Im 19. und 20. Jahrhundert gab es in Niederösterreich
zahlreiche Kultusgemeinden und Bethausvereine, übriggeblieben sind von den
meisten nur ihre Friedhöfe. Sie alle sind eine Reise wert.
Blühende Gemeinden sind untergegangen, wurden
unwiederbringlich vernichtet und zerstört.
1
Was bleibt da noch zu sehen? Mit Ausnahme des Badener Bethausvereines ist
keine einzige der 12 Kultusgemeinden Niederösterreichs, kein einziger der 18
Bethausvereine nach 1945 mehr existent. Unzählige Privathäuser wurden
enteignet, nur in seltenen Fällen erfolgreich restituiert.2 Sämtliche
Bewohner wurden vertrieben oder umgebracht. Auch Synagogenbauten sind nur in
den wenigsten Fällen hilfreich, um einen Eindruck vom vergangenen jüdischen
Niederösterreich zu gewinnen: Die überwiegende Mehrheit jener Gebäude, die
aus dem Wüten der Pogromnacht unversehrt hervorgegangen war wird heute
anders genutzt, ist umgebaut - oder demoliert.3
Was also ist überhaupt noch vorhanden in
Niederösterreich, um einen Einblick zu gewähren in seine jüdische
Vergangenheit?
Meist stellen die Friedhöfe heute den wichtigsten Rest
der zerstörten jüdischen Gemeinden dar. Sie sind es in erster Linie, die uns
eine Rekonstruktion jüdischen Alltags ermöglichen und eine Vorstellung vom
damaligen jüdischen Leben in den einzelnen Gemeinden vermitteln können. Auch
die Friedhöfe wurden in der NS-Zeit enteignet, jedoch nach 1945 restituiert
- wenn auch oft stark devastiert. Eine Vielzahl der Grabsteine, besonders
der wertvolleren, war gestohlen. Meist hatten lokale Steinmetzmeister damit
ein gutes Geschäft gemacht. Schändungen kamen vermehrt noch bis in die
1950er Jahre vor, Jugendliche waren zum Großteil die Täter.
Seit der Zerstörung der zugehörigen Gemeinden ist die
Erhaltung der vielen jüdischen Friedhöfe problematisch. Die Anlagen in
Gänserndorf, Hohenau, Hollabrunn, Horn, Klosterneuburg, Korneuburg, Krems,
Mistelbach, Neunkirchen, St. Pölten, Stockerau und Wiener Neustadt wurden an
die Wiener Kultusgemeinde als Rechtsnachfolgerin der untergegangenen
Gemeinden rückgestellt. Die IKG Wien war mit einem Male für all diese und
dazu noch alle anderen Friedhöfe alleine zuständig und hatte keine
ausreichenden finanziellen Mittel für deren Erhalt zur Verfügung; von
öffentlicher Hand wurde dies jahrzehntelang gar nicht unterstützt. Die
Anlagen befinden sich heute daher teilweise in einem äußerst schlechten
Erhaltungszustand. Friedhöfe müssen jedoch aus religiösen Gründen erhalten
werden, da die Gräber den Toten gehören bis zum Jüngsten Tag. Ihre Auflösung
ist daher undenkbar.
Zu den Friedhöfen der jüdischen Gemeinden und
Bethausvereine kommen jüdische Abteilungen oder auch einzelne Grabstätten
auf kommunalen bzw. auch in unmittelbarer Nachbarschaft zu kirchlichen
Friedhöfen. Dieser Umstand findet seine Erklärung in der Entstehungszeit
jener Gemeinden bzw. Interessensgemeinschaften; je später deren Gründung
erfolgte, und je kleiner die Gruppe war, desto klarer ist ihre Tendenz zur
Assimilation, ihr säkularer Charakter steht deutlich imVordergrund.
