Maurice TSZORF
Naomi Shemer, Israels beliebteste Liederschreiberin,
starb am 26. Juni 2004, erst 74-jährig, an einer schweren Krankheit. Eine
Epoche war zu Ende gegangen.
Am Mittwoch darauf ging ich zu meinem wöchentlichen Jour
Fixe mit einer Gruppe von Bürgern aus Binyamina. Jemand hatte seine
Klarinette und ein Liederbuch von Shemers Liedern mitgebracht. Er spielte
und alle sangen mit. Alle Anwesenden kannten die Lieder. Und immer wieder
sagte jemand, "was, das ist auch von ihr?".
Naomi Shemers Lieder sind ein elementarer Bestandteil von
Israels Kulturgut, wie Bialik und Tschernichowski, deren Gedichte sie auch
vertonte. Die kleine Frau aus dem Kibbutz Kinneret verkörpert Israel nicht
nur in ihren einfühlsamen Liedern, sondern auch in ihrem wechselreichen
Leben. Am 13. Juli 1930 als Tochter echter Pioniere in einem Kibbutz in
einer der klimatisch schwierigsten Gegenden des Landes am südlichen Ende des
See Genezareth (Kinneret) geboren, war Naomi Kaspi 17 Jahre alt, als ihr
Staat gegründet wurde. Über fünfzig Jahre lang war sie zugleich Teil und
Chronistin ihres Landes. Im Laufe ihrer Karriere schuf sie einige hundert
Lieder und Melodien. Die große Mehrheit wurde zu Klassikern.
"Mit ihren wunderbaren Texten und Melodien", so Israels
sichtlich gerührter Premierminister Sharon bei der Kabinettsitzung am Tag
nach Shemers Tod, "gelang es ihr, uns mit unseren Wurzeln, unseren
Ursprüngen, den Anfängen des Zionismus, zu verbinden."
Bereits in den frühen Fünfzigern begann sie zu schreiben
und versorgte zunächst verschiedene Interpreten, vor allem die militärischen
Unterhaltungs-Truppen, mit Material. Schon als Sechsjährige lernte sie trotz
widriger Lebensumstände Klavier und besuchte später die bekannte
Rubin-Academy in Jerusalem, wo sie Musik studierte. Von dort zog sie
zunächst in ihren Kibbutz zurück, bevor sie 1956 nach Tel Aviv umsiedelte,
den Schauspieler Gideon Shemer heiratete und ihre Tochter Lali gebar.
Wenige israelische Liederschreiber haben die frühe
kulturelle Szene Israels so nachdrücklich geprägt wie Naomi Shemer. In ihren
Texten sprach sie vielen Israelis aus der Seele, schuf und erfüllte
Sehnsüchte und Hoffnungen. Wenn das gesamte Volk unter dem Eindruck eines
bestimmten Ereignisses stand, war Naomi Shemer sofort zur Stelle, um dieses
Gefühl in treffende Texte und Melodien zu kleiden. An Tagen der Trauer, nach
Anschlägen oder am Holocaust-Tag, tönen ihre Lieder aus dem Radio. Und wenn
in Jugendzentren oder auf der Tel Aviver Strandpromenade Menschen zusammen
singen oder Volkstänze tanzen, sind sie ebenso selbstverständlich dabei.
Naomi Shemer eröffnete mit ihren Liedern vielen Israelis
den Blick auf das eigene Land. Ihre Beschreibungen seiner Landschaften
kommen Liebesliedern gleich. Sie widmete sie besonders dem pastoralen
Norden, in dem sie aufgewachsen war ("Horshat HaEykalyptus"), aber auch Tel
Aviv ("Hair HaLevana") und Yafo ("Hair beafor"). Auf liebenswürdige Weise
befassen sie sich mit den Banalitäten des Alltags, wie in dem fröhlichen
Lied von den Bauarbeitern, die sich vom Gerüst herab in ein hübsches Mädchen
verlieben ("Ahavat Poaley Binyan").
