Tel Aviv, die quirlige Metropole an Israels
Mittelmeerküste, wurde von der UNESCO offiziell als Weltkulturerbe
eingestuft. Diese Ehre teilt sich Tel Aviv unter den modernen Städten der
Welt nur mit Brasilia, der Reißbrettstadt des brasilianischen Architekten
Oscar Niemeyer. Der Grund für die Ehrung der 400.000-Einwohner-Stadt ist ihr
Stadtkern mit dem weltweit größten Baubestand im Bauhaus-Stil, der von 1919
an im deutschen Weimar von Walter Gropius entwickelt worden war. Dieser
funktionale und ästhetisch dennoch anspruchsvolle Baustil prägt das Gesicht
der "Weißen Stadt" im Zentrum Tel Avivs.
Auf den ersten Blick ist Tel Aviv nicht besonders schön.
Eine Stadt mit 400.000 Einwohnern, die sich am Mittelmeerstrand entlang
streckt und fast untergeht in dem Gewühl von kleinen Vororten und
Nachbarstädtchen. Moderne Hochhäuser säumen die Stadtautobahn, und die Küste
ist von mehrstöckigen, einfalltslos aus grauem Beton gebauten Hotels
zugestellt.
Wenn man aber von einem dieser Hotels nach Osten schaut,
dann sieht man das alte Tel Aviv. Ein Meer von niedrigen weißen Häusern mit
flachen Dächern und weißen Jalousien. Das ist die Stadt, die der israelische
Liedermacher Arik Einstein in dem populären Lied "Die Weiße Stadt" besingt:
Aus dem Schaum einer Welle und einer Wolke,
baute ich mir eine weisse Stadt wie sie so luftig, wie sie so gespült - wie
sie so schön...
Zwischen den dreißiger und fünfziger Jahren des letzten
Jahrhunderts ist dieses Tel Aviv entstanden, hervorgegangen aus einer
kleinen jüdischen Siedlung nördlich von Jaffa. Ursprünglich als Gartenstadt
angelegt, mit kleinen schindelgedeckten Häusern, wuchs Tel Aviv schnell und
planlos unter dem Druck der Einwanderungswelle aus Europa. Mit den
Einwanderern kam auch eine neue Architektur, erzählt Judith Livnat,
Touristenführerin in Tel Aviv: "Die Architekten, die in Tel Aviv gebaut
haben -z.B. Arie Scharon, Zeev Rechter, Schlomo Berenstein und Erich
Mendelsohn- haben alle an den berühmten Architekturschulen in Europa
gelernt."
Als Touristenführerin, kennt Frau Livant jedes Haus auf
dem Rothschild Boulevard, dem Herzstück des frühen Tel Aviv: "Ich fange
meine Rundreisen immer mit dem historischen, kleinen Tel Aviv an. Immer mit
dem ersten Kiosk auf dem Rothschild Boulevard: Diesen Kiosk haben wir jetzt
aufgestellt auf dem Ort, wo 1910 der erste Kiosk in Tel Aviv stand. Früher
sah es hier anders aus, und schöner. Und man sieht, wir haben keine Häuser
im Bauhaus-Stil. Wir haben die Traumhäuser der Familien."
Die Traumhäuser, die sich reiche jüdische Familien aus
Europa hier am Rothschild Boulevard bauten, stehen heute noch. Viele sind
inzwischen renoviert, und werden von Rechtsanwaltsbüros und Banken genutzt.
Sie wurden im so genannten eklektischen Stil gebaut, der nüchterne, moderne
Architektur mit Jugendstilelementen und romantischen Details wie
geschwungenen Treppen, verzierten schmiedeeisernen Geländern und kleinen
Türmchen verband.
Erst in den dreißiger Jahren begann sich der
schnörkellose Bauhausstil durchzusetzen. Er kam vor allem bei
mehrgeschossigen Mehrfamilienhäusern zum Einsatz. Hinter den nüchternen
Fassaden mit tief heruntergezogenen Balkons, flachen Sonnendächern und
abgerundeten Ecken verbargen sich meist kleine und einfache Wohnungen.
Selten verfügten sie über mehr als zwei Zimmer.
Insgesamt entstanden in den Jahren zwischen 1931 und 1956
rund 4.000 Häuser in diesem sogenannten internationalen Stil, von denen
viele im Bauhausstil erbaut wurden. Tel Aviv ist damit das größte
Bauhaus-Freiluftmuseum der Welt. In den neunziger Jahren beschloss die
Stadtverwaltung, diesen Schatz zu erhalten und rund 1.000 Häuser unter
Denkmalschutz zu stellen. Gegen diesen Plan protestierten sowohl
Hausbesitzer als auch Investoren und Immobilienmarkler. Sie fürchten, dass
damit wertvolles Baugelände im kommerziellen Zentrum von Tel Aviv für die
Stadtentwicklung und den Bau moderner Geschäftsgebäude verloren geht.
Kritik gab es aber auch von der anderen Seite. Denn die
Renovierung der historischen Gebäude im Herzen der Stadt trieb die
Wohnungspreise in schwindelnde Höhen. Die Weiße Stadt, die jetzt in die
Liste des Weltkulturerbes aufgenommen wird, sei, so der Architekt Scharon
Rotbart, eine "urbane Legende", die erfunden worden sei, um die schwarze
Stadt zu vertuschen, die Armutsviertel in Jaffa und in Süd-Tel Aviv.