Inzwischen aber gibt es seit 56 Jahren den "Judenstaat",
und manch ein Satz in diesem Buch ist im Jahr 2004 immer noch von
erschreckender Aktualität, denn "die Welt" widerhallt wieder vom "Geschrei
gegen die Juden" und es sind längst nicht mehr "nur" die
Nationalsozialisten neuer Prägung, die auf ihre Art in Erscheinung treten ,
und deshalb sollte man sich gegenwärtig immer wieder an jenen Mann erinnern,
der 1896 auch gefragt hat: "Ist das, was ich sage, heute noch nicht richtig?
Bin ich meiner Zeit voraus? Sind die Leiden der Juden noch nicht groß genug?
Wir werden sehen."
Es mussten dann noch etwa vierzig Jahre vergehen, bis
auch jene Juden, die sich als "Deutsche und der deutschen Kultur zugehörig"
fühlten und den Zionismus ablehnten, das sahen und erlebten, was selbst der
phantasiebegabte Theodor Herzl nicht für möglich gehalten hätte. Und dann
war es für viele von ihnen zu spät.
Als Sohn des Kaufmanns Jakob Herzl und der Jeanette geb.
Diamant wurde Theodor Herzl am 2. Mai 1860 in Budapest geboren "nahe
der Synagoge", schrieb er am 14. Januar 1898 in der "Jewish Cronicle", London,
"in der mich der Rabbi jüngst mit den strengsten Worten anklagte, weil ich
wirklich und wahrhaftig , weil ich für die Juden mehr Ehre und Freiheit,
als sie gegenwärtig genießen, zu erlangen versuche. Aber an der Vordertür
des Hauses in der Tabakgasse, wo ich das Licht der Welt erblickte, wird nach
zwanzig Jahren ein Zettel mit der Anzeige Zu vermieten zu lesen sein".
Später erinnerte er sich an seine Schulzeit und schrieb:
"Erst wurde ich in eine jüdische Vorschule geschickt, wo ich ein gewisses
Ansehen genoß, weil mein Vater ein wohlhabender Kaufmann war. Meine früheste
Erinnerung an diese Schule besteht in Prügeln, welche ich erhielt, weil ich
die Einzelheiten des Auszugs aus Ägypten nicht wußte. Gegenwärtig möchten
mich viele Schulmeister prügeln, weil ich mich zuviel an jenen Auszug aus
Ägypten erinnere..." Und über die Zeit auf der Realschule heißt es: "Einer
unserer Lehrer erklärte die Bedeutung des Wortes Heiden, indem er sagte:
Zu diesen gehören die Götzendiener, Mohammedaner und Juden. Nach dieser
merkwürdigen Erklärung hatte ich von der Realschule genug..." Er wechselte
dann auf ein "Evangelisches Gymnasium", "eine christliche Anstalt, wo
allerdings "die Juden die Mehrzahl" bildeten, "und deshalb hatten wir uns
nicht über irgendwelche Judenhetze zu beklagen".
Als er noch in Budapest die letzte Gymnasialklasse
besuchte, starb seine einzige Schwester, gerade achtzehn Jahre alt, und
seine "gute Mutter wurde vor Kummer so schwermütig", daß die Familie 1878
nach Wien übersiedelte. "Während der Trauerwoche besuchte uns Rabbi Kohn und
fragte mich, was meine Pläne für die Zukunft wären. Ich sagte ihm, daß ich
ein Schriftsteller werden wollte, worauf der Rabbi seinen Kopf ebenso
unzufrieden schüttelte, wie er später den Zionismus mißbilligte."
Mit achtzehn Jahren, 1878, begann Herzl sein Jurastudium in
Wien 1881-1883 war er Mitglied der deutschnationalen Verbindung "Albia",
die er jedoch wegen antisemitischen Anfeindungen wieder verließ , und 1884
promovierte er zum Doktor der Rechte. Danach heiratete er, 1889, Julie
Naschauer, und aus dieser Ehe gingen zwei Töchter und ein Sohn hervor. Herzl
war dann, 1891-1895, als Korrespondent der Wiener "Neuen Freien Presse" in
Paris tätig, und ab 1896 Redakteur des renommierten Feuilletons derselben
Zeitung.
Als 1894 der Schauprozeß gegen den jüdischen Hauptmann
Alfred Dreyfus in Frankreich zu antisemitischen Ausschreitungen führte,
entwickelte Herzl unter dem Eindruck der international kommentierten "Dreyfus-Affäre"
- zum erstenmal die Idee einer organisierten Emigration der Juden in einen
eigenständigen Staat. Dabei waren ihm ähnliche zionistische Bestrebungen in
Osteuropa, die dort als Reaktion auf die zunehmenden Pogrome vor allem in
Polen und Russland entstanden, noch nicht bekannt. Doch erst durch seine
Publikation und sein Wirken fand die Idee des "Judenstaates" weltweit
Beachtung und schließlich auch Anerkennung.