Besonders bekannt, auch im Ausland, wurden Naomi Shemers
Lieder in Situationen des größten nationalen Konsensus: im Krieg. Wenn das
Volk wie gelähmt schwieg, wurde sie zu seiner Stimme. So hat die Welt von
Naomi Shemer erfahren, dass "Jerusalem aus Gold" besteht. Sie schrieb
Israels "zweite Hymne", ein sehnsuchtsvolles und trauriges Lied, im Auftrag
des Jerusalemer Bürgermeisters Teddy Kollek für das Israelische
Liederfestival kurz vor dem Sechs-Tage-Krieg 1967. Es ist voller Hinweise
auf die lange Tradition des jüdischen Volkes. Der Titel ist nach einem
Schmuckstück benannt, das Rabbi Akiva seiner Frau Rachel als Dank dafür
schenkte, dass sie ihn ermuntert hatte, Torah zu lernen. Andere Verse
zitieren den ersten modernen jüdischen Poeten, Jehuda Halevi. Nach der
Einnahme Jerusalems ergänzte sie es durch eine vierte jubilierende Strophe.
Ich weiß nicht mehr, wie oft ich es damals in der Wohnung meiner Eltern in
Tel Aviv hörte, ich erinnere mich aber, dass es nach jedem Fliegeralarm
gespielt wurde, wie um den Menschen Mut zu machen: Seht her, sogar Jerusalem
haben wir zurück bekommen, weil wir 2000 Jahre lang die Hoffnung nicht
aufgegeben haben. Spätestens mit diesem Lied wurde Shemer zu Israels
"nationalen Liederschreiberin".
Ein anderes, in Israel ebenso bekanntes Lied, ist "Lu
Yehi" (Möge es sein), dem "Let it Be" der Beatles nachempfunden und
ursprünglich sogar mit dessen Melodie vertont. Es entstand im
Yom-Kippur-Krieg 1973, dessen Beginn und Verlauf mit über 3000 Gefallenen zu
einem Trauma wurde, über das auch der Sieg nicht hinweghelfen konnte.
Auch für die tiefe Trauer um jeden einzelnen Gefallenen
fand sie Worte, wie in "Wir sind beide aus dem selben Dorf", in dem zugleich
das israelische Phänomen zum Ausdruck kommt, dass es keine Unbetroffenheit
in der Bevölkerung Israels gibt, besonders wenn es um gefallene Soldaten
geht.
Naomi Shemer wäre keine Israelin gewesen, hätte sie nicht
auch klare politische Vorstellungen gehabt. Kultur spielte in Israel seit
jeher eine politische Rolle in der Konsolidierung des israelischen Volkes um
seinen jungen, bedrohten Staat. Doch diese vereinende Rolle veränderte sich
ab 1967, spätestens jedoch 1982, als der Libanon-Krieg den Konsens im Volk
endgültig aufbrach. Dem entzog sich auch Naomi Shemer nicht. 1982 kämpfte
sie gegen die Räumung der Sinaihalbinsel im Rahmen des Friedensvertrages mit
Ägypten. Als vor nun annähernd zehn Jahren der israelische Premierminister
Rabin von einem rechtsextremen Israeli erschossen wurde, meldete sie sich zu
Wort, indem sie das dem gleichfalls ermordeten amerikanischen Präsidenten
Abraham Lincoln gewidmete Gedicht "O Captain! My Captain!" des
amerikanischen Dichters Walt Whitman ins Hebräische übertrug und vertonte.
Ein zutiefst erschütterndes Lied über den Kapitän, der sein Schiff zwar noch
in den sicheren Hafen bringt, dort aber den im Kampf davon getragenen Wunden
erliegt.
Ihr letztes Werk schrieb sie, als der Krebs bereits an
ihrem Leben zehrte. Es ist dem israelischen Astronauten Ilan Ramon gewidmet,
der 2003 beim Unglück der Raumfähre Columbia gemeinsam mit sechs
amerikanischen Gefährten ums Leben kam.
Naomi Shemer wurde mit einer bescheidenen Zeremonie in
ihrem Kibbutz Kinneret beigesetzt. Auf ihre Bitte hin gab es keine
Grabreden. Stattdessen wurden drei ihrer Lieder gesungen, unter anderem "Horshat
HaEykalyptus" (Der Eukalyptushain), ein Liebeslied an die Landschaft, in der
sie aufgewachsen war, und an die Gründergeneration ihrer Eltern.
1983 wurde Naomi Shemer der "Israel Prize" verliehen,
Israels höchste Auszeichnung für seine Wissenschaftler und Kulturträger. In
ihrer Begründung sagte die Jury: "Naomi Shemer erhält den Preis [...] für
die wunderbare Verknüpfung zwischen Text und Melodie, und für die Art und
Weise, in welcher sie den Gefühlen des Volkes Ausdruck verleihen. [...] Ihre
Lieder und Melodien geben jedem das Gefühl, als seien sie seinem eigenen
Herzen entsprungen."