DAVID: Hat Österreich seine Rolle im
Nationalsozialismus verdrängt?
K. Scholz: Es stimmt weder, dass Österreich seine
Rolle im Nationalsozialismus gänzlich verdrängt hat, noch stimmt es, dass
wir ausnahmslos nur Opfer waren. Aber die tagtägliche Vergegenwärtigung des
Grauens ist etwas, was viele Menschen überfordert. Ich würde das Verdrängen
nicht sofort mit Antisemitismus gleichsetzen. Aber es arbeitet ihm in die
Hände.
DAVID: Befasst sich Österreich also nicht nur infolge
des internationalen Drucks mit dem Restitutionsthema?
K. Scholz: Die ganze Restitutionsfrage ist natürlich
1999 - 2000 mit der Bildung einer neuen Regierung aufgebrochen. In meiner
Interpretation waren das Restitutionsübereinkommen, das die Regierung
Schüssel Riess-Passer mit den USA getroffen hat, sozusagen das
Eintrittsbillet dieser Mitte-Rechts-Regierung in die internationale
Akzeptanz. Daher wurde das Restitutionsthema paradoxerweise gerade von
dieser Regierung engagierter verfolgt als von manchen Regierungen vorher.
Seit dem Washingtoner Abkommen gibt es einen sehr kritischen Umgang mit
unserer Geschichte. Das sollte sich nach dem Bericht der
Historikerkommission, der unbedingt verbreitet und popularisiert gehört,
fortsetzen.
DAVID: Womit werden die enteigneten Opfer der
Arisierung entschädigt?
K. Scholz: Ich verwende das Wort "Arisierung" ungern,
denn es war ein systematischer Raub, der größte Raubzug der jüngeren
österreichischen Geschichte, und da gibt es auch für Wien einiges zu tun.
Wir tun das in Zusammenarbeit mit Bundesstellen, wo ehemalige
Wohnungsbesitzer bestimmte Beträge bekommen: Für einen kompletten geraubten
etwa Wohnungsinhalt 7600 . Für die Tatsache der Verfolgung bekommt man
einen einmaligen Betrag von 5000, die Zwangsarbeiter bekommen zwischen 3000
und 8000 . Das heißt: Es sind keine Wiedergutmachungen, sondern Gesten.
Gesten, mit denen man Menschen sagt: Wir haben nicht vergessen, was euch
geschehen ist, und wir wollen wenigstens mit einer symbolischen Summe
zeigen, dass uns das nicht ganz gleichgültig ist. Eine "Wiedergutmachung"
ist das nicht.
DAVID: Vor dem Anschluss gab es in Wien eine der
reichsten jüdischen Gemeinden Europas
K. Scholz: Wir lassen derzeit sämtliche 13.000
Liegenschaften der Stadt Wien von einer unabhängigen Historikerkommission
genau überprüfen. Uns interessiert, ob hier nicht bei den verschiedenen
Rückgaben nach 1945 unter Umständen das eine oder andere Grundstück
übersehen worden ist. Diese Recherchen sind eine riesige Arbeit diese
Forscherinnen und Forscher brauchen noch mindestens ein Dreivierteljahr
DAVID: Die Restitutionsaktion dauert aber nur bis
Ende 2004
K. Scholz: Auch ich höre den Wunsch vieler
Österreicher nach einem Schlussstrich, und dennoch bin ich nicht glücklich
damit. Denn die Geschichtsschreibung kennt nie einen Schlussstrich. Wir
kennen keinen Schlussstrich unter der Geschichte Napoleons, wir kennen
keinen Schlussstrich unter der Geschichte der Monarchie... Geschichte wird
immer neu geschrieben. Worauf es ankommt ist, dass man im Umgang mit der
eigenen Geschichte, und zwar gerade mit den problematischsten Epochen,
moralisch vertretbare Zwischenergebnisse erzielt. Und wenn man die
glaubwürdig erzielt hat, erübrigt sich diese ewige Forderung nach einem
"Schlussstrich".
DAVID: Was passiert aber mit den Menschen, mit den
Opfern? An wen können sie sich wenden?
K. Scholz: Man hat die Möglichkeit, sich an den
Nationalfonds der Republik Österreich zu wenden. Es gab Anzeigen in
Emigrantenzeitschriften. Darüber hinaus wurde auch in Publikationen der
österreichischen Botschaften geschrieben und in internationalen Medien, in
Inseraten, immer in der Hoffnung, dass diese Informationen weitergetragen
werden. Diese Informationstätigkeit darf nicht mit dem Jahr 2004 eingestellt
werden.
DAVID: Wie viele der Opfer wurden bis jetzt
entschädigt?
