H. van Staa: Ich wurde als Kind eines
Technikers und einer Hebamme am 10. Juni 1942 in Linz geboren. Nach der
Matura am Gymnasium in Wels zog ich nach Innsbruck und studierte hier
Rechtswissenschaften, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Volkskunde und
Soziologie sowie Medizin. Ab 1970 arbeitete ich als geschäftführender
Gesellschafter am Institut für Landesentwicklung in den Bereichen Regional-
und Sozialforschung. 1974 wurde ich dann Universitätsassistent am Institut
für Alpenländische Land- und Forstwirtschaft der Universität Innsbruck und
leite dieses seit 1980 als Assistenzprofessor. Aus dieser Tätigkeit entstand
auch das international bekannte Studienzentrum für Agrarökologie, das ich
mit Unterstützung von Ing. Josef Willi aufbaute.
Meine politische Karriere begann 1989, als ich in den
Gemeinderat der Stadt Innsbruck gewählt wurde. Vier Jahre später gründete
ich mit Gleichgesinnten den politischen Verein "FÜR INNSBRUCK", der bereits
bei der Gemeinderatswahl 1994 als Überraschungssieger hervorging. Ich wurde
in der Folge mit 35 von 40 Stimmen zum Bürgermeister von Innsbruck gewählt.
Im Jahr 1995 wurde ich zum Fraktionsführer der ÖVP und
zum Vizepräsidenten des Österreichischen Städtebundes gewählt. Seit diesem
Jahr war ich auch Präsident der Städteplattform Österreich der ÖVP und
Präsident der Europäischen Regional- und Kommunalpolitischen Vereinigung der
Europäischen Volkspartei.
Ein Jahr später erfolgte die Wahl zum Vizepräsidenten der
Kammer der Gemeinden beim Europarat und am 26. Mai dann jene zum
Präsidenten.
2002 wurde ich dann zum Präsidenten des Kongresses der
Gemeinden und Regionen Europas beim Europarat gewählt. Seit dem
außerordentlichen Landesparteitag der Tiroler Volkspartei am 27. Oktober
2001 bin ich Landesparteiobmann der Tiroler Volkspartei. Beinahe genau ein
Jahr später, am 26. Oktober 2002, wurde ich zum Landeshauptmann von Tirol
gewählt und bin seitdem für die Bereiche Tourismus, europäische
Verkehrspolitik, Südtirol, Angelegenheiten der europäischen Integration,
Kultur, Universität, sowie Angelegenheiten der Bundes- und der
Landesverfassung zuständig.
DAVID: Können Sie uns das Verhältnis der Juden und
Christen in Tirol vor dem Zweiten Weltkrieg aus Ihrer Sicht schildern?
H. van Staa: Wir sind die Heimat für eine sehr kleine
jüdische Kultusgemeinde, obwohl Überlieferungen zufolge schon im 14.
Jahrhundert die ersten Familien nach Tirol kamen. Doch erst seit 1867 war es
für Juden möglich, ohne bürokratische Hürden ihren ordentlichen Wohnsitz in
Tirol zu beantragen. Die Zahl der Juden in Tirol war immer gering den
Höchststand erreichte sie im Jahr 1910, als 1624 Juden in Tirol lebten, was
einem Anteil von 0,2 Prozent an der Tiroler Bevölkerung entsprach. Im Jahr
1890 erfolgte die Errichtung der Israelitischen Kultusgemeinde und der Bau
der Synagoge in Innsbruck. Auch hier war sehr wohl jene Skepsis innerhalb
der Tirolerinnen und Tiroler spürbar, die auch das allgemeine Zusammenleben
kennzeichnete: Das Leben der Juden in Tirol war geprägt durch viele
Vorurteile seitens der Tiroler Bevölkerung und eine gewisse Distanz, die
jegliches Gemeinsame verhinderte. Diese unsichtbare Mauer wurde nicht
durchbrochen, sondern ab 1918 sogar zunehmend unüberwindbar. Neben dem Druck
auf die in kaufmännischen Bereichen tätigen Juden durch die Stagnation in
Tirol kamen auch die Forderungen des neuformierten Tiroler Antisemitenbundes
hinzu. Dieser wollte ein strenges Vorgehen bei der Erteilung des
Heimatrechtes für Juden, die Verweigerung von gewerblichen Konzessionen und
ein Grundkaufsverbot durchsetzen. Es war mitunter der abweisenden Haltung
der Tiroler Landesregierung gegenüber dem Tiroler Antisemitenbund zu
verdanken, dass diese Schritte nicht realisiert wurden.