Abgesehen von den Friedhöfen verweisen zahllose
Gedenksteine auf die Massengräber, in denen die Opfer der Verbrechen an
jüdischen Zwangsarbeitern und Häftlingen während des Nationalsozialismus
liegen. Diese Seite jüdischer Vergangenheit ist bis heute den meisten völlig
unbewußt.
Anhand von Auszügen aus dem Weißbuch jüdischer Friedhöfe
und Grabstätten in Österreich, das von der Autorin für den Bundesverband der
Kultusgemeinden Österreichs verfaßt worden ist
4
bieten die folgenden Orte eine Auswahl aus der Fülle an Material.
Die Route: Historische Einführung
Die Entstehung vieler jüdischer Gemeinden im Wein- und
Waldviertel fällt ins 19. Jahrhundert, als aus Böhmen und Mähren eine breite
Zuwanderung nach Niedösterreich, aber auch nach Wien einsetzte. In den
frühen Jahren dieser Bewegung war der Hauptgrund dafür im sogenannten
Familiantengesetz gelegen. Dieses regelte die Gesamtzahl der jüdischen
Haushalte in den Herkunftsländern Böhmen und Mähren und bestimmte, daß pro
Familie jeweils nur ein Sohn sich verehelichen durfte, damit à la longue die
Zahl der Familien konstant gering blieb. Später gaben die verbesserten
Zuwanderungsbedingungen den Migrationsbewegungen weiteren Auftrieb; auch
Familien aus Ungarn, Schlesien und Galizien zogen zu.
Hochgestecktes Ziel war für die meisten Familien die
Residenzstadt Wien. In den niederösterreichischen Orten wurden auf dem Weg
dorthin strategische Zwischenstationen eingerichtet. Diese erhielten den
Kontakt zwischen den Migranten und ihren Herkunftsgemeinden aufrecht, es
entstand ein eng geflochtenes Netz von Geschäftsbeziehungen zwischen alten
und neuen Gemeinden und Familien.
Gehandelt wurden Güter der Heimatgemeinden, und zwar bis
nach Wien. Aus Nikolsburg und Umgebung etwa wurden Geflügel und Pferde bis
nach Wien exportiert: Familien wie die Eisingers aus Podivín hatten
Angehörige in Zistersdorf, Mistelbach, Laa an der Thaya und anderen Orten,
aber auch in Wien. Die Etablierung in der Hauptstadt gelang mitunter erst
ein oder zwei Generationen später, nachdem der erste Angehörige die
Heimatgemeinde verlassen und nach Niederösterreich gezogen war.
Die Rekonstruktion dieser jüdischen Familien ist heute
meist nur mehr über die Grabinschriften der lokalen Friedhöfe möglich, die
damit eine ganz wichtige Quelle für die jüdische Familiengeschichte
darstellen. Zum ersten Mal in Österreich wurden biografische Daten der
jüdischen Bevölkerung auf der Basis eines Friedhofes unter der Leitung der
Autorin zwischen 1995 und 2001 in einem Forschungsprojekt zum Währinger
jüdischen Friedhof in Wien datenbankmäßig erfaßt. Die Ergebnisse dieser
Grundlagenforschung machen einmal mehr die herausragende Bedeutung der
jüdischen Friedhöfe für die Forschung deutlich. Inzwischen wurden auf
Initiative des Vereines "Schalom" auch die meisten auf
niederösterreichischen jüdischen Friedhöfen Beerdigten bereits elektronisch
erfaßt. Ein großer Teil dieser Daten ist in Internet-Datenbanken abrufbar,
unter anderem auf der Homepage der IKG Wien unter www.ikg-wien.at/religion/friedhoefe
oder jener der internationalen jüdisch-genealogischen Gesellschaft unter
www.jewishgen.org.
Ein Lokalaugenschein auf den jüdischen Friedhöfen wird
belohnt durch interessante Grabmale und Inschriften, die nicht nur Einblick
in familiäre Zusammenhänge bieten, sondern auch facettenreiche Abbilder
untergegangener jüdischer Gemeinden darstellen.
