild und die Fassadengestaltung des zweigeschossigen
Gebäudes geht im wesentlichen auf das 19. Jh. zurück.
Die ehemalige Judengasse in Tulln mit dem Gebäude
Fischergasse 5 (Foto: Simon Paulus 2002)
Die freigelegte Nordwand ist einheitlich bis zum heutigen
Traufgesims aus Bruchsteinmauerwerk ge-mauert, an dem sich noch Reste
älterer Putzschich-ten befinden. Sie besitzt außer den zwei schmalen
zugemauerten gotischen Lanzettfenstern, die im ob-eren Bereich der Fassade
etwa 1m unter der Traufe enden, weiter keine Öffnungen. Die sichtbaren
Mauerkanten sind einheitlich über die gesamte Höhe in Werksstein
ausgebildet.
Beim Betreten des Gebäudes zeigt sich, daß sich das
Bauwerk im Inneren im wesentlichen in einen längsquadratischen Hauptkörper
und eine südlich angrenzende Nebenzone, in denen sich Vor- und Flurräume und
ein Treppenhaus befinden, aufteilt. Der Verlauf der Südwand des
mittelalterlichen Baukörpers zeichnet sich anhand der Wandstärke auch heute
noch deutlich im Inneren ab. In der etwa 1 m dicken Wand befinden sich zwei
Türöffnungen, durch die man von dem südlich gelegenen kreuzgratgewölbten
Flur einerseits in zur Straße gelegene Erdgeschoßräume des Kernbaus,
andererseits im hinteren Teil über einige hinabführende Stufen in einen mit
einer Ziegeltonne gewölbten Kellerraum gelangt, der die andere Hälfte des
Kernbaus einnimmt. Im Gewölbekeller sind an der östlichen Längsseite noch
einige größere Nischen sichtbar, die noch von einer früheren Nutzung des
Bauwerks als Gefängnishaus herrühren.
Aus der Tullner Häuserchronik 4
geht hervor, daß das Gebäude mit der Konskriptions-Nr. 163 bis 1899 als
Gefängnis und als Wohnung des Gerichtsdieners genutzt wurde. In diesem Jahr
kauft es der Schuhmachermeister Franz Hellmeister von der Stadt um 3500
Gulden ab. Vermutlich erfolgt zu dieser Zeit auch ein Umbau des Hauses. Nach
mehreren Eigentümerwechseln dient es von 1952 bis Mitte der 90er Jahre als
Sitz der Obersten Schiffahrtsbehörde und der Stromaufsicht Tulln. Heute
befindet es sich wieder in Privatbesitz.
Die 2002 freigelegte Nordwand des Gebäudes
Fischergasse 5 (Foto: Simon Paulus 2002)
Nach den Eintragungen in der Häuserchronik scheint die
Nutzung des Gebäudes als Stadtgefängnis und Gerichtsdienerhaus seit dem 2.
Drittel des 16. Jh. zu bestehen. Im Jahr 1562 kauft die Stadt nämlich ein
Haus von Hieronymus Steyrer, das allerdings als "gegenüber der
Judenschule" gelegen bezeichnet wird und richtet es als Stadtgefängnis
ein.5
Bis ins 19. Jh. liegen ansonsten nur wenige Eintragungen vor. 1839 wird in
der Häuserchronik von einem Neubau gesprochen, dessen Kosten 4263 Gulden und
48 Kreuzer betragen. Wahrscheinlicher ist jedoch nur ein Umbau des Gebäudes,
bei dem lediglich der Einbruch neuer Fensteröffnungen im 1. Obergeschoss und
vielleicht einige Umbauten im Inneren, so der Einbau eines Treppenhauses
sowie eine Neugestaltung der Fassade erfolgt.6
Das heutige Erscheinungsbild scheint im wesentlichen auf diesen Umbau
zurückzugehen. Angegeben werden für das Gefangenenhaus: 2 Zimmer, 1 Kammer,
2 Küchen, 2 Keller, einer davon mit Gefängniszellen. Dies deckt sich auch
mit der heutigen Anzahl der Räume. Bis heute erhalten geblieben ist der
westliche Kellerraum mit den Gefängniszellen. Der die andere Gebäudehälfte
einnehmende Kellerraum, der vermutlich ebenfalls tonnengewölbt war, wurde
wahrscheinlich nach dem Übergang des Gebäudes in Privatbesitz nach 1899
zugeschüttet und statt dessen die heutige Situation mit zwei ebenerdig
gelegenen Räumen geschaffen..