Es war ein tragischer Fall, als Philipp Halsmann 1928 in
Innsbruck ohne jegliche Beweis bzw. Motiv zuerst wegen Mordes an seinem
Vater und dann wegen Totschlages verurteilt wurde. Der Fall Halsmann ist aus
meiner Sicht ein Sammelsurium aus Vorverurteilung, Antisemitismus und
beispiellosem Justizskandal. Erst nach zahlreichen Protesten,
Unterschriftenaktionen und dem persönlichen Einsatz von Prominenz aus Kunst
und Wissenschaft wurde Philipp Halsmann durch den damaligen
Bundespräsidenten Wilhelm Miklas begnadigt. Es war ein trauriges und
erschütterndes Ereignis für Tirol und für Österreich.
In der Zwischenkriegszeit wurde die Situation dadurch
"entschärft", dass die Juden in Österreich als staatlich anerkannte
Religionsgemeinschaft galten und Gesetze sowie Rechtsmittel für sie zur
Verfügung standen und ihre Position stärkten.
Die Entrechtung und Verfolgung der Juden durch das
nationalsozialistische Regime begann dann 1938 und auch in Tirol mussten
Juden ab diesem Zeitpunkt mit Benachteiligungen, Anfeindungen und
wirtschaftlicher Isolation leben. Diese Zeit, in der Tirol "judenfrei"
gemacht werden sollte und jüdische Häuser und Grundbesitze beschlagnahmt
wurden, fand ihren dunklen Höhepunkt in der Reichskristallnacht im November
1938. In Innsbruck wurde damals die Einrichtung der Synagoge zerstört, 18
Juden wurden verletzt festgenommen und vier wurden getötet. Unter ihnen auch
der damalige Leiter der Israelitischen Kultusgemeinde, Ing. Richard Berger.
Die Nacht vom 9. auf 10. November 1938 zählt zu den dunkelsten Kapiteln für
die Landeshauptstadt und ganz Tirol.
Wir müssen uns auch heute dessen bewusst sein, dass neben
den zahlreichen positiven Entwicklungen in unserem Land dieses traurige
Ereignis nie in Vergessenheit geraten darf und unseren Jungen aufgezeigt
werden muss.
DAVID: Durch die Initiative des Bischofs Stecher
wurden die Fresken in der Kirche von Judenstein übermalt. Stecher hat auch
sonst für den jüdisch-christlichen Dialog in Tirol viel geleistet. Seit
Kriegsende gibt es wieder eine kleine jüdische Gemeinde in Innsbruck. 1993
wurde die Synagoge in Innsbruck eröffnet. Wie beurteilen Sie heute das
jüdisch-christliche Verhältnis in Tirol aus Ihrer Sicht?
H. van Staa: Die Lüge von der Ritualmordlegende war
lange Zeit sicher mit sehr vielen Emotionen verbunden und verfestigte sich
somit als wahre Verleumdung. Doch die Fresken an der Decke wurden bis auf
ein Bild auf Initiative von Bischof Reinhold Stecher übermalt. Die letzte
erhaltene Abbildung zeigt drei Frauen und lässt nichts von einem Ritualmord
erkennen. Ich bin dankbar, dass unser ehemaliger Bischof in dieser Sache
entscheidend dazu beitrug, diese Legende und diesen ich würde sagen Kult
"abzuschaffen". Dass viele hinter diesem Weg standen zeigt die damalige
Abstimmung und die einstimmigen Beschlüsse innerhalb der Organe der Tiroler
Kirche, welche den Weg Stechers bestätigten.