Eine Beschreibung der Anfahrtswege zu den einzelnen
Anlagen bietet der Verein Schalom auf seiner Homepage unter
www.schalom.at/friedhoefe.
5
Besuchstage sind Sonntag bis Freitag (ausgenommen jüdische Feiertage). Über
die Aufbewahrung des Friedhofsschlüssels erteilen die technische Abteilung
der Wiener Kultusgemeinde bzw. die einzelnen Ortsgemeinden Auskunft.
Groß-Enzersdorf
In Groß-Enzersdorf bestand eine eigene Kultusgemeinde,
die den gesamten Gerichtsbezirk Groß-Enzersdorf umfasste neben
Groß-Enzersdorf selbst vor allem die Ortschaften Raasdorf, Markgrafneusiedl,
Obersiebenbrunn, Leopoldsdorf und Oberhausen. Nach der Revolution von 1848,
und vermehrt nach der bürgerlichen Gleichstellung von 1867 waren Juden aus
Mähren, aus der heutigen Slowakei, Böhmen, Galizien sowie aus Deutsch-Wagram
und dem Gerichtsbezirk Wolkersdorf zugezogen. Sie betrieben Landwirtschaft
oder widmeten sich dem Kornhandel und trugen wesentlich zum wirtschaftlichen
Aufschwung der Region bei. Der wirtschaftliche Erfolg ermöglichte ihnen,
Haus- und Grundbesitz zu erwerben; im Jahr 1900 waren 14 von 156 Häusern in
jüdischem Besitz, das waren immerhin 8,9 Prozent. 1938 zählte die
Kultusgemeinde Groß-Enzersdorf 150 Personen oder 56 Familien. Von den 93
Personen aus der Stadt Groß-Enzersdorf kamen 53 um, von den 57 jüdischen
Bewohnern der zugehörigen kleinen Orte überlebten nur 24 die
Nazi-Herrschaft.
6
Die Synagoge von Groß-Enzersdorf in der
Kaiser-Franz-Josef-Straße wurde 1893 erbaut, ihre Ruine erst 1961
abgerissen.
7
Der Friedhof befindet sich im Ortsteil Oberhausen in der
Robert Stolz-Gasse, umfasst rund 5.000 m² und 86 Gräber. Die genaue Anzahl
der erhaltenen Grabstellen und Grabsteine vor Ort festzustellen ist aufgrund
von Bewuchs und Zerstörungen unmöglich. Ein großer Teil der Grabsteine war
bereits in der NS-Zeit umgeworfen und zertrümmert, einige größere Steine
sowie jene der Kindergräber verschleppt worden.
8
Die Zeremonienhalle ist erhalten, befindet sich allerdings in schlechtem
Zustand. Sie war bereits von Nazi-Vandalen teilweise abgetragen, ihre Ziegel
anderweitig verwendet und der noch vorhandene Leichenwagen gestohlen worden.9
Auf dem Friedhofsgelände wurden unter anderem die Opfer
einer frühen Diphterie-Epidemie, die meisten von ihnen Kinder, beerdigt.
Auch alle in Orth an der Donau angeschwemmten jüdischen Leichen aus Wien
wurden auf dem Groß-Enzersdorfer Friedhof bestattet.
10
Außerdem besteht eine Grabstelle für eine jüdische Zwangsarbeiterin. Es
handelt sich um Berta Rosinger aus Ungarn, geboren am 16. 4. 1864, die am
17. 3. 1945 im Zwangsarbeitereinsatz bei der Firma Waagner-Biró in Wien 22,
Stadlau, Industriestraße umgekommen ist.11
Deutsch-Wagram
In den 1870er Jahren hatte Deutsch-Wagram 130 jüdische
Einwohner mit einem eigenen Bethaus.
