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Wilhelm Stiassny

und der Bebauungsplan für Tel Aviv (1909)

Ines SONDER

Im Stadtarchiv von Tel Aviv befindet sich die kolorierte perspektivische Ansicht eines Lageplanes mit dem Vermerk "Kolonie des Vereins Ahuzat Baith nächst Jaffa". Es ist einer von vormals vier eingereicheten Bebauungsplänen zur Gründung des jüdischen Wohnviertels Achusat Bajit, das 1910 den Namen Tel Aviv erhielt und als erster jüdischer Gartenvorort in Palästina landesweit bekannt wurde. Der Plan datiert auf den 15. April 1909 und trägt die handsignierte Unterschrift: Wilhelm Stiassny.

Perspektivische Ansicht des Bebauungsplanes für Achusat Bajit (Tel Aviv) von Wilhelm Stiassny (1909)

Die Architekturgeschichte kennt den seinerzeit namhaften Architekten und Baurat Wilhelm Stiassny wegen seiner zahlreichen im neoislamischen und neoromanischen Stil errichteten Synagogenbauten, darunter in Malaczka (1886/87) und Gablonz (1892) im heutigen Ungarn, in Weinberge zu Prag (1896-98), die orthodoxe Synagoge in der Leopoldgas- se 29 im II. Wiener Bezirk (1892/93) und der Wiener Neustadt (1902). Aber auch als Architekt zahlreicher Profanbauten in Wien, darunter das Rothschild-Spital in Währing, das Waisenhaus für Mädchen, das Blindeninstitut sowie Schulen, Fabriken, Friedhofshallen und mehr als einhundert Wohnhäuser (u.a. am Schottenring 25 und Weihburggasse 30).

Der 1842 in Preßburg (heute Bratislava) geborene Stiassny war jüdischer Abstammung. Zwischen 1857 und 1861 absolvierte er das Wiener Polytechnikum und studierte anschließend an der Akademie der bildenden Künste Architektur, unter anderem bei dem Dombaumeister von St. Stephan, Friedrich Freiherr von Schmidt. Als 24jähriger gründete er die "Wiener Bauhütte", der sich fast sämtliche Wiener Architekten anschlossen, sowie 1895 die Gesellschaft zur Erhaltung und Konservierung von Kunst und historischen Denkmälern des Juden-thums.

Zwischen 1878 und 1900 war er Mitglied des Wiener Magistrats und gehörte der Donauregulierungs-kommission sowie dem Vorstand der israelitischen Kultusgemeinde an. Zudem gründete er das erste Jüdische Museum der Stadt.

Wie kam der 66jährige dazu, den Bebauungsplan für ein jüdisches Stadtviertel nahe der alten Hafenstadt Jaffa zu entwerfen?

Stiassny war nicht nur in jüdischen wie nichtjüdischen Kreisen der Stadt Wien eine anerkannte Persönlichkeit, sondern auch innerhalb der sich formierenden zionistischen Bewegung. Hier galt er als "hervorragender Fachmann und Zionsfreund". Bereits Ende 1895 hatte der spätere Gründer der Zionistischen Weltorganisation, Theodor Herzl, wegen dessen weitreichenden Verbindungen zu "eifrigen jüdischen Agitatoren" Kontakt zu ihm aufgenommen. Selbst an praktischer Siedlungstätigkeit in Palästina interessiert – im Gegensatz zu Herzls rein politischer "Charterpolitik" – gehörte Stiassny im Mai 1904 zu den Mitbegründern des Jüdischen Kolonisationsverein zu Wien, dessen Präsident er bis zu seinem Tode war. Ihm gehörten namhafte Vertreter der Wiener jüdischen Kultusgemeinde, darunter ihr Präsident Alfred Stern, Oberrabbiner David R. von Guttmann sowie Mitglieder anderer jüdischer Vereinigungen an, wie der aktive Zionist und Architekt Oskar Marmorek. Der Verein sah seine Absicht darin, "allein oder in Verbindung mit anderen, gleiche Ziele erstrebenden Institutionen die planmäßige Ansiedlung von Juden in Palästina und seinen Nebenländern zu fördern". Anfang 1908 hielt Stiassny auf Bitte des Vorstandes einen Vortrag, in dem er ein Programm zur Tätigkeit des Vereins auf dem Gebiete der jüdischen Kolonisation in Palästina entwickeln sollte. Der Vortrag wurde im November 1909 als Denkschrift mit dem Titel Das Projekt zur Anlage einer Kolonie im Heiligen Lande oder in einem seiner Nebenländer gedruckt und an Vereinsmitglieder, Förderer sowie Interessierte versandt und erhielt auch in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums eine wohlwollende Besprechung.