Altbischof Reinhold Stecher hat mit seiner geraden und
toleranten Art vieles für die jüdische Gemeinde in Innsbruck und damit auch
in ganz Tirol geleistet. Dazu zählt beispielsweise auch, dass er bei der
Eröffnung der neuen Synagoge im Jahr 1993 in Innsbruck selbst anwesend war.
Für mich war das ein klares Zeichen der Solidarität und ein wichtiger
Schritt zur Integration.
Diese Integration ist für mich heute in allen Bereichen
spürbar. Vor allem junge Menschen leben diese beispielhaft vor. Heute tragen
viele Faktoren zum gewachsenen jüdisch-christlichen Verhältnis und
allgemein zum Miteinander verschiedener Kulturen - in Tirol bei: eine auf
Toleranz, Demokratie und Mitmenschlichkeit ausgerichtete Tiroler
Bildungspolitik, die Vielseitigkeit der freien und sehr kritischen Tiroler
Presse sowie eine integrationsfördernde Wirtschaftspolitik. In diesem Jahr
war ich bei der Zehn-Jahres-Feier der Innsbrucker Synagoge in der Sillgasse
dabei. Dieser Anlass zeigte eindrucksvoll, dass sich das Verhältnis von
einem distanzierten Nebeneinander zu einem respektvollen Miteinander
gewandelt hat. Ich bin der Meinung, dass heute weitgehend ein Klima der
Achtung, Toleranz und Akzeptanz in Tirol herrscht. Wichtig wird es jedoch
auch in Zukunft sein, die Geschichte in allen möglichen Bereichen ob in
der Kunst, in der Ausbildung oder in der Wissenschaft aufzuarbeiten und
vor allem der jungen Bevölkerung zu übermitteln.
Die Grundsätze der Tiroler Volkspartei fußen auf den
Prinzipien der Nächstenliebe, der Gerechtigkeit, der Freiheit und der
Toleranz. Wir stehen dazu, dass die Menschen in unserem Land das Recht
haben, ihren Heimatbegriff selbst zu definieren und mit Inhalten zu
erfüllen. Dabei kommt der Religion eine wichtige Rolle bei der Vermittlung
der persönlichen Werthaltungen zu. Dieser Leitsatz ist für uns auch Auftrag,
die Integration und das Miteinander weiter zu stärken.
DAVID: Was unternimmt das Land Tirol um
antisemitische Vorurteile entgegenzusteuern? Gibt es zeitgeschichtliche
Aufarbeitungen, wird regelmäßig in den Schulen Aufklärung betrieben? (z.B.:
Werden Sie sich für die Fördermittel des Landes einsetzen, um Projekte zu
unterstützen, die geplant sind: Geschichte der Juden in Tirol (2 Bände),
Materialhandbuch für LehrerInnen zu Geschichte der Juden in Tirol, Jüdischer
Friedhof in Innsbruck (Schulprojekt), Vermittlungsrundgänge für Schulen zur
jüdischen Geschichte in Innsbruck?)
H. van Staa: Wir werden die Maßnahmen zur Aufklärung
sowie die Förderung von Veranstaltungen und Projekten weiterhin nach Maßgabe
der budgetären Situation sicherstellen. Wir setzen uns das Ziel, das
jüdisch-christliche Verhältnis zu stärken und zu festigen. Zu unseren
Maßnahmen zählt unter anderem die ständige Förderung des Instituts für
Geschichte der Juden in Österreich durch das Land Tirol sowie die
Veranstaltungen und Publikationen des Instituts für Bibelwissenschaften,
beispielweise zusammen mit dem Katholischen Bildungswerk Tirol.
