Interessiert
man sich für das wichtigste Fest im jüdischen Jahreskreis, so findet man in
der Einführungsliteratur und in gängigen Nachschlagewerken für gewöhnlich
Yom Kippur, den Versöhnungstag, genannt. Von seiner inhaltlichen Bedeutung
her gesehen, muss man diese Qualität jedoch vielmehr dem Pessach-Fest
zuschreiben, in welchem sich das Judentum seit drei Jahrtausenden der
Befreiung seiner Väter und Mütter aus der ägyptischen Knechtschaft erinnert
ein historisch verwurzeltes Ereignis, das konstitutiv für das Werden des
jüdischen Volkes gewesen ist und daher bis heute mit einer reichen Palette
an dieser Erfahrung verbundener Symbolik begangen wird."In jeder
Generation ist es die Pflicht, sich selbst so zu betrachten, als wäre man
selbst aus Ägypten ausgezogen ...". Wenn die Pessach-Haggada die heute
Feiernden so deutlich zur Identifikation mit dem Geschehen vor dreitausend
Jahren auffordert, so kann sie dies nur deshalb tun, weil Unterdrückung und
Befreiung Erfahrungen von derart überzeitlichem Charakter sind, dass sich
auch der heutige Mensch in ihnen wiederfinden kann. Auch andere Motive aus
diesem Erzählungszyklus des Exodus, wie etwa die angesichts der Bedrohungen
und Entbehrungen der Wüste erwachende Sehnsucht, zu den Fleischtöpfen
Ägyptens zurückzukehren, lassen sich ohne große Mühe als Chiffren und
Metaphern für Aspekte der eigenen Lebenserfahrung verstehen.
Jede Religion, die sich auf konkrete Ereignisse aus der Vergangenheit
bezieht, bedarf der rituellen Identifikation, in welcher sich der jeweils
gegenwärtige Mensch in den Strom der Tradition einreiht, um sein eigenes
Leben als Fortsetzung dieser langen Geschichte einordnen zu können. Auf
diese Weise gewinnt der Einzelne Lebensorientierung, und zugleich sichert
die Religionsgemeinschaft ihren lebendigen Fortbestand. Besondere Bedeutung
kommt diesem Vorgang naturgemäß bei Kindern zu. Somit darf die Dramaturgie
des Seder-Abends mit ihrer ausgesprochenen Betonung der Rolle der Jüngsten
als herausragendes und geradezu mustergültiges Beispiel für einen solchen
Traditionsprozess angesehen werden.
Im Zentrum dieser Betrachtung des Pessach-Festes sollen aber nicht diese
"religionspädagogischen" Überlegungen stehen, sondern vielmehr sein
eigentlicher und zentraler Inhalt die von Gott angeführte Befreiung aus
der Knechtschaft. Jenseits aller spirituell-aktualisierenden Deutungen
dieser Geschichte hat die Religion Israels mit ihrer Erinnerung an den
konkreten Exodus der ganzen, universalen Religionsgeschichte der Menschheit
ein Moment geschenkt, dessen Bedeutung bis heute nicht versiegt ist: eine
politische Theologie der Befreiung aus ungerechten Verhältnissen, eine
religiös motivierte Kritik am gesellschaftlichen Status quo, der auf Kosten
und zu Lasten der Marginalisierten floriert, eine Auszugsbewegung, die eine
neue Art des Zusammenlebens zum Ziel hat. Prophetische Kritik ist an sich
schon immer etwas Ungemütliches. Aber um wieviel ungemütlicher noch ist ein
Volk, für das ein konkreter Exodus immer eine reale Möglichkeit darstellt?