K. Scholz: Man hat bei den Zwangsarbeitern von zirka
120.000 Anspruchsberechtigten geredet. Tatsache ist, dass bis jetzt an
ungefähr 30.000 Personen ausbezahlt wurde. Vielleicht hat man die Zahl der
Zwangsarbeiter zu hoch eingeschätzt, oder viele dieser Menschen leben
irgendwo in der Ukraine oder in Bulgarien und haben diese Informationen
nicht bekommen. Ähnlich ist es auch bei den Wohnungen für die enteigneten
Wohnungen wurde an 20.000 Anspruchsberechtigte ausbezahlt. Dabei sind 60.000
Wohnungen enteignet worden.
Selbst mit diesen symbolischen Zahlungen erreicht man
heute nur ungefähr ein Drittel der damaligen Opfer. Daher ist es wichtig,
dass die Ansprüche auch auf die Angehörigen übergehen. Es darf nicht so
sein, dass mit dem physischen Ableben der Enteigneten der Anspruch erlischt.
DAVID: Gibt es eine Hierarchie in dem
Entschädig-ungsvorgehen?
K. Scholz: Ja, es gibt eine klare Hierarchie.
Zynischer Weise ist es genau die Überlebenshierarchie im
Nationalsozialismus. Dort gab es eine Opferhier-archie bis ins KZ. An der
"Spitze" der Opfer standen die nichtjüdischen politischen Gegner, sie hatten
noch eine minimale Chance, der Vernichtungsmaschinerie des NS-Systems zu
entgehen. Ganz unten standen die nicht deutsch sprechenden Juden aus dem
Osten. Wenn es im Nationalsozialismus eine Überlebenschance gab, dann war
sie höher, wenn man ein politischer Gegner war, und sie war ganz gering,
wenn man z.B. ein polnischer Jude war.
Diese klare Überlebenshierarchie hat sich meines
Erachtens auch in den Entschädigungszahlungen nach 1945 fortgesetzt. Die
politischen Organisationen, die im Nationalsozialismus verboten waren,
hatten nach dem Krieg einen leichteren Zugang zu den handelnden Politikern.
Daher haben sie am ehesten so genannte "Wiedergutmachungen" bekommen. Bei
den jüdischen Opfern war es schon schwerer. Die jüdische Gemeinde in
Österreich hat nach dem 2. Weltkrieg nie mehr als 10.000 Menschen umfasst.
10.000 Menschen sind kein wahlentscheidender Faktor, besonders dann , wenn
man sie mit einer halben Million ehemaliger NSDAP-Mitglieder vergleicht.
Dementsprechend wurden jüdische Ansprüche meist nur beachtet, wenn das
international gefordert wurde.
DAVID: Wie stehen Sie als Person zu Ihrer Arbeit als
Restitutionsbeauftragter?
K. Scholz: Als Stadtschulratpräsident war ich immer
der rote Stachel im Fleisch mancher konservati-ver Unterrichtsminister, mit
denen ich mich aber bis heute persönlich sehr gut vertrage. Die Wiener
Sozialdemokratie hat dann beschlossen, mich aus der Position als
Schulverantwortlicher zurückzuziehen und mich zum Restitutionsbeauftragten
zu ernennen. Ich entstamme der Nachkriegsgeneration, die immer noch durch
das Wellental gehen muss, das der Holocaust hinterlassen hat. Ich gehöre
noch zu einer Generation, die sich zu 70% mit der Vergangenheit beschäftigen
muss - freiwillig oder unfreiwillig. Vielleicht findet diese Generation zu
wenig Kraft findet für die Zukunft, weil die Reste der Vergangenheit auch 50
Jahre später noch so mächtig sind. Es ist aber genau die Zukunft, welche die
jüdische Gemeinde heute einfordert und ich finde zu Recht!
DAVID: Wünschen Sie also Ihren Kindern, dass sie sich
mit dem Holocaust nicht mehr beschäftigen?
K. Scholz: Heutzutage lernt man in den Schulen viel
über die Zeitgeschichte. Wie nachhaltig alle Dokumentationen, sind vermag
ich nicht zu sagen, aber wenn Sie wissen, dass heute der Bericht der
österreichischen Historikerkommission 14.000 Seiten umfasst, dann kann
niemand 14.000 Seiten lesen und sofort umsetzen. Es wird sicher Jahre
dauern, bis sich das in den Schulbüchern breiter abbildet. Aber es ist ein
Forschungsstand erreicht, hinter den niemand mehr zurückschreiten kann. Es
ist die Chance, zu einem neuen Aufbruch. Sie muss politisch großzügig
genutzt werden.