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Halb-Asien, ein deutscher Traum
Karl Markus GAUSS
Zum 100. Todestag des Schriftstellers Karl Emil Franzos
Der Schriftsteller Karl Emil Franzos (1848-1904) war ein
unermüdlicher Kämpfer für die Toleranz im ethnisch zersplitterten
Ostmitteleuropa des späten 19. Jahrhunderts. Es macht seine Tragik aus, dass
er von der kulturellen Mission der Deutschen im Osten träumte, während diese
in Deutschland zunehmend imperialistisch gewendet wurde.
In seiner berühmten Büchnerpreis-Rede hat Paul Celan
einen «wiedergefundenen Landsmann» der Bukowina beschworen. Karl Emil
Franzos, von dem er sprach, hatte sich einst selbst um Büchner verdient
gemacht, im Nachlass des vier Jahrzehnte vorher Verstorbenen das
Woyzeck-Fragment entdeckt und entziffert sowie 1879 die erste Gesamtausgabe
des revolutionären Dichters herausgegeben: «Büchner zeichnet eben Menschen,
keinen knetet er aus Kot, keinen aus Sternen, sondern aus beiden», schrieb
er in einem der über vierzig Artikel, mit denen er kämpferisch auf den
Vergessenen aufmerksam machte.
Franzos, an den Celan bereits wie an einen Verschollenen
erinnern musste, war damals ein berühmter Mann. 1848 als Sohn eines
jüdischen Arztes geboren, war er im galizischen Czortków aufgewachsen, in
Czernowitz aufs Gymnasium gegangen und dann nach Wien gezogen. Dort focht
der Jude in der Studentenverbindung «Teutonia», ehe er nach Graz wechselte,
wo er Präsident der Verbindung «Orion» wurde. Den Geburtstag Humboldts
feierten deren Bundesbrüder stets in Czernowitz, einem Zentrum deutscher
Bildung im Osten Europas. Wie sein Vater war Franzos davon überzeugt, dass
die geknechteten, in Unwissenheit gehaltenen Nationalitäten Osteuropas von
der deutschen Aufklärung erfasst und aus ihren entwürdigenden Verhältnissen
befreit werden müssten.
Bildungstraum
Es ist die Tragik dieses Autors, dass er von der
kulturellen Mission der Deutschen im Osten träumte, während diese in
Deutschland zunehmend imperialistisch gewendet wurde; dass er die
Emanzipation der osteuropäischen Juden in deutschem Geist verlangte, während
sich die Studentenverbindungen seiner Jugend Arierparagraphen gaben und
Juden aus dem universitären Leben zu verbannen suchten. Unbeirrt, zunehmend
verzweifelt hielt Franzos wider die Realität an einem Bildungstraum
deutscher Kultur fest, als sich dieser bereits zersetzt hatte. Als
«Germanisierung», diese «privilegierte Unterdrückung fremder
Nationalitäten», wollte er seine Vision, dass der Osten am deutschen Wesen
genesen möge, keineswegs verstanden haben. Er war erschüttert von der Armut
im Schtetl, von Elend, Seuchen, Alkoholismus, die ganz Galizien
beherrschten, und er beklagte in seinen Schriften die Unwissenheit der
ruthenischen Knechte, den Traditionalismus der jüdischen Gemeinden, den
Antisemitismus der Panslawisten, die Gleichgültigkeit der österreichischen
Beamten. Für all die Krankheiten des Ostens wusste er eine deutsche Arznei,
nur hatte er übersehen, dass der deutsche Arzt nicht Lessing, sondern
Bismarck hiess.
Karl Emil Franzos wurde auf einen Schlag berühmt. 1876
publizierte er zwei Bände, die den Titel «Halb-Asien» und den Untertitel
«Kulturbilder aus Galizien, der Bukowina, Südrussland und Rumänien» trugen.
Das eine Wort, «Halb-Asien», hatte er selbst geprägt, das andere,
«Kulturbilder», zur Charakterisierung seiner höchst ungewöhnlichen Literatur
verwendet. Halb-Asien, was war das? Das waren die habsburgischen Länder im
Osten Europas, in denen viele verschiedene Ethnien mehr neben- als
miteinander lebten und die nicht nur von grausamen Feudalherren ausgebeutet
wurden, sondern sich auch gegen die Verlockungen der Moderne in einem
geradezu lebensfeindlichen Traditionalismus abgeschottet hatten. Halb-Asien
war ein halbes Europa, und es zu einem ganzen zu machen, war Franzos
literarisch angetreten.
«Kulturbilder» - das ist ein Überbegriff für verschiedene
Genres, die Franzos dabei verwendete, meist sogar in ein und demselben Text.
Dazu gehören Novellen, aber auch ethnographische Studien, Erzählungen,
Reiseberichte, Naturschilderungen ebenso wie historische Exkurse,
journalistische Abhandlungen, feuilletonistische Skizzen. Franzos war alles
andere als ein Karl May des Wilden Ostens, er kannte, wovon er schrieb, aus
eigener Anschauung und hat sein Wissen reisend immer wieder überprüft und
vertieft.
Meisterstücke
Auf «Halb-Asien» folgten die Sammlungen «Vom Don zur
Donau» und «Aus der grossen Ebene», beide im Untertitel ebenfalls als
«Kulturbilder» bezeichnet. Hinzu traten Novellenkränze, Romane, Erzählbände,
ein gigantisches Werk, darunter Meisterstücke wie der Novellenzyklus «Die
Juden von Barnow», die Erzählung «Leib Weihnachtskuchen und sein Kind» oder
die Romane «Ein Kampf ums Recht» und «Der Pojaz». Alle waren bestimmt von
dem Ethos, das Franzos im Vorwort zu «Vom Dom zur Donau» so formuliert
hatte: «Kulturarbeit kann nur glücken, wo Frieden herrscht. Darum kämpfe ich
für die Gleichberechtigung der Nationalitäten und Konfessionen jenseits der
Karpaten, darum stehe ich gegen die Unterdrücker für die Unterdrückten. Ich
bekämpfe den Druck, welchen die Russen auf Kleinrussen und Polen üben, aber
wo die Polen, wie dies in Galizien der Fall ist, ein Gleiches tun, da kämpfe
ich gegen den Druck, welchen sie den Kleinrussen, Juden und Deutschen
auferlegen. Ich trete für die Juden ein, weil sie geknechtet sind, aber ich
greife die Knechtschaft an, welche die orthodoxen Juden selbst den
Freisinnigen ihres Glaubens bereiten.»
Ab 1887 lebte Franzos in Berlin, bis zuletzt entschlossen, von beidem
nicht zu lassen, nicht von seinem Judentum - und nicht von der deutschen
Aufklärung, die ihm dazu berufen war, das in den Fesseln der Orthodoxie, des
Aberglaubens, der religiösen Despotie gefangene Ostjudentum zu befreien und
zu zivilisieren. Als er 1904 starb, waren Dutzende Bücher von ihm in hohen
Auflagen auf dem Markt. Zwischen 1928 und 1930 legte der Cotta-Verlag noch
einmal eine vielbändige Werkausgabe auf. Dass der Osten Europas aus
deutschem Geist zu Toleranz erblühe, diese Vision des Karl Emil Franzos
wurde wenige Jahre später im Nationalsozialismus blutig zunichte. Die Welt,
von der die Kulturbilder einprägsame Kunde gaben, existiert seither nicht
mehr; was dieser Autor dem Westen vom Osten zu erzählen hatte, bietet
deswegen heute keine melancholische, sondern eine schmerzende Lektüre.
Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung, erschienen am
28.01.04
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