"Als ich mein Buch beendet hatte", vermerkt er, 1898,
zwei Jahre nach dem Erscheinen, "bat ich einen meiner ältesten und besten
Freunde, das Manuskript zu lesen. Während er es las, fing er plötzlich an zu
weinen. Ich fand diese Erregung ganz natürlich, da er ein Jude war; ich
hatte ja auch manchmal beim Schreiben geweint. Aber zu meiner Bestürzung gab
er einen ganz anderen Grund für seine Tränen an. Er dachte, ich wäre
irrsinnig geworden, und da er mein Freund war, machte ihn mein Unglück sehr
traurig. Er lief weg, ohne ein anderes Wort zu sagen. Nach einer schlaflosen
Nacht kam er zurück und drang in mich, die Sache zu lassen, da mich jeder
für irre halten würde..."
Nachdem Herzl von der Stadt München eine Absage erhalten
hatte, veranstaltete er in Basel vom 26. zum 29. August 1897 den ersten
Zionistischen Weltkongress mit etwa 200 Delegierten, wobei das "Baseler
Programm" beschlossen wurde, das die "Schaffung einer öffentlich-rechtlich
gesicherten Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina" forderte. Nach
seiner Wahl zum ersten Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation begann
Herzl in Wien mit der Herausgabe der Monatsschrift "Die Welt", als Organ der
zionistischen Bewegung.
"Während der zwei und mehr folgenden Jahre habe ich
viele, viele traurige Tage erlebt", schrieb Herzl später, "und ich fürchte,
dass noch mehr traurige Tage folgen werden. 1895 begann ich ein Tagebuch zu
führen; jetzt sind schon vier starke Bände angefüllt. Sollte ich sie je
veröffentlichen, so würde die Welt erstaunt sein, zu erfahren, was ich
einzustecken gehabt habe, wer die Feinde meines Planes waren und
andererseits, wer mir beistand."
Heute weiß man, dass Herzl 1898 vergeblich versucht
hatte, mit Hilfe der Fürsprache der damaligen Großmächte den Sultan Abdül
Hamid II. (1876-1909) zu einer Zusage für ein autonomes Gebiet im Rahmen des
großen Osmanischen Reiches zu bewegen, wobei Kaiser Wilhelm II. ihm jedoch
während seiner Orientreise jede Unterstützung verweigerte. Auch Herzls
wiederholte Bittgesuche, 1900-1902, an Papst Pius X. und an den
italienischen König Viktor Emanuel III. wurden abgewiesen. Hingegen hatte
ihm, 1899, der britische Kolonialminister Joseph Chamberlain (1836-1914) ein
Gebiet in Uganda für eine eigenständige Siedlung angeboten, ein Vorhaben,
das aus mehreren Gründen nicht verwirklicht werden konnte vor allem, weil
für die Mehrheit der Zionisten nur das ehemalige Land der Juden, aus dem sie
einst vertrieben worden waren, in Frage kam.
Im selben Jahr gründete Herzl dann den "Jewish Colonial
Trust" zum Ankauf von Land in Palästina. Drei Jahre später, 1902,
veröffentlichte er den Roman "Altneuland", wo er eine mögliche
politisch-soziale Ordnung eines selbständigen jüdischen Staates in Palästina
entwirft. Neben den sechs Theaterstücken, die zwischen 1882 und 1904
erschienen sind und zum Teil am Kaiserlichen Burgtheater, Wien, mit Erfolg
aufgeführt wurden, dem Prosaband "Buch der Narrheit" (1888), den
"Philosophischen Erzählungen" (1900) und den posthum veröffentlichten
"Zionistischen Schriften" und "Tagebüchern" (1904/05) bleiben "Der
Judenstaat" und "Altneuland" seine bekanntesten und auch wichtigsten Werke.
"Aber eines betrachte ich als gewiß und über alle Zweifel
erhaben: die Bewegung wird anhalten. Ich weiß nicht, wann ich sterben werde,
aber der Zionismus wird nie sterben", schrieb er sechs Jahr vor seinem Tod.
Im Alter von nur 44 Jahren, am 3. Juli 1904 erlag Theodor Herzl, der
Visionär und unbeugsame Kämpfer, in Edlach an der Rax (Österreich) einem
Herzleiden; er wurde 45 Jahre später in den 1948 gegründeten "Judenstaat"
Israel überführt und auf einem nach ihm benannten Berg westlich von
Jerusalem beigesetzt.
Kaum auszudenken, wie das jüdische Volk heute dastünde,
hätte es nicht einst einen Theodor Herzl gegeben.