12
In der Fabrikstraße 4, anschließend an das Gelände der
Bahn befindet sich auf etwa 1.800 m² das Areal des völlig zerstörten
jüdischen Friedhofes. Ein Gedenkstein auf einem Hügel erinnert an seine
ursprüngliche Bestimmung. Die genaue Anzahl der Grabstellen ist bisher nicht
bekannt. Laut Leopold Moses war der Friedhof 1870 eröffnet worden, jedoch zu
Beginn des 20. Jahrhunderts bereits wieder geschlossen.
13
Gänserndorf
Im Jahr 1866 wandten sich die Juden von Gänserndorf an
die Kultusgemeinde in Wien mit der Bitte, ihnen für ihren Gottesdienst eine
Thorarolle zu überlassen.
14
Die bald darauf errichtete Synagoge wird seit 1973 als Musikschule der
Gemeinde Gänserndorf genutzt.15
An der Bundesstraße 8, 1,5 km vor der Ortschaft aus
Richtung Straßhof/ Silberwald kommend liegt 50 Meter rechts von der
Bundesstraße der jüdische Friedhof von Gänserndorf (Hinweistafel vorhanden).
Er umfasst auf rund 1.500 Quadratmetern 120 Gräber, die sehr gut gepflegt
sind. Der Friedhof wurde erst im Winter 2002 zum letzten Mal geschändet.
Ollersdorf
Hier bestand ein jüdischer Bethausverein: 1863 ersuchte
dieser die Wiener Kultusgemeinde um Überlassung einer Thorarolle zur
Abhaltung des Gottesdienstes.
16
Dürnkrut
Die hier lebenden Juden wurden im Juli und August 1938
aus Dürnkrut vertrieben, Kinder aus sogenannten Mischehen mußten den Ort im
Oktober des gleichen Jahres verlassen. Hugo Gold berichtet über ihr weiteres
Schicksal:
" 1. Durch Selbstmord endeten 1942 in Wien: Altbach
Isidor, Kaufmann mit Frau, Lustig Simon, Kaufmann mit Frau. 2. In den
Gaskammern fanden 1942 den Tod: Blau Friedrich, Glasermeister mit Frau,
Cäcilie Krakauer, Witwe, Rosenberg Johann, Viehhändler mit Frau, Samuel
Krakauer, Ökonom. 3. In der Irrenanstalt Steinhof starb 1939: Koppel Oskar,
Branntweinschenke."
17
In der Dr. Ponzauner-Straße, im Nordosten an den
Kommunalfriedhof anschließend, besteht ein jüdischer Friedhof von rund 1.600
m². 14 Gräber sind heute noch erkennbar, davon 9 mit Grabstein. Eine genaue
Anzahl der erhaltenen Grabstellen ist vor Ort nicht feststellbar, da das
Areal ungepflegt und stark überwachsen ist. Ein einziges Grab wird heute
noch betreut und weist eine gärtnerische Gestaltung auf.
Hohenau
1869 gab es in Hohenau 23 jüdische Familien, zumeist aus
Mähren und der heutigen Slowakei. Ihre Angehörigen waren Kaufleute, die
entlang der ganzen March mit Holz und Vieh handelten, aber auch Gastwirte.
Administrativ war die Gemeinde Hohenau an die Mistelbacher Kultusgemeinde
angeschlossen, sie umfasste unter anderem auch die Ortschaften
Nieder-Absdorf, Hausbrunn, Palterndorf und Rabenburg.
18
Zu ihr gehörten eine Chewra Kadischa und ein jüdischer Frauenverein.
Sämtliche Familien wurden im August 1938 aus Hohenau vertrieben, die meisten
kamen in den Konzentrationslagern um. Ein einziger Jude kehrte nach Hohenau
zurück.19
Die Synagoge von Hohenau, 1899 vom berühmten jüdischen
Architekten Max Fleischer im Stil der Neo-Renaissance erbaut, befand sich in
der Dammgasse.
20
Sie wurde zwar in der Pogromnacht 1938 nicht zerstört, aber dennoch im
darauffolgenden Jahr abgerissen.21
Der Friedhof besteht seit 1879 - bis dahin waren die
Verstorbenen nach St. Johann überführt worden. Um 1920 wurde er erweitert.