Auch Tirols Schülerinnen und Schüler setzen sich im
Rahmen des Schulunterrichts mit dem Thema "Juden in Tirol" auseinander und
tragen somit zur Aufarbeitung der Geschichte bei. Ich erinnere dabei zum
Beispiel an die Schüler der HTL Fulpmes, die 1998 ein Mahnmal am Innsbrucker
Landhausplatz kreierten, das junge Menschen dazu bringen soll, sich
verstärkt mit der Zeit des Nationalsozialismus in Tirol auseinanderzusetzen.
Ebenso muss man hier die Aktivitäten des Abendgymnasiums
Innsbruck erwähnen. Hier wurde etwa Projekt "Auf den Spuren des
Nationalsozialismus in Innsbruck" umgesetzt, das nun in der Folge zu einem
virtuellen Rundgang wurde. Dieser soll Interessierten und vor allem
Schülerinnen, Schülern und Studierenden einen Eindruck von diesem Teil der
Heimatgeschichte vermitteln und zudem auf die Möglichkeit eines
Stadtrundganges bzw. eines Rundganges im Jüdischen Friedhof aufmerksam
machen. Diese Rundgänge werden ab Frühherbst mit Unterstützung des Tiroler
Kulturservices allen interessierten Schulen angeboten.
Zu den Publikationen des Abendgymnasiums zählt auch das
Buch "Jüdische Geschäfte in Innsbruck Eine Spurensuche", das durch
umfangreiche Recherchen der Schülerinnen und Schüler entstand.
Die verschiedenen Aktivitäten erstrecken sich aber auch
auf Projekte und Veröffentlichungen der Gesellschaft für politische
Aufklärung, des Vereins Zeitlupe (Verein für Zeitgeschichte und Gegenwart in
Tirol) und des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck.
Auch im Bereich der Kunst, beispielweise in der Galerie im Taxispalais oder
im Rahmen der "tirolkultur", war das Thema "Juden in Tirol" immer wieder
Gegenstand von Ausstellungen in der Vergangenheit und wird es auch in
Zukunft sein. Einen Beitrag zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit
der Geschichte lieferte in diesem Jahr auch der Workshop im Tiroler
Bildungsinstitut zum Thema "Der Umgang mit dem Holocaust eine verdrängte
Geschichte Tirols" in Kooperation mit der Universität Innsbruck und der
Servicestelle Politische Bildung in Wien.
DAVID: Wie stehen Sie zur Frage der
Entschädigungszahlungen für jüdisches Gemeindeeigentum seitens der Länder
und des Bundes?
H. van Staa: Am 12. Juni 2002 wurde zwischen den
österreichischen Ländern und den Israelitischen Kultusgemeinden Österreichs
die Vereinbarung beschlossen, dass die Bundesländer 18 Millionen Euro für
die Entschädigung für in der Zeit vom 12. März 1938 bis 9. Mai 1945
zerstörtes und/oder geraubtes Vermögen der jüdischen Gemeinden, Vereine und
Stiftungen (Gemeinschaftsorganisationen) bereitstellen und diesen
Restitutionsbeitrag jeweils in fünf Jahresraten ausbezahlen. Entsprechend
dem Aufteilungsschlüssel hat das Land Tirol knapp 1,37 Millionen Euro
beizutragen. Nun wird die Hälfte dieses Gesamtbetrages, also 9 Millionen
Euro, als Soforthilfe zur Entschuldung der Israelitischen Kultusgemeinde
verwendet.
Ungeachtet dieser Entscheidung stehen wir dazu, dass
Länder und Bund einen Beitrag leisten sollen, um den Schaden vergangener
Enteignungen abzufedern. Wir sehen dies als unsere Verpflichtung gegenüber
den jüdischen Mitbürgern an und setzen damit auch ein Zeichen der
Solidarität. Tirol wird sich in gleichem Maße wie die übrigen
österreichischen Bundesländer an dieser Unterstützung beteiligen. Das
jüdische Leben soll sich bei uns entfalten können und dafür bedarf es
unserer auch finanziellen Unterstützung.
Das Interview führte Ilan Beresin im Juli 2003.