Zur Lokalisierung der Judenschule
Die Synagoge der mittelalterlichen Gemeinde wird in den
Stadtbüchern als Judenschule öfter genannt. Erstmals taucht sie im
Zusammenhang mit den landesweiten Judenvertreibungen 1420/21 auf. Nach
Vertreibung der Tullner Juden schenkt Herzog Albrecht V. sie im Jahre 1422
mit einigen umliegenden Häusern dem Wiener Dorotheakloster.7
Gegen 4 Pfd. Pfg. erwirbt sie vermutlich der damalige Tullner Stadtrichter
Michael Marchfelder d. Ältere vom Kloster St. Dorothea zu Wien und läßt sie
zu einem Wohnhaus umbauen.8
In den Eintragungen der Stadtbücher taucht die "judenschul" in den folgenden
Jahrhunderten bis das 18. Jh. hinein als Ortsbezeichnung häufig auf. Schon
im 15. Jh. wird mit der Ortsbezeichnung "in der judenschul" offenbar das
gesamte Areal der nach der Vertreibung 1421 beschlagnahmten Häuser und
Grundstücke bezeichnet. Dies äußert sich darin, daß verschiedene Häuser, so
auch das nach 1523 errichtete neue Rathaus auf einem der Grundstücke an der
Albrechtsgasse 1579 als "in der judenschuel" gelegen bezeichnet
werden, ebenso wie das hinter dem Rathaus angrenzende Grundstück.9
Zuletzt wird sie 1757 im Zusammenhang mit dem Erwerb des Grundstücks "in
der judenschul, dermalen ein Garten hinter dem Gerichtsdienerhaus an der
Stadtmauer..." (K.Nr. 541) durch den bürgerlichen Lebzelter Karl Specht
genannt.10
Auf demselben Gelände direkt an der Stadtmauer, wird 1521 ein Haus "entzwischen
der Stadtmawr und der Judenschuel" genannt, vermutlich das gleiche, was
1549 als "bey der Judenschull neben der Stadtmauer" bezeichnet wird.
Noch 1649 wird das gleiche Grundstück als hinter der Judenschule
gelegen beschrieben. Die hierauf befindliche Bebauung ist im um 1600
verödet, Anfang des 18. Jh. besteht hier eine Wachsbleiche.11
Nach dem Abbruch der Stadtmauern dient ein Teil dieses Grundstückes zur
Verlängerung der Fischergasse zum Donaugelände hin. Bis dahin endete die
Fischergasse als Sackgasse; vielleicht aber bestand durch eine kleine Tür in
der Stadtmauer ein direkter Zugang zur Donau.12
Dies hätte für die jüdischen Bewohner den Vorteil gehabt, über einen eigenen
Zugang zur Donau dort die rituellen Reinigungen durchführen zu können,
gleichzeitig würde es die im 16. Jh. vermehrt einsetzende Ansiedlung von
Fischern in der ehemaligen Judengasse erklären.
Der um 1823 angefertigte Franziszäische Katasterplan
zeigt auf dem gesamten Areal eine Bebauung, die weitestgehend noch die
Situation der frühen Neuzeit wiedergibt: An der Albrechtsgasse östlich des
Einganges zur Fischergasse befindet sich das 1722 neu erbaute Rathaus (K.Nr.
165), das die beiden 1523 und 1562 von der Stadt erworbenen Grundstücke an
der Albrechtsgasse besetzt; am westlichen "Eck gegen das Rathaus" ein
ebenerdiger einstöckiger Altbau (K.Nr. 162), bei dessen Abriß zugunsten
eines Neubaus 1990 im Kellermauerwerk ein größerer Münzschatz des frühen 14.
Jh. entdeckt wurde.13
Zwischen diesem Grundstück und "neben dem Gerichtsdienerhaus" steht
um 1830 ebenfalls ein ebenerdiger Altbau (K.Nr. 160): Aus dem Grundbuch geht
hervor, daß dieser Bau 1710 "abgeödet und alles niedergefallen" ist.
Das daraufhin neu errichtete Gebäude brennt 1805 ab und wird nochmals bei
dem Stadtbrand von 1840 beschädigt. Heute befindet sich hier ein etwas
zurückgesetzt liegendes ebenerdiges Kleinhaus, das an das ehemalige
Gerichtsdienerhaus angrenzt. Gegenüber dem Gerichtsdienerhaus, östlich der
Fischergasse liegt das Grundstück (K.Nr. 164), auf dem bisher der Standort
der Judenschule vermutet wurde. In den Quellen wird das dort vorhandene Haus
als 1565 als "ain behausung hinder gemainer stat Rathauß in der
Judenschuell sambt dem gärtlein an der statmauer hinaus gelegen"14
genannt. 1568 besteht es aus einer Stube, einem Stubenkammerl und einem
Fürhaus, dürfte also nicht besonders groß gewesen sein.15
Später scheint hier ein Neu- oder Umbau stattgefunden zu haben, denn 1874
besteht das Gebäude auf diesem Grundstück aus 2 Zimmern, 2 Kammern, 2 Küchen
und 1 Keller.16
Für den Neubau des Wohn- und Arrestantentraktes des k.k. Bezirksgerichtes im
Jahr 1898 wird das Haus zusammen mit dem benachbarten alten Rathaus von 1722
abgerissen. Heute ist hier das Schielemuseum untergebracht.