Tobias Dasche, jüdisches Gemeindemitglied, stiftete zum Andenken an seine
verstorbene Tochter eine vergrößerte Friedhofsmauer dazu. Am 31. 10. 1933
wurde der Friedhof von Mitgliedern eines auswärtigen Sportvereines als
erster jüdischer Friedhof Österreichs geschändet. Der Hohenauer Pfarrer
wurde für seine Predigt, in der er diese Tat verurteilte, nach der
Machtübernahme durch die Nazis 1938 durch das Einschlagen seiner Fenster
bestraft.
22
Der Friedhof befindet sich in der Falkengasse und umfasst
auf einer Fläche von rund 1.800 m², soweit erkennbar, 128 Gräber. Auf ihnen
bestehen heute noch 85 Grabsteine. Die exakte Anzahl der erhaltenen
Grabstellen und Grabsteine ist aufgrund des starken Bewuchses sowie der
Zerstörungen vor Ort nicht feststellbar.
Bad Pirawarth
In diesem kleinen Kurort bestand lediglich eine kleine
jüdische Abteilung auf dem Ortsfriedhof, die offenbar für die während ihres
Aufenthaltes in Bad Pirawarth verstorbenen Kurgäste eingerichtet worden war.
Die 85 m² große Anlage besteht aus 10 Gräbern, 7 Steine davon sind erhalten.
Mistelbach
23
Mistelbach hatte seit 1890 eine eigene Kultusgemeinde mit
225 Mitgliedern, zu der der politische Bezirk Mistelbach sowie Teile des
politischen Bezirkes Gänserndorf gehörten. Die Synagoge von Mistelbach
befand sich in der Oserstraße und wurde ende der 70er Jahre demoliert.
24
Dies ist umso bedauerlicher, als es sich hier um einen bedeutenden, sehr
frühen krichenähnlichen Bau Max Fleischers gehandelt hat, der vermutlich in
Anlehnung an die Synagoge von Kassel gestaltet worden war.25
Zusätzlich waren 3 Bethäuser vorhanden, sowie Chewra Kadischa, Friedhof und
ein "israelitischer Frauenwohltätigkeitsverein".26
Außerhalb des Stadtkerns, in der Waldstraße 104 befindet
sich der große jüdische Friedhof mit rund 5.000 Quadratmetern und 131 vor
Ort erkennbaren Grabstellen. Das Areal ist ausgezeichnet gepflegt.
Laa an der Thaya
Hier bestand einst eine Synagoge. Auf dem
Kommunalfriedhof finden sich einige jüdische Grabstellen.
Hollabrunn
27
In Hollabrunn bestand eine jüdische Kultusgenossenschaft,
die die Agenden einer Kultusgemeinde führte. Sie verfügte über eine
Synagoge, eine Chewra Kadischa und einen Friedhof.
28
Die Synagoge von Hollabrunn wurde 1946 von der
Ortsgemeinde angekauft, die das Gebäude umbaute und darin Wohnungen, in
erster Linie für Krankenschwestern, einrichtete.
29
Am 22. Juni 1876 kaufte die Kultusgenossenschaft ein
erstes Grundstück für Friedhofszwecke an, 1909 wurde das Areal erweitert. Es
befindet sich weit außerhalb der Ortschaft in der Steinfeldgasse 360 und
umfasst auf rund 6.000 Quadratmetern 150 Gräber mit 130 erhaltenen Steinen,
sowie vier Grüfte entlang der Friedhofsmauer. Der Friedhof ist gut gepflegt,
lediglich der Grabbewuchs hat die Grabinschriften längst überwuchert, sodass
diese zum Teil gar nicht mehr lesbar sind. Bemerkenswert sind die erhaltenen
schmiedeeisernen Schilder der einzelnen Gräbergruppen heute eine absolute
Rarität auf jüdischen Friedhöfen.
