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"Das Gestern liegt in Scherben"
Eine Visite bei Israels deutschsprachigen Autoren

Armin A. WALLAS s. A.

Israels deutschsprachige Schriftsteller leben in ständiger Ambivalenz. Auf der einen Seite sind sie tief in der mitteleuropäischen Kultur verwurzelt, auf der anderen Seite müssen sie das Leben in ihrer alt-neuen Heimat nicht nur schreibend bewältigen. Ins Land sind sie als überzeugte Zionisten gekommen, als Flüchtlinge oder Einwanderer. Die Verbundenheit mit den Ländern ihrer Herkunft äußert sich im Festhalten an der deutschen Sprache. Die Sprache, einer Aussage Friderike Maria Zweigs zufolge, "ein Gebiet, aus dem man nicht vertrieben werden kann", erfüllt nicht bloß die Funktion eines Kommunikationsmittels, sie ist auch ein Medium der Identitätsstiftung.

Nach ihrer Ankunft in Israel befanden sich die deutschsprachigen Schriftsteller in einem geistigen Vakuum. Deutsch galt als Sprache der Nazis, als verpönte Sprache. Literaten wie Else Lasker-Schüler, Mascha Kaleko, Josef Kastein, Simon Kronberg, Manfred Sturmann, Moshe Ya‘akov Ben-Gavriel (geboren in Wien als Eugen Hoeflich), Max Zweig oder Werner Kraft lebten und arbeiteten in der Isolation, teilweise ins hebräische Kulturleben integrieren konnte sich Max Brod.

Es gab und gibt zwar deutschsprachige Zeitungen in Israel, Martin Feuchtwanger und Hugo Gold gründeten Verlage für deutschsprachige Veröffentlichungen, es gelang den Autoren jedoch nur in seltenen Fällen, in Kontakt mit dem deutschen und österreichischen Kulturleben der Nachkriegszeit zu treten. Die meisten Texte wurden für die Schublade produziert.

Im Schreiben lebt die Erinnerung

Das zunehmende Interesse für die deutschsprachige Literatur in Israel ist zwar erfreulich, kann aber über die Versäumnisse der Nachkriegszeit nicht hinwegtäuschen. Manchen Autoren gelang es zwar, ein wenig aus ihrer Isolation zu treten und ein deutschsprachiges Publikum zu finden, für viele kam es aber zu spät. So paradox es klingen mag: Das Gefühl der Zugehörigkeit zu den kulturellen Traditionen ihrer Herkunftsländer ist Teil der israelischen Identität der Autoren.

Israel, Ziel der Alija, des "Aufstiegs" ins Land der Väter, jahrhundertelanges Sehnsuchtsland der Juden in der Diaspora, bedeutet für sie einen Ort des Asyls, der Geborgenheit, zugleich lebt in ihnen die unauslöschliche Erinnerung an die Leidensgeschichte des jüdischen Volkes. Die Erinnerung an Europa gestaltet sich als ein Akt des Rückbesinnens auf Kindheitslandschaften, eine Rückbesinnung allerdings, die gebrochen ist durch die ständige Präsenz des erlittenen Schreckens. Als Opfer und als Zeugen der Shoah beschreiben die Autoren persönlich erlebte Zeitgeschichte. "Bewahrung des Gedächtnisses" – so könnte man die Leitlinie ihres Schreibens benennen.

Die Komplexität ihrer jüdischen und israelischen Identität äußert sich im Bewußtsein der Zugehörigkeit zu Israel bei gleichzeitiger Bewahrung der Galuth-Sprache, die – paradoxerweise oder auch nicht – als Medium dient, um über jüdische und israelische Themen zu sprechen.

Exemplarisch bringt Meir Faerber, der 1908 in Mährisch-Ostrau geboren wurde und 1934 als Zionist in Palästina eingewandert ist, diesen Aspekt einer mehrfachen Identität zum Ausdruck: "Es gibt Kollegen, die sehr an ihrer deutschen Herkunft hängen und die sich auch in Israel als Beinahe-Ausländer fühlen. Ich hingegen bin durch eine traditionelle hebräische und jüdische Erziehung so stark im Judentum verankert, daß mir die Übersiedlung nach Israel als Heimkehr nach Hause erschienen ist. Daß ich trotzdem hängengeblieben bin an der deutschen Sprache, hängt zum Teil mit der Situation des hebräischen Büchermarktes zusammen. Meine Bücher sind, auch wenn ich sie in deutscher Sprache schreibe, voll von jüdischem Inhalt und hebräischen Geist."

