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Pessach – die Erinnerung an den Auszug

Markus LADSTÄTTER

 

Interessiert man sich für das wichtigste Fest im jüdischen Jahreskreis, so findet man in der Einführungsliteratur und in gängigen Nachschlagewerken für gewöhnlich Yom Kippur, den Versöhnungstag, genannt. Von seiner inhaltlichen Bedeutung her gesehen, muss man diese Qualität jedoch vielmehr dem Pessach-Fest zuschreiben, in welchem sich das Judentum seit drei Jahrtausenden der Befreiung seiner Väter und Mütter aus der ägyptischen Knechtschaft erinnert – ein historisch verwurzeltes Ereignis, das konstitutiv für das Werden des jüdischen Volkes gewesen ist und daher bis heute mit einer reichen Palette an dieser Erfahrung verbundener Symbolik begangen wird.

"In jeder Generation ist es die Pflicht, sich selbst so zu betrachten, als wäre man selbst aus Ägypten ausgezogen ...". – Wenn die Pessach-Haggada die heute Feiernden so deutlich zur Identifikation mit dem Geschehen vor dreitausend Jahren auffordert, so kann sie dies nur deshalb tun, weil Unterdrückung und Befreiung Erfahrungen von derart überzeitlichem Charakter sind, dass sich auch der heutige Mensch in ihnen wiederfinden kann. Auch andere Motive aus diesem Erzählungszyklus des Exodus, wie etwa die angesichts der Bedrohungen und Entbehrungen der Wüste erwachende Sehnsucht, zu den Fleischtöpfen Ägyptens zurückzukehren, lassen sich ohne große Mühe als Chiffren und Metaphern für Aspekte der eigenen Lebenserfahrung verstehen.

Jede Religion, die sich auf konkrete Ereignisse aus der Vergangenheit bezieht, bedarf der rituellen Identifikation, in welcher sich der jeweils gegenwärtige Mensch in den Strom der Tradition einreiht, um sein eigenes Leben als Fortsetzung dieser langen Geschichte einordnen zu können. Auf diese Weise gewinnt der Einzelne Lebensorientierung, und zugleich sichert die Religionsgemeinschaft ihren lebendigen Fortbestand. Besondere Bedeutung kommt diesem Vorgang naturgemäß bei Kindern zu. Somit darf die Dramaturgie des Seder-Abends mit ihrer ausgesprochenen Betonung der Rolle der Jüngsten als herausragendes und geradezu mustergültiges Beispiel für einen solchen Traditionsprozess angesehen werden.

Im Zentrum dieser Betrachtung des Pessach-Festes sollen aber nicht diese "religionspädagogischen" Überlegungen stehen, sondern vielmehr sein eigentlicher und zentraler Inhalt – die von Gott angeführte Befreiung aus der Knechtschaft. Jenseits aller spirituell-aktualisierenden Deutungen dieser Geschichte hat die Religion Israels mit ihrer Erinnerung an den konkreten Exodus der ganzen, universalen Religionsgeschichte der Menschheit ein Moment geschenkt, dessen Bedeutung bis heute nicht versiegt ist: eine politische Theologie der Befreiung aus ungerechten Verhältnissen, eine religiös motivierte Kritik am gesellschaftlichen Status quo, der auf Kosten und zu Lasten der Marginalisierten floriert, eine Auszugsbewegung, die eine neue Art des Zusammenlebens zum Ziel hat. – Prophetische Kritik ist an sich schon immer etwas Ungemütliches. Aber um wieviel ungemütlicher noch ist ein Volk, für das ein konkreter Exodus immer eine reale Möglichkeit darstellt?