Stiassny hatte sich bereits seit mehr als drei Jahrzehnten mit dem Studium des Heiligen Landes und Fragen der jüdischen Kolonisation beschäftigt. Sein umfassendes Wissen über Palästina und die Historie der jüdischen Siedlungen in Erez Israel erwarb er sich durch Forschungen in Quellenwerken, wie der Bibel und ihren mehrsprachigen Kommentaren, sowie zeitgenössischen Publikationen, darunter die Beschreibung von Palästina und Syrien in Baedecker’s Reisehandbuch oder das Palästina-Handbuch und Wirtschaftliche Tätigkeit in Palästina (beide 1907) des zionistischen Wirtschaftstheoretikers Davis Trietsch. Die in den ersten Kapiteln der Denkschrift gemachten detaillierten Angaben zur Geographie und Landeskunde Palästinas sowie allgemeine Grundsätze der jüdischen Kolonisation täuschen den Leser leicht über die Tatsache hinweg, dass Stiassny trotz vielfältiger Reisen im In- und Ausland selbst nie in Palästina war. Die innerhalb der Forschung zur Gründungsgeschichte von Tel Aviv bislang tradierte Auffassung, dass Stiassny den Auftrag für den Bebauungsplan von Achusat Bajit wahrscheinlich während eines Palästinaaufenthaltes erhalten habe, lässt sich nach neuesten Quelleangaben nicht bestätigen. Der in den Central Zionist Archives (CZA) in Jerusalem weitgehend erhaltene Briefwechsel zwischen Stiassny und Vertretern der Zionistischen Organisation belegt vielmehr, dass sich der Architekt im November 1908 von Wien aus persönlich an Otto Warburg, dem Vorsitzenden der Palästina-Kommission der Zionistischen Organisation, bzw. bei Arthur Ruppin, den Leiter des Palästina-Amtes in Jaffa, um den Auftrag bemüht und seine kostenlose Mitarbeit "im Dienst der Sache" anerboten hatte. Sein Angebot war kurze Zeit später dem Vorstand der Häuserbaugesellschaft Achusat Bajit – den Gründern des Viertels – vorgelegt und von diesem positiv aufgenommen worden.

Der Offerte Stiassnys vorausgegangen war zunächst die Bitte Arthur Ruppins an ihn und seinen Kollegen Oskar Marmorek, ihm in Zusammenhang mit der Erstellung des Bebauungsplanes für Achusat Bajit eine Liste von Fachbüchern und –zeitschriften zu übersenden, die sich mit Fragen der städtischen Terrainaufteilung und Bebauung befassten. Während Marmorek lediglich ein Buch empfahl, hatte Stiassny eine umfangreiche Auflistung zeitgenössischer Fachbücher zu städtebaulichen Fragen nach Jaffa übersandt, darunter Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen (1889) des Wiener Stadtplanungstheoretikers Camillo Sitte, Joseph Stübbens Der Städtebau (1890), Theodor Fischers Stadterweiterungsfragen (1903), Theodor Fritschs Die Stadt der Zukunft (1896), Ebenezer Howards Garden Cities of Tomorrow (1902) sowie die deutsche Erstauflage Gartenstädte in Sicht (1907).10  In seinem Anschreiben hatte er zudem angemerkt, dass die Lektüre dieser Werke zwar wertvolle Anregungen für den Laien wie den Fachmann brächte, gab jedoch ausdrücklich zu bedenken, dass dies allein noch nicht ausreiche, um den Plan zur Anlage eines Stadtviertels verfassen zu können. Hierzu seien allgemeine Grundsätze maßgebend, deren genaue Kenntnis Voraussetzung für eine rationelle Planverfassung seien. Eindringlich betonte er in seinem Brief, "daß die Lehre vom Städtebau eine besonders schwierige Wissenschaft ist, in deren Studium nur der fertige und praktisch erfahrene Techniker eintreten kann. Sie erfordert eine Summe von Kenntnissen, namentlich in kommunalpolitischer Hinsicht, die es nur wenigen Technikern möglich macht, auf diesem Gebiete arbeiten zu können."11 

Unzweifelhaft war es Stiassnys Berufsethos, das ihm – angesichts der Vorstellung, städtebauliche Laien konzipieren anhand von Fachbüchern eine Wohnsiedlung – auferlegte, seine Mitarbeit bei der Projektierung des Bebauungsplanes für die Gesellschaft Achusat Bajit anzubieten. Infolgedessen bat er Ruppin um Übersendung eines Lageplanes mit der Angabe diverser technischer Daten, um mit einer fachgerechten Planung des Stadtviertels beginnen zu können.12  Mit der Erstellung eines solchen Lageplanes war vor Ort in Palästina der aus Deutschland stammende Landvermesser Josef Treidel beauftragt worden, der in Haifa ein Land-vermesserbüro betrieb. Der Anfang Januar 1909 fertiggestellte Plan erreichte am Ende des Monats Wilhelm Stiassny in Wien, der sich unverzüglich an die Erstellung des Bebauungsplanes machte.13 