Im Unterschied zu Faerber kam der im Jänner 1992 verstorbene Doyen der deutschsprachigen Literatur in Israel, Max Zweig, eher zufällig ins Land. Der 1892 im mährischen Proßnitz geborene Dramatiker reiste 1938 zur Uraufführung seines Dramas "Die Marranen" nach Palästina. Da in der Zwischenzeit deutsche Truppen in die Tschechoslowakei einmarschiert waren, gab es für ihn keine Rückkehr mehr. Er litt unter dem "Schmerz des Schriftstellers, der die Gewißheit besitzt, aus dem Bereich seiner Muttersprache auf ewig verbannt zu sein". In seinen Dramen stellt Zweig urjüdisches Schicksal von der biblischen Zeit ("Saul") über die Leidensgeschichte in der Diaspora ("Die Marranen") und den Holocaust ("Ghetto Warschau", "Aufruhr des Herzens") bis hin zum Aufbau des jüdischen Gemeinwesens in Palästina ("Davidia") dar. Mit seinen Dramen schuf Max Zweig einen Gründungsmythos des Staates Israel. Zur Tragik des in deutscher Sprache schreibenden Schriftstellers gehörte es aber, dass sein Schaffen – bis auf wenige Ausnahmen – ohne Widerhall blieb.

Die Anforderung, mehrmals im Leben sich einer neuen Sprache, dem Leben in einer neuen, ungewohnten Umgebung anpassen zu müssen, erklärt die Multikulturalität der Autoren und das häufige Phänomen der Zwei- und Mehrsprachigkeit. Vor allem schreibende Frauen sind es, die ihre Texte mehrsprachig verfassen. Eine von ihnen, die in Stettin geborene Lyrikerin Lilit Pavell, kam 1933 als Zionistin nach Palästina. Bemerkenswert ist, dass sie zunächst begann, Lyrik in englischer Sprache zu schreiben und erst später, seit 1970 auf deutsch.

Ausgelöst wurde ihr Schreiben in deutscher Sprache durch eine Reise nach Deutschland: Ausgesetzt der Erinnerung an Vergangenes schrieb sie hier ihr erstes deutschsprachiges Gedicht mit dem bezeichnenden Titel "Vergessene Kindheit". Das Schreiben versteht Lilit Pavell als Akt des Widerstandes gegen "Vergänglichkeit" und "Vergeblichkeit".

Der Klang von alten Trauermärchen

Else Keren wurde in Czernowitz geboren. Zwischen 1947 und 1950 lebte sie in Paris, seither in Israel. Ihre Texte, die sie im Lyrikband "... dann ging ich über den Pont des Arts" (1983) sowie in Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht hat, faszinieren durch die Intensität des lyrischen Ausdrucks. Else Kerens Gedichte und Prosaminiaturen verdichten Erlebtes, Gedachtes und Gefühltes in ausdrucksstarke, gebrochene Sprachbilder. Assoziationen, Gedankenfragmente öffnen Einblick in Bewußtseinszustände, die einem immanenten Gefühl der Bedrohung ausgesetzt sind.

Die Texte evozieren den "Klang von alten Trauermärchen", Erinnerung gestaltet sich als Archäologie des Leidens. Das Gedicht wird zu einer Instanz der Erinnerung, die in Ausweglosigkeit mündet, der es überlassen bleibt, Fragmente der Zerstörung, die Scherben des Gewesenen einzusammeln und zu benennen, etwa in "Die Schale zerbrach":

"Die Schale zerbrach / das Klirren verfängt sich / in den Falten / der Stille / und die Waage kommt / in das Zeichen Schuld / Das Gestern liegt in Scherben / glitzerbunt verloren / Ich sammle sie / in meine Urnen."

Hanna Blitzer wuchs in Oberschlesien auf und wanderte 1933, 18jährig, nach Palästina aus. Ihre Texte liegen in den Bänden "Staub und Sterne" (1982), "Lyrik" (1984) und "Noch ein Akkord" (1987) vor, 1988 erschienen ausgewählte Gedichte auch in hebräischer Übersetzung. Hanna Blitzers Lyrik wird von zwei Themen geprägt, dem Bemühen um die Bewahrung des Gedächtnisses und der Konfrontation zwischen der Erinnerung an die Kindheit in Europa mit der Beschreibung des Lebens in Israel.

Im Versuch zur literarischen Identitätsfindung evoziert die Lyrikerin Bilder aus ihrer Kindheit, die scheinbare Idylle erweist sich jedoch als gebrochen – der Ort der Kindheit enthüllt sich als Todesstätte, über die der Rauch aus den Krematorien von Auschwitz weht:

"Europa, / Landschaft meiner Kindheit, / Kastanienbäume / mit Blätterkronen breit, /schattige Platanenalleen, / Gärten, / in denen Kirsch- und Apfelbäume stehn, / Häuser, / an deren Fenstern Geranien blühn, / Landstraßen, / gesäumt von Birken in zartem Grün, / Bäche so kristallklar, /Europa, / das die Landschaft meiner Kindheit war, / aber Dein Himmel, Europa, so schwarz, / vom Rauch der Gräber / in der Luft, / verweste Deiner Blumen / Duft."