Stockerau
In Stockerau konstituierte sich 1905 eine eigene
Kultusgemeinde, 1907 eine Chewra Kadischa. Ein Bethausverein hatte seit 1856
bestanden, das Friedhofsareal war bereits 1874 erworben worden.
30
Die Synagoge in der Schießstattgasse wurde bereits 1938 in eine evangelische
Kirche umgewandelt.31
Der jüdische Friedhof befindet sich vis-à-vis des
Kommunalfriedhofes in der Schießstattgasse 122. Auf rund 12.600 m² finden
sich heute 136 Gräber. Das Gelände ist sehr gut gepflegt.
Auf diesem Friedhof wurde auch ein Massengrab für 6
Personen angelegt. Über das genaue Schicksal eines der Opfer, und um seinen
Verbleib herrschte einige Verwirrung. Zunächst hieß es: " [Die] Namen der 5
Leichen sind unbekannt da selbe aus dem Transport hinaus geworfen wurden."
32
In seiner Erhebungsaktion stieß Dr. Ernst Feldsberg dann auf folgenden
Sachverhalt:
"Samuel Feldheim gestorben am 15. 8. 1944 im Krankenhaus
Stockerau war Zwangsarbeiter im Gemeinschaftslager Kallinger in
Sitzenberg-Reidling. Er erlitt dort einen Unfall, der zu seinem Tode führte.
Er wurde am 17. August 1944 in ein gemeinsames Grab mit Katholiken auf dem
katholischen Friedhof in einem eigenen Holzsarg auf dem Friedhof Stockerau
bestattet."
33
Zusätzlich wurde über Abraham Feldheim, der laut einer
anderen Quelle als Zwangsarbeiter eines Konzentrationslagers in Stockerau
verstorben war, bekannt, daß er Vorstandsmitglied der israelitischen
Kultusgemeinde Szeged gewesen war.
34
Schließlich berichtete Feldsberg an den Sohn des Verstorbenen folgendes:
"Herr Samuel Feldheim ist am 15. 8. 1944 im Krankenhaus
Stockerau als Zwangsarbeiter beschäftigt gewesen, ein dort erlittener Unfall
führte zu seinem Tod. Der Verstorbene wurde vorerst am 17. August 1944
gemeinsam mit anderen Toten (Nichtglaubensjuden) auf dem katholischen
Friedhof in Stockerau in einem eigenen Holzsarg bestattet. Am 30. Jänner
1945 wurde die Leiche Ihres Vaters exhumiert und auf dem israelitischen
Friedhof in Stockerau in einem bereits bestehenden Grabe, in welchem schon
fünf Märtyrer des Judentums beerdigt waren, beigesetzt. [...] In dem
gemeinsamen Grabe ruhen 5 Leichen, und zwar handelt es sich um jüdische
Märtyrer, welche während eines Transportes durch die Nazis an Erschöpfung
starben und auf dem jüdischen Friedhof in einem Grabe nebeneinander beerdigt
wurden."
35
Schließlich einigte man sich auf folgenden Sachverhalt:
"In Sitzenberg-Reidling befand sich ein
Gemeinschaftslager jüdischer Zwangsarbeiter. Auf dem Weg in dieses Lager
starben fünf Juden, deren Namen unbekannt sind. Dieselben wurden in einem
gemeinsamen Grab auf dem jüdischen Friedhof in Stockerau begraben. Am 17.
August 1944 verstarb im gleichen Lager Samuel Feldheim, der vorerst auf dem
katholischen Friedhof beerdigt, jedoch nachträglich wieder enterdigt und in
dem gleichen Grab wie die fünf unbekannten Märtyrer auf dem jüdischen
Friedhof in Stockerau beigesetzt wurde. Dieses Grab wird von der
Kultusgemeinde betreut. Auf der Grabstelle wurde im Dezember 1963 ein
Grabmal errichtet mit folgender Inschrift: In diesem Grab ruhen sechs
jüdische Zwangsarbeiter, welche als Opfer des Nationalsozialismus den
Märtyrertod gestorben sind. Fünf sind namenlos. Der zuletzt Bestattete war
Samuel Feldheim aus Szeged in Ungarn (1884-1944)."