Der systematische Gegenpol zu dieser religiösen Gesellschaftsvision findet sich nicht nur im alten Ägypten mit seiner Vergöttlichung des Pharao, sondern auch im Osten Asiens, vielleicht nirgends deutlicher als im chinesischen Staatskonfuzianismus: Dieser hat sich - wenn auch mit hoher Wahrscheinlichkeit ganz gegen die Intentionen seines namensgebenden Inspirators – zu einem herrschaftsstützenden Normensystem entwickelt, von welchem die Kaiser in gleicher Weise profitierten wie nach ihnen die Kommunisten: Religiöse Tradition wird hier zum ideologischen Mittel und Garanten hierarchischer Ordnung, die selbst schon einen quasi-religiösen Wert darstellt. Jeder Gedanke eines Exodus, eines Auszugs aus den gegebenen Machtverhältnissen, ist vor diesem Hintergrund nur als subversive Anarchie zu verstehen und daher zu bekämpfen. Das bekamen unter anderem auch jene Tausenden von buddhistischen Mönchen im China des 9. Jhs. zu spüren, die zwangslaiisiert worden sind, bedeutete doch ihr Lebensstil für den Kaiser einen Verlust an Steuereinnahmen und an Wehrpflichtigen sowie an nachkommenden Untertanen in diesen beiden Funktionen.

In den Religionen Indiens ist der Exodus-Gedanke, der hier gerade im Buddhismus angeklungen ist, nicht gänzlich fremd, zumindest in jener Form des selbstgewählten Auszugs aus dem Establishment, wie ihn ja schließlich kein Geringerer als der spätere Buddha Siddharta Gautama selbst vollzogen hat. Klassisch findet sich die Vorstellung vom Auszug in diesem Sinne im Hinduismus vor allem im Ideal von den vier Lebensstadien (Ashramas): Nach den Phasen des Schüler-Seins und des Hausvater-Seins soll sich demnach jeder in seiner dritten Lebensphase teilweise und in der vierten möglichst gänzlich von Besitz, gesellschaftlichem Status und auch schließlich von der Lebensgefährtin lösen und in die Hauslosigkeit ziehen, um so der Erlösung entgegenzugehen. In markantem Unterschied zur biblischen Religion hat dieses Phänomen in der indischen Religionswelt jedoch allenfalls durch eine große Zahl an Individuen, die diesem Weg folgen, gesellschaftliche Bedeutung erlangt, nicht jedoch als eine im eigentlichen Sinne politische Theorie und Inspiration.

Christentum wie auch Islam haben hingegen den jüdischen Impuls von Gesellschaftskritik im Sinne und Dienste der Befreiung, die Verheißung von Pessach, durchaus auf ihre Weise aufgegriffen und rezipiert: im Falle des Christentums etwa im Selbstverständnis und in der Praxis befreiungstheologisch denkender Gemeinschaften in Lateinamerika ebenso wie auch in den Sozialenzykliken der Päpste; auf der islamischen Seite sei hierzu auf das generell so hehre soziale Pathos der gesamten prophetischen Botschaft Muhammads hingewiesen.

So viel und so breit gestreute Rede von der Befreiung aus der Knechtschaft in Judentum, Christentum und Islam könnte freilich optimistisch stimmen. Bloß – wo kommt dann all die faktische Unfreiheit her, die gerade im Einflussbereich dieser drei Religionen sattsam bekannt ist: die totalitären Vorstellungen vom islamischen Gottesstaat, die absolutistischen Manifestationen kirchlicher Macht, die umstrittenen Aspirationen radikaler jüdischer Siedler? Macht Religion an sich so blind? Ist es gar ohne sie um die Befreiung besser bestellt? – Ein kurzer Blick auf die säkulare Version des biblischen Befreiungsgedankens im real existiert habenden Marxismus kann auch nicht überzeugen.

Wahrscheinlich krankt es eher daran, dass jeder den Gedanken der Befreiung nicht als universalen, sondern primär als partikularen versteht und bloß auf sein eigenes Klientel bezieht. Außerdem bestand und besteht immer wieder die Gefahr, Weg und Ziel zu verwechseln, menschliche Formulierung mit göttlicher Rechtleitung. Schließlich will vermutlich nicht selten jeder vor allem seine eigenen Vorstellungen von Befreiung durchsetzen – und übersieht, dass beim Pessach-Fest unabdingbar ein Platz am Tisch frei bleiben muss.

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