Schreiben versteht Hanna Blitzer als eine symbolische Handlung – "Ein Zeichen setzen" -, ihre Texte offenbaren sich gleichermaßen als existentielle Überlebens-Zeichen des zwischen imaginären Orten wandernden schreibenden Subjekts und als Mahn-Zeichen der beständigen Erinnerung an das Geschehene. Die Autorin ist sich bewusst, "zwischen zwei Kulturen zu leben", gerade hierin erblickt sie aber eine Bereicherung, "denn ich glaube nicht, dass eine monolithische Kultur fruchtbar ist".

Am intensivsten mit der Problematik des modernen Israel befaßt sich die Erzählerin Mirjam Michaelis. Geboren wurde die Autorin 1908 in Berlin, 1934 schloß sie ihr geisteswissenschaftliches Studium ab, in Berlin begegnete sie Erich Mühsam und Karl Otten, zwischen 1935 und 1938 leitete sie Jugendalijagruppen, die sich in Deutschland, Holland und Dänemark auf die Einwanderung nach Palästina vorbereiteten, 1938 wanderte sie selbst ein und gründete mit Freunden den Kibbuz Dalia.

Ihre Erzählungen, die in deutscher und hebräischer Sprache erscheinen (zuletzt veröffentlichte sie den Band "Ein Brief an Ophira"), zeigen ein umfassendes Panorama des Lebens in Israel. Die Situation der Einwanderer aus unterschiedlichen Kulturen, das Verhältnis zwischen den aus Europa eingewanderten aschkenasischen und den aus dem arabisch-orientalischen Kulturkreis kommenden sephardischen Juden, das Alltagsleben im Kibbuz, der israelische Kulturbetrieb und immer wieder das Aufbrechen der Erinnerung an die Leidensgeschichte des jüdischen Volkes sind ständig wiederkehrende Themen im Oeuvre der Erzählerin. Beobachtungen und Erlebnisse aus dem Bereich des Alltäglichen geben Anlaß zur fiktionalen Beschreibung von Lebensgeschichten und Bewußtseinszuständen, die in ihrer Unterschiedlichkeit und Widersprüchlichkeit die Komplexität der israelischen Identität zum Ausdruck bringen. Die Texte, die von Kibbuzniks, Musikern, Einwanderern und im Lande geborenen Israelis erzählen, zeigen Israel als ein Land, das wie kein anderes von Geschichte geprägt ist und für dessen Selbstverständnis die Erinnerung unabdingbar ist.

Als ihr "sechstes Leben" bezeichnet die aus Wien stammende Psychologin, Schriftstellerin und Übersetzerin Anna Maria Jokl ihr Leben in Israel. Nach Wien, Berlin, Prag, England, Ost- und Westberlin fand sie 1965 den Weg nach Jerusalem. Aufgewachsen in einem nicht-religiösen Elternhaus, war ihr das Judentum eine Selbstverständlichkeit, bewußter wurde ihr die jüdische Identität durch die Shoah, die als "Zeitenwende", als "ständige Situation" im Zentrum ihres Bewußtseins steht. Das Erlebte ist ständig anwesend. "Aber man vergißt nichts, nichts. Man ist alles Gewesene, die Verschmelzung aller Abläufe in Gleichzeitigkeit."

Die Befassung mit der hebräischen Sprache, mit ihrer Essenz und der Assoziationsvielfalt des einzelnen Wortes, hat ihr eigenes Schreiben mitgeprägt. In den "Essenzen", die demnächst als Buch erscheinen, gestaltet sie prägnante, auf das Wesentliche reduzierte Erzähltexte. Gute Sprache entsteht ihrer Auffassung nach aus der Brechung von Sprache. Wenngleich die Erfahrung des Nationalsozialismus ihr Verhältnis zum Deutschen nicht belastet hat, hat sie es während ihres Aufenthalts im Nachkriegsdeutschland doch unterlassen, literarische Texte in deutscher Sprache zu verfassen, erst in Israel wurde es ihr wieder möglich, sich am literarischen Leben in Deutschland zu beteiligen.

"Wir sind vergessene Menschen hier"

Mit diesen Beispielen sind erst einige wenige Aspekte und Persönlichkeiten der deutschsprachigen Literatur in Israel vorgestellt. Wie reichhaltig diese gerade in Österreich nahezu unbekannte Literatur ist, zeigt schon die bloße Aufzählung von Namen weiterer Autoren wie etwa Jenny Aloni, Schalom Ben-Chorin, Schlomo Erel, Herbert Freeden oder David Neumann, der aus dem Burgenland stammende Lyriker. Des weiteren Benno Fruchtmann, Arie Efrat, Salomea Mischel-Grünspan, Ephraim Pistiner, Josef N. Rudel, Josef Hans Speer und andere.