Der systematische Gegenpol zu dieser religiösen Gesellschaftsvision
findet sich nicht nur im alten Ägypten mit seiner Vergöttlichung des Pharao,
sondern auch im Osten Asiens, vielleicht nirgends deutlicher als im
chinesischen Staatskonfuzianismus: Dieser hat sich - wenn auch mit hoher
Wahrscheinlichkeit ganz gegen die Intentionen seines namensgebenden
Inspirators zu einem herrschaftsstützenden Normensystem entwickelt, von
welchem die Kaiser in gleicher Weise profitierten wie nach ihnen die
Kommunisten: Religiöse Tradition wird hier zum ideologischen Mittel und
Garanten hierarchischer Ordnung, die selbst schon einen quasi-religiösen
Wert darstellt. Jeder Gedanke eines Exodus, eines Auszugs aus den gegebenen
Machtverhältnissen, ist vor diesem Hintergrund nur als subversive Anarchie
zu verstehen und daher zu bekämpfen. Das bekamen unter anderem auch jene
Tausenden von buddhistischen Mönchen im China des 9. Jhs. zu spüren, die
zwangslaiisiert worden sind, bedeutete doch ihr Lebensstil für den Kaiser
einen Verlust an Steuereinnahmen und an Wehrpflichtigen sowie an
nachkommenden Untertanen in diesen beiden Funktionen.
In den Religionen Indiens ist der Exodus-Gedanke, der hier gerade im
Buddhismus angeklungen ist, nicht gänzlich fremd, zumindest in jener Form
des selbstgewählten Auszugs aus dem Establishment, wie ihn ja schließlich
kein Geringerer als der spätere Buddha Siddharta Gautama selbst vollzogen
hat. Klassisch findet sich die Vorstellung vom Auszug in diesem Sinne im
Hinduismus vor allem im Ideal von den vier Lebensstadien (Ashramas): Nach
den Phasen des Schüler-Seins und des Hausvater-Seins soll sich demnach jeder
in seiner dritten Lebensphase teilweise und in der vierten möglichst
gänzlich von Besitz, gesellschaftlichem Status und auch schließlich von der
Lebensgefährtin lösen und in die Hauslosigkeit ziehen, um so der Erlösung
entgegenzugehen. In markantem Unterschied zur biblischen Religion hat dieses
Phänomen in der indischen Religionswelt jedoch allenfalls durch eine große
Zahl an Individuen, die diesem Weg folgen, gesellschaftliche Bedeutung
erlangt, nicht jedoch als eine im eigentlichen Sinne politische Theorie und
Inspiration.
Christentum wie auch Islam haben hingegen den jüdischen Impuls von
Gesellschaftskritik im Sinne und Dienste der Befreiung, die Verheißung von
Pessach, durchaus auf ihre Weise aufgegriffen und rezipiert: im Falle des
Christentums etwa im Selbstverständnis und in der Praxis
befreiungstheologisch denkender Gemeinschaften in Lateinamerika ebenso wie
auch in den Sozialenzykliken der Päpste; auf der islamischen Seite sei
hierzu auf das generell so hehre soziale Pathos der gesamten prophetischen
Botschaft Muhammads hingewiesen.
So viel und so breit gestreute Rede von der Befreiung aus der
Knechtschaft in Judentum, Christentum und Islam könnte freilich optimistisch
stimmen. Bloß wo kommt dann all die faktische Unfreiheit her, die gerade
im Einflussbereich dieser drei Religionen sattsam bekannt ist: die
totalitären Vorstellungen vom islamischen Gottesstaat, die absolutistischen
Manifestationen kirchlicher Macht, die umstrittenen Aspirationen radikaler
jüdischer Siedler? Macht Religion an sich so blind? Ist es gar ohne sie um
die Befreiung besser bestellt? Ein kurzer Blick auf die säkulare Version
des biblischen Befreiungsgedankens im real existiert habenden Marxismus kann
auch nicht überzeugen.
Wahrscheinlich krankt es eher daran, dass jeder den Gedanken der
Befreiung nicht als universalen, sondern primär als partikularen versteht
und bloß auf sein eigenes Klientel bezieht. Außerdem bestand und besteht
immer wieder die Gefahr, Weg und Ziel zu verwechseln, menschliche
Formulierung mit göttlicher Rechtleitung. Schließlich will vermutlich nicht
selten jeder vor allem seine eigenen Vorstellungen von Befreiung durchsetzen
und übersieht, dass beim Pessach-Fest unabdingbar ein Platz am Tisch frei
bleiben muss.