Nördlich dieses Grundstückes und des Gerichtsdienerhauses
schlossen sich das schon genannte Grundstück K.Nr. 541 an der Stadtmauer an.
Auffällig ist, daß es sich bei allen Gebäuden mit Ausnahme des
"Gerichtsdienerhauses" um niedrigere kleinere Gebäude handelt. Die
Erscheinung dieses Gebäudes in der Umgebung muss daher dominierend gewesen
sein. Als Synagoge käme daher am ehesten das ehemalige Gerichtsdienerhaus in
Frage. Die frühe neue Benennung des Gebäudes im 16. Jh. als
Gerichtsdienerhaus bzw. Gerichtshaus und die gleichzeitig stark präsente
Überlieferungstradition als Judenschule würde die unklaren und
durcheinandergehenden Grundstücksbeschreib-ungen in den Akteneintragungen
erklären.
Zugemauertes gotisches Lanzettfenster in der Nordwand
(Foto: Simon Paulus 2002)
Zur Rekonstruktion
Anhand des Befundes läßt sich das Aussehen und die Größe des gotischen
Baus in etwa wie folgt rekonstruieren: Der etwa 9.80 m breite, 11.40 m lange
und bis zur Traufe ungefähr 8 m hohe Baukörper aus verputzten
Bruchsteinmauerwerk besaß wie auf der Nordseite vermutlich auch an den
übrigen Seiten hoch ansetzende schmale Lanzettfenster. Unklar ist die
ursprüngliche Dachform: Denkbar ist im Gegensatz zu heute ein steiles in
Ost-Westrichtung orientiertes Satteldach mit gemauerten Giebeln oder aber
auch ein hohes Walmdach. Rückwärtig am Ende des Judengässleins an der
Stadtmauer gelegen, wurde das hohe Bauwerk von den Gebäuden an der
Hauptstraße, der jetzigen Albrechtsgasse verdeckt, überragte aber
wahrscheinlich die umgebende Bebauung deutlich.
Es ist zu vermuten, daß bereits damals das Gebäude von
niedrigen eingeschossigen Anbauten auf der Südseite, vielleicht aber auch an
der West- und Nordseite umgeben war. Die Lage des Eingangs und des Zugangs
zum Hauptbau läßt sich nicht eindeutig feststellen. Naheliegend ist aber,
daß man das Gebäude ähnlich wie heute über den südlichen Anbau von der Gasse
aus betrat und von dort aus durch den jetzigen Zugang zum Keller in den
Hauptraum gelangen konnte.
Zum Inneren sind nur sehr spekulative Aussagen zu
treffen: Sicher ist, daß die Kellergewölbe erst später, wahrscheinlich erst
im 17. Jh. oder 18. Jh. eingezogen wurden. Möglich ist aber einerseits, daß
das Gebäude ursprünglich schon zweigeschossig war und eine Holzbalkendecke
die Geschosse trennte. Wahrscheinlicher ist jedoch aufgrund fehlender
Fensteröffnungen in der Erdgeschoßzone, daß es sich ursprünglich um einen
hohen Saal handelte, der vielleicht - der Stärke der Mauer nach zu schließen
- auch gewölbt war. Ein in der Nordwand am Scheitel des Kellergewölbes
gelegener exponierter Stein könnte der Rest einer später abgeschlagenen
Konsole sein, die entweder einer der Ansätze Kreuzrippengewölbes gebildet
hat17 oder als Auflage für einen
Deckenbalken diente.
Die Abmessungen, die Höhe und die deutliche
Ost-West-Orientierung des Gebäudes mit den hoch ansetzenden Lanzettfenstern
sowie die Annahme, daß es ursprünglich nur einen - vielleicht gewölbten -
Saal beinhaltete, weist deutliche Parallelen zu Synagogenbauten des
Mittelalters in der Region rund um Wien auf.18
Zu nennen sind hier die noch erhaltenen Bauten in Korneuburg (1. Viertel 14.