In Jaffa lagen unterdessen die anderen bereits eingereichten Pläne vor, darunter eine Gemeinschaftsarbeit des Architekten Joseph Barsky, dem späteren Erbauer des Hebräischen Gymnasiums in Tel Aviv, und Boris Schatz, dem Gründer der

Bezalel-Kunstakademie in Jerusalem, ein weiterer nicht erhaltener Entwurf des Ingenieurs Abraham Goldmann, sowie ein von Treidel selbst projektierter Situations- und Bebauungsplan. Letzterer wurde auf der Generalversammlung von Achusat Bajit Mitte Februar 1909 nach eingehender Beratung unter den Mitgliedern in abgeänderter Form als Bebauungsplan des Wohnviertels angenommen und vom Jüdischen Nationalfonds in Köln, der den Verein Achusat Bajit mit einem umfangreichen Darlehen zum Häuserbau unterstützte, sanktioniert. Die Bestätigung des Bebauungsplanes führte am 11. April 1909 zum Akt der Grundstücksverlosung unter den 60 Vereinsmitgliedern auf einem 22 Hektar großen Gelände 2 Kilometer nordwestlich in den Dünen vor Jaffa. Es war die Geburtsstunde von Tel Aviv.

Grundsteinlegung von Achusat Bajit am 15. April 1909

Wilhelm Stiassny in Wien wurde über diese Entwicklung bzw. den definitiven Abschluss der Planungsphase nicht informiert. Besonders tragisch erscheint dies vor dem Hintergrund seiner eigenen Briefe nach Jaffa, in denen er Ruppin seit Ende März über die bevorstehende Beendigung seiner Planungsarbeiten auf dem Laufenden hielt.14 

Bebauungsplan von Stiassny (1909)

Sein Plan zur Errichtung einer städtischen Colonie für den Verein Achuzath Baith nächst Jaffa, den er zusammen mit der perspektivischen Ansicht Ende April 1909 nach Jaffa übersandte, datiert auf den 15. des Monats – vier Tage nach der Gru-ndsteinlegung des Viertels. Anfang Mai bestätigte Ruppin die Ankunft der Pläne. Eine in-

haltliche Reaktion blieb indes aus. Noch Ende Mai ersuchte Stiassny Ruppin um Nachricht, welche Aufnahme seine Entwürfe durch den Verein gefunden hätten und erklärte sich zudem bereit, gegebenenfalls Abänderungen vorzunehmen.15  Ein diesbezüglicher Antwortbrief ist nicht erhalten. Kurze Zeit später veröffentlichte der Vorstand von Achusat Bajit im zionistischen Zentralorgan Die Welt eine Danksagungen an Stiassny, in denen der "opferfreudigen und uneigennützigen Leistung des hervorragenden Meisters" gedankt wurde.16 

Stiassnys Bebauungsplan für Achusat Bajit ist der erste überlieferte Entwurf für eine jüdische Gartenstadtanlage in der Stadtplanungsgeschichte Erez Israels. Ein planerisches Novum stellte hierbei vor allem der einheitliche architktonische Gesamtcharakter des Viertels und die moderne Typen-hausbebauung dar (Stiassny hatte drei verschiedene Haustypen entworfen), die wegen ihrer wirtschaft-lichen und künstlerischen Vorteile auch für europäische Gartenstädte prägend war. Die kubische Bauform der Häuser und öffentlichen Einrichtungen mit ihren begehbaren Flachdächern und der Zinnenbrüstung sind deutlich lokalen Vorbildern entlehnt. Die architektonische Ausnahme bildet hierbei die Synagoge, deren Bauordnung Bezüge zu Stiassnys Formenvokabular im europäischen Synagogenbau aufweist.

Tel Aviv, Herzlstraße um 1910

Die später gebaute Realität von Tel Aviv zeigte jedoch ein anderes Bild. Zwar kamen in Einzelfällen Stiassnys Typenhäuser zur Anwendung, ein Blick auf die ersten Häuser in der Herzlstraße um 1910 lässt jedoch eine deutliche Vorliebe für die aus Europa bekannten ziegelgedeckte Walm- und Zeltdächer erkennen. Zudem illustriert die von einem individuellen Stileklektizismus geprägte Bauart der Häuser, bei der europäische und orientalische Formelemente gleichermaßen Verwendung fanden, den markantesten Unterschied zu Stiassnys einheitlicher Gartenstadtbebauung.