36
Korneuburg
1872 wohnten in Korneuburg 63 Juden mit einem eigenen
Kultusverein. Im Haus Hauptplatz 19 bestand ihre Betstube.
37
Nur 18 Jahre später waren es bereits 88 Personen, ihr Verein war in der
Zwischenzeit in die Kultusgemeinde Floridsdorf einbezogen worden.38
Auf dem Kommunalfriedhof findet sich eine ausgezeichnet
gepflegte, durch Heckenbepflanzung vom christlichen Teil abgegrenzte
jüdische Abteilung, die 9 Steine und Grabmäler sowie 12 von der Wiener
Chewra Kadischa später gestiftete Grabtafeln umfasst.
Überblick über weitere jüdische Friedhöfe und Grabstätten
in Niederösterreich
In folgenden Ortschaften Niederösterreichs existieren
weitere jüdische Friedhöfe:
Baden, Bruck an der Leitha (Abteilung auf dem
Kommunalfriedhof), Horn, Klosterneuburg, Krems (neuer und alter, heute
verschwundener Friedhof), Mödling, Tulln, Michelndorf, Neulengbach,
Neunkirchen, Oberstockstall, St. Pölten (alter und neuer Friedhof),
Waidhofen an der Thaya, Wiener Neustadt, Ybbs an der Donau bzw. Göttsbach
(zwei Friedhöfe der Kultusgemeinde Amstetten, von denen der ältere in Ybbs
bereits Anfang des 20. Jahrhunderts geschlossen war) und Zwettl.
Weitere Massengräber in Niederösterreich befinden sich
unter anderem in:
Abstetten bei Tulln, Bad Deutsch Altenburg, Brand bei
Gmünd, Bruck an der Leitha, Echsenbach, Emmersdorf an der Donau, Felixdorf,
Gleiß bei Sonntagberg, Gloggnitz, Gmünd, Göstling an der Ybbs, Gresten,
Groß-Siegharts, Melk, Petzenkirchen, St. Georgen, St. Pölten, Strassberg,
Strasshof an der Nordbahn, Unterdammbach bei Neulengbach sowie Weissenbach
an der Triesting.
Übersicht über Zerstörungen an jüdischen Friedhöfen in
Niederösterreich
Allen jüdischen Friedhöfen wurden in der NS-Zeit schwere
Zerstörungen zugefügt. Bereits während der Pogrome am 9./10. November 1938
wurden folgende Friedhofsanlagen in Niederösterreich zerstört: Baden,
Dürnkrut, Gänserndorf, Hohenau, Hollabrunn, Horn, Klosterneuburg, Krems,
Marchegg, Michelndorf, Mistelbach, Göttsbach/Mitterburg, Mödling,
Neunkirchen, Neulengbach, St. Pölten, Stockerau, Waidhofen an der Thaya,
Wiener Neustadt und Zwettl.
Die Friedhofsgelände von Deutsch-Wagram, Marchegg, Krems
(alter Friedhof) und Ybbs (alter Friedhof) wurden seither zur Gänze
zerstört.
Beherzte Friedhofswärter konnten die jüdischen Friedhöfe
von Klosterneuburg, Korneuburg, Mistelbach, Stockerau und Wiener Neustadt in
der Zeit des Nationalsozialismus vor der Vernichtung retten.
Grabsteine der jüdischen Friedhöfe von Göttsbach an der
Ybbs, Waidhofen an der Thaya und Zwettl wurden zerstört, verkauft bzw.
entfernt.
Folgende Friedhofsgebäude wurden erst nach 1945
abgerissen: In der Nachkriegszeit Dürnkrut, Hohenau, Mödling, Oberstockstall
und Zwettl, in den 1990er Jahren Hollabrunn (Friedhofswärter-Haus und
Zeremonienhalle) sowie Stockerau.