In Jerusalem leitet Annemarie Koenigsberger die Gruppe "Lyris", der unter anderem Magali Zibaso und Manfred Winkler angehören. "Lyris" veranstaltet regelmäßige Zusammenkünfte, auf denen die Mitglieder ihre Texte vortragen, und gibt eine gleichnamige Lyrikanthologie heraus, von der bisher vier Bände erschienen sind.

Als die vielleicht interessanteste Erscheinung der deutschsprachigen Literatur in Israel kann Elazar Benyoetz gelten, der durch eine Reihe von Aphorismen-Bänden hervorgetreten ist – zuletzt erschienen die Bücher "Treffpunkt Scheideweg" (1989) und "Filigranit" (1992). Geboren 1937 in Wiener Neustadt, kam Benyoetz mit seinen Eltern als Zweijähriger nach Palästina, wuchs mit der hebräischen Sprache auf und publizierte erste Lyrikbände in Hebräisch. In der Absicht, über das Schaffen deutsch-jüdischer Schriftsteller zu forschen und ihre Werke zu übersetzen – gleichsam ins Hebräische "heimzuführen" – lernte er Deutsch und begab sich zu einem Studienaufenthalt nach Deutschland.

Er sammelte Material, forschte unter anderem über Else Lasker-Schüler und Annette Kolb und gründete das Forschungsinstitut "Bibliographia Judaica" in Frankfurt am Main. Und nun geschah das Unvorhergesehene, der rational nicht zu erklärende Vorgang, daß Benyoetz von den toten Schriftstllern "ins Deutsche geholt" wurde. Er empfand es als seine Verpflichtung, deutschjüdische "Symbiose" und deutsch-jüdische Trennung in deutscher Sprache nachzuzeichnen und der deutschen Sprache durch das Wiederbewußtmachen ihrer verlorengegangenen jüdischen Quellen und jüdischen Assoziationen die "nomadische Beweglichkeit" zurückzugeben.

Der Versuch einer sprachlichen Neuschöpfung der deutsch-jüdischen "Symbiose" ist jedoch durch das ständig vorhandene Bewußtsein ihres Zerbrechens gefährdet, ein solcher Versuch bleibt (und muß es bleiben) fragmentarisch. In Elazar Benyoetz` Ein-Sätzen, die zugleich komprimierte Weltbilder und Zeichen der Verunsicherung darstellen, trauert die deutsche Sprache. Die Sprache wird zum subtil verwendeten Instrumentarium auf der Suche nach der eigenen, jüdischen Identität des Autors. Im Prozeß der Sprach-Arbeit und der Sprach-Kritik vollzieht sich jedoch zugleich eine präzise Analyse des Verhältnisses zwischen Juden und Deutschen, eines "Scheideweges", der in die Katastrophe des Holocaust geführt hat.

Die deutschsprachige Literatur in Israel ist eine Literatur der Erinnerung. Als Zeugen der Vernichtung sind die Autoren dem Gefühl der Verunsicherung, der Unbehaustheit, der ständigen Gefährdung ausgeliefert. Ihre Versuche zur literarischen Bewältigung des Erlebten und Erlittenen sind häufig gekennzeichnet vom Bemühen, einer dissonanten Welt eine Vision von Humanität entgegenzusetzen, gleichsam einen "Humanismus nach Auschwitz" zu schaffen. Für viele Autoren wurde der Kontakt mit der hebräischen Sprache befruchtend für ihr Schreiben, insbesondere was die Prägnanz des sprachlichen Ausdrucks anbelangt.

In einer Situation der Isolation, aber zugleich eingegliedert in die dynamische multikulturelle israelische Gesellschaft leisten die deutschsprachigen Schriftsteller Israels einen bemerkenswerten Beitrag zur Gegenwartsliteratur, der gerade unter dem Aspekt der Mehrsprachigkeit, der Kulturvermittlung und der Erforschung "kleiner Kulturen" stärkere Beachtung verdient. Die Autoren befinden sich zumeist in einer Position des "Dazwischen".

Obwohl die neue Umgebung befruchtend auf ihr Schaffen wirkt, überwiegt doch oft die Resignation. Hanna Blitzer: "Wir sind vergessene Menschen hier, das ist mir klar. Trotzdem schreibe ich weiter."

Dieser Text wurde uns freundlicherweise von der Presse zur Verfügung gestellt, wo er am 30. Jänner 1993 (Spectrum, S. VI) erschien.

Vor dem Vergessen bewahrt:
Armin Alexander Wallas

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