Jh.), Bruck an der Leitha (1. Viertel 14. Jh.) und die Gemeindesynagoge in
Sopron (um 1300), die in etwa gleiche Raumproportionen und ein ähnliches
äußeres Erscheinungsbild zeigen. Auch die in Zeichnungen des 19. Jh.
dokumentierte mittelalterliche Synagoge der Mödlinger Judengemeinde (Mitte
14. Jh.) und die erste Bauphase der archäologisch nachgewiesenen Synagoge am
Wiener Judenplatz (2. Drittel des 13. Jh.) verfügten über eine ähnliche
Anlageform. Allen Bauten ist gemeinsam, daß sie eine Kreuzrippeneinwölbung
besaßen und der Raum von den Längsseiten, also von der Nordseite (Korneuburg,
Wien, Sopron) oder Südseite (Bruck) aus betreten wurden.
Tulln, Situationsplan um 1825 (Umzeichnung nach dem
Franziszäischen Katastarplan: Simon Paulus 2003)
Auffällig ist auch, daß das ursprüngliche Fußbodenniveau
bei dem Tullner Bauwerk bereits etwas tiefer gelegen haben muß. Ein Umstand,
der gerade im Synagogenbau eine sowohl kultische, wie auch pragmatische
Bedeutung haben konnte: Zum einen kann das Hinabsteigen in den Synagogenraum
als eine bildliche Interpretation des Psalms 130 "Aus der Tiefe, oh Herr,
rufe ich zu Dir..." verstanden werden. Zum anderen erreichte man damit eine
größere Raumhöhe, also auch einen sakralen Raumeindruck und kollidierte
nicht mit der von der christlichen Stadtobrigkeit oftmals gestellten
Bauvorgabe, die Synagoge als unauffälliges, nicht zu hohes Bauwerk zu
errichten. Dies äußert sich nicht zuletzt auch in der zurückgezogenen Lage
des Gebäudes, das - wie auch bei den meisten mittelalterlichen
Judensiedlungen im deutschsprachigen Raum nachweisbar - topographisch zwar
abseits der Hauptstraße, aber relativ zentral innerhalb des jüdischen
Wohnquartiers lag.
Mit seinen Innenraummaßen von 7,80 m x 9,50, also etwa 74
m2 besaß der Bau ungefähr die Größe der
ersten Bauphase der Wiener Synagoge (75 m2)
und war damit etwas kleiner als die Synagoge in Korneuburg (100 m2)
und größer als die Bauten in Bruck an der Leitha (48 m2)
und Sopron (54 m2). Zeitlich ist das
Tullner Bauwerk zwischen dem Bau der Wiener Synagoge und einige Jahre vor
dem Bau der Synagogen in Sopron, Korneuburg und Bruck a. d. Leitha
einzuordnen. Der Bau fällt damit in eine erste Blütezeit jüdischer Kultur im
Herzogtum Österreich und der Existenz einer nachweislich wohl größeren
jüdischen Gemeinde in Tulln, was sich nicht zuletzt in der eigenen
Schächtordnung aus dem Jahr 1267 und den seit dem 14. Jh. belegbaren, aber
sicher schon im seit Mitte des 13. Jh. eingesetzten eigenen Judenrichtern
zeigt.19 Auch die günstige Lage der
jüdischen Wohnquartiere in unmittelbarer Nähe zum östlich gelegenen alten
Marktplatz und an der im Hochmittelalter wichtigsten Verkehrsader der Stadt,
der heutigen Albrechtsgasse, läßt auf eine wichtige wirtschaftliche
Bedeutung der Gemeinde schließen.20 Ein
Bauwerk wie das nun wiederentdeckte gotische Gebäude in Tulln hätte einer
Zahl von etwa 50 - 60 Personen Platz geboten, eine Zahl, die die Tullner
Judengemeinde gegen Ende des 13. Jh. vielleicht erreicht haben könnte.
Anhand der schriftlichen Quellen ist eine genaue Aussage zur Gemeindegröße
nicht zu ermitteln. Im 14. und 15. Jh. nach den Pogromen von 1338, die
vielleicht auch die Tullner Gemeinde betroffen haben könnten, dürfte die
Zahl der jüdischen Einwohner jedoch zurückgegangen sein;21
gleichzeitig beginnt auch für die Stadt selbst der wirtschaftliche
Niedergang.