15 Jahre später, zu einem Zeitpunkt als sich der einstige Vorort schon zur "ersten jüdischen Stadt" entwickelt hatte, resümierte Arthur Ruppin über die Probleme bei der Planung von Tel Aviv: "Schließlich darf nicht vergessen werden, daß die Gründung von Tel-Awiw überhaupt den Beginn einer jüdischen Bautätigkeit im Lande bedeutete. (...) Niemand hatte an so etwas wie einen Stadtplan gedacht. Es waren im ganzen Lande keine europäischen Ingenieure mit Kenntnissen in Architektur oder Städtebau vorhanden. Die ganze Anlage von Tel Aviv war deshalb in den Händen der Siedler selbst, die natürlich über keine fachliche Vorbildung verfügten."17 

Ruppins Rückblick entspricht nicht ganz der historischen Wahrheit, denn mit den Entwürfen von Wilhelm Stiassny besaßen die Mitglieder von Achusat Bajit einen von einem Architekten fachmännisch angefertigten Bebauungsplan. Warum man in Jaffa nicht auf die Fertigstellung der Entwürfe aus Wien gewartet hatte und vorfristig an die Bestätigung eines eigenhändig entworfenen Planes gegangen war, bleibt die große Unbekannte an der Planung des ersten jüdischen Gartenvorortes in Palästina.

15 Monate nach der Fertigstellung seines Entwurfes starb Wilhelm Stiassny 67jährig in Bad Ischl. Das Stadtarchiv von Tel Aviv ist im Besitz einer der letzten Arbeiten des Architekten, dessen Verwirklichung sein Lebenswerk hätte krönen können.

 

1 Zur Gründungsgeschichte von Tel Aviv: Yossi Katz. "’Ahuzat Bait’ Association 1906-1909: Laying the Foundation for Tel Aviv." Cathedra 33 (October 1984), 161-191 [Hebr.], ders. "Ideology and Urban Development: Zionism and the Origins of Tel-Aviv, 1906-1914." Journal of Historical Geography 12 (1986), 402-424; Edina Meyer-Maril. "Europäische Städtebauideen in Palästina 1909-1939. Das Beispiel Tel Aviv." Architectura 22 (1992), 135-148.

2 Warburg an Ruppin, 6.11.1908, CZA L2/7.

3 Theodor Herzl. Zionistisches Tagebuch, 1895-1899. Berlin 1983, 275.

4 "Die Gründung eines jüdischen Kolonisationsvereins für Palästina in Wien." Altneuland 12 (1904), 376f; "Der österreichische Kolonisationsverein." Palästina 3-6 (1903/04), 232-236.

5 U. Brettholz. "Zur Anlage einer Kolonie im Heiligen Lande oder einem seiner Nebenländer, von k.k. Baurat Wilhelm Stiaßny." Allgemeine Zeitung des Judenthums (20.5.1909), 238f.

6 Die Forschung folgt dabei Asher Druyanow. Book of Tel Aviv. Tel Aviv 1936 [Hebr.].

7 Stiassny an Warburg, 2.11.1908, CZA L1/51; Stiassny an Ruppin, 2.11.1908; Warburg an Ruppin, 6.11.1908, beide CZA L2/71.

8 Palästina-Ressort der Zionistischen Organisation an Stiassny, 13.12.1908, CZA L1/51.

9 Ruppin an Stiassny, 7.10.1908; Stiassny an Ruppin, 2.11.1908; Marmorek an Ruppin, 30.10.1908, CZA L2/71.

10 Stiassny an Warburg, 2.11.1908, CZA L1/51; sowie die Liste in dem Brief von Warburg an Ruppin, 6.11.1908, CZA L2/71. Marmorek hatte lediglich Joseph Stübbens Handbuch Der Städtebau (1890) empfohlen.

11 Stiassny an Warburg, 2.11.1908, CZA L1/51.

12 Stiassny an Ruppin, 2.11.1908, CZA L2/71.

13 Stiassny an Ruppin, 29.1.1909, CZA L2/71.

14 Stiassny an Ruppin, 30.3.1909, 8.4.1909, CZA L2/71.

15 Stiassny an Ruppin, 27.4.1909; 30.5.1909, CZA L2/71.

16 "Danksagung an Wilhelm Stiassny." Die Welt 25 (18.6.1909), 545.

18 Arthur Ruppin. "Die erste jüdische Stadt. Tel-Awiw, seine Entwicklung und Zukunft." Jüdische Rundschau 18 (3.3.1925), 161f.

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