Mit der Vertreibung im Jahr 1420/21 endet die Geschichte
der mittelalterlichen Judengemeinde in Tulln. Mit dem hier beschriebenen
Bauwerk hätte sich nicht nur ein wertvolles Zeugnis mittelalterlicher
jüdischer Geschichte in Österreich, sondern auch ein bedeutendes Beispiel
des frühen aschkenasischen Synagogenbaus in Mitteleuropa erhalten. Zur
endgültigen Klärung der Geschichte und Bedeutung dieses Bauwerks könnten
vielleicht intensivere bauarchäologische Untersuchungen des Mauerwerks und
des umgebenden Areals sowie eine neuerliche Durchsicht und Überarbeitung der
Quellen beitragen.
1 Gedankt sei hier besonders dem Leiter des
Niederösterreichischen Landeskonservatoriats, Herrn Hofrat Dr. Peter König
für den wertvollen Hinweis auf dieses Gebäude, den Mitarbeitern und
Studierenden des Fachgebiets Baugeschichte Ulrike Eggert, Arne Herbote,
Katrin Keßler, David Rohr und Louise Wetzig für die aufopferungsvolle
Dokumentation des Gebäudes sowie den Besitzern für ihr großzügiges
Entgegenkommen.
2 Für die helfende Unterstützung bei der Erarbeitung
dieses Artikels gilt Herrn Dr. Roderich Geyer mein besonderer Dank, der
erstmals auf diese mögliche Funktion des Gebäudes aufmerksam gemacht hat
und über seine langjährige Forschungsarbeit zur Stadtgeschichte Tullns
wesentliche Erkenntnisse zur mittelalterlichen jüdischen Gemeinde
lieferte. Verwiesen sei auf: Geyer, Roderich: Die Tullner Judengemeinde,
in: Tulln im Spätmittelalter auf dem Hintergrund der
niederösterreichischen Landesgeschichte, Tulln 2000, Masch. Manuskript, 2
Bde, S. 72 76.
3 Geyer (2000), a.a.O. S.76; Lohrmann, Klaus:
Ortsartikel zu Tulln in: Germania Judaica, Bd. 3, Teilbd. 2, hg. v. Ayre
Maimon, Tübingen 1995, S. 1493; "Tullner Häuserchronik" bearb. v. Karl
Biack und Joseph Kristlbauer, Endfassung 1994, 4 Bde. Masch. Manuskript.
4 Die "Tullner Häuserchronik" bearb. v. Karl Biack und
Joseph Kristlbauer, Endfassung 1994, 4 Bde., Masch. Manuskript, geordnet
nach Konskriptionsnummern, basiert weitgehend auf dem bis in das 16. Jh.
zurückgehende Grundbuch der Stadt sowie Urkunden und Testamentsbüchern des
14. und 15. Jh..
5 Häuserchronik, K. Nr. 163, RP 1562 (überarb.).
Allerdings wird bereits 1561 das Gerichtshaus genannt. Vgl. Häuserchronik,
K. Nr. 160, GB 1561.
6 Häuserchronik, K. Nr. 163, GB 1839.
7 Biack O und Anton Kerschbaumer: Geschichte der Stadt
Tulln, 2. Aufl., Tulln 1966, S.265.
8 Häuserchronik K.Nr. 165.
9 Häuserchronik K.Nr. 164, GB 1565 "ain behausung
hinder gemainer stat Rathauß in der Judenschuell...
10 Häuserchronik K.Nr. 541, GB 1702, 1757.
11 Häuserchronik K.Nr. 541, GB 1601f, 1702.
12 In einem Eintrag von 1453 vermutlich zu einem
Gebäude auf dem Grundstück Fischergasse 2 heißt es: "...in dem gesslein an
der judenschuell beym türlein" Häuserchronik K.Nr. 164, AGB 1453 (überarb.).
13 Häuserchronik, K.Nr. 162, 1989. Möglich ist, daß
dieser Münzschatz im Zusammenhang mit der Judenverfolgung 1338 steht.
Vgl.: Geyer (2000), a.a.O. S.74/75.
14 Häuserchronik, K.Nr. 164, GB 1565
15 Häuserchronik, K.Nr. 164, GB 1565/1568
16 Häuserchronik K.Nr 164, GB 1874
17 Anhand der Lage der Konsole vielleicht zwei- oder
dreijochig.
18 Diese Gruppe wurde von Andrea Sonnleitner näher
untersucht. Dazu: Sonnleitner, Andrea: Mittelalterliche Synagogen im
ehemaligen Herzogtum Österreich, Magisterarbeit an der Universität Wien,
unveröffentl. Masch. Manuskript, 1998.
19 Geyer (2000), a.a.O., S.74.
20 Geyer (2000), a.a.O., S.73/74.
21 Geyer (2000), a.a.O., S.76.
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