Im Verhältnis zur jeweiligen Größe der Anlage sind heute
die Grabsteine auf den jüdischen Friedhöfen Baden, Großenzersdorf,
Klosterneuburg, Neulengbach, Tulln und Wiener Neustadt in großem Ausmaß
umgestürzt. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Öffentlichkeit bald der
Sanierung und Erhaltung dieser wichtigen Kulturdenkmäler, die jüdische
Friedhöfe in Niederösterreich darstellen annimmt und so ihre weitere
Zerstörung verhindert.
1 Vgl. Dazu grundlegend GOLD, Hugo: Geschichte der Juden
in Österreich. Ein Gedenkbuch. Tel Aviv 1971 sowie MOSES, Leopold:
Spaziergänge. Studien und Skizzen zur Geschichte der Juden in Österreich.
Hg. v. Patricia Steines. Wien 1994.
2 Dazu neuerdings auch BAUMGARTNER, Walter/ Robert
STREIBEL: Juden in Niederösterreich. "Arisierung" und Rückstellung in den
Städten Amstetten, Baden, Hollabrunn, Horn, Korneuburg, Krems, Neunkirchen,
St. Pölten, Stockerau, Tulln, Waidhofen an der Thaya und Wiener Neustadt.
Wien 2004. (= Veröffentlichungen der österreichischen Historikerkommission.
Bd. 18)
3 vgl. im Detail GENÉE, Pierre: Synagogen in Österreich.
Wien 1992.
4 WALZER, Tina: Weißbuch über Pflegezustand und
Sanierungserfordernisse der jüdischen Friedhöfe in Österreich. Mit einer
Kostenübersicht von Wolfgang Hirt. Im Auftrag der IKG Wien August 2001
April 2002. 6 Bde. O. O., o. J. [Wien 2002], sowie dies.: Erhebungen über
Massengräber, Mahnmale, Gedenkstätten und Gedenksteine in Österreich. Im
Auftrag der IKG Wien August 2001 September 2002. O. O., o. J. [Wien 2002]
5 Überdies steht eine schriftliche Broschüre zur
Verfügung, zu beziehen über IKG Wien, 1, Seitenstettengassse 4: Wegweiser
für Besucher der jüdischen Friedhöfe und Gedenkstätten in Wien,
Niederösterreich, Burgenland, Steiermark und Kärnten. Hg. v. Verein "Schalom".
Januar 1999.
6 Vgl. KATZ, Karl: Geschichte der Juden in
Groß-Enzersdorf. In: GOLD, Hugo: Geschichte der Juden in Österreich. Ein
Gedenkbuch. Tel Aviv, S. 21f.
7 Vgl.ebenda, S. 22.
8 Vgl.ebenda, S. 22.
9 Vgl.ebenda, S. 22.
10 Vgl.ebenda, S. 22.
11 Quelle: IKG Wien, B 19 AD XXVII, c, d Feldsberg-Akte,
Mappe Massengräber von jüd. Märtyrern Verzeichnis festgestellter Namen der
Opfer unfoliiert, Liste Diverse Dr. Feldsberg 35 Seiten undatiert
12 Vgl. MOSES, Leopold: Spaziergänge. Studien und
Skizzen zur Geschichte der Juden in Österreich. Hg. v. Patricia Steines.
Wien 1994, S. 124.
13 Vgl.ebenda, S. 117.
14 Vgl. MOSES, Leopold: Spaziergänge. Studien und
Skizzen zur Geschichte der Juden in Österreich. Hg. v. Patricia Steines.
Wien 1994, S. 126.
15 Vgl. KOLLER-GLÜCK, Elisabeth: Von den neuzeitlichen
Synagogen in Niederösterreich. In: Denkmalpflege in Niederösterreich. Bd.
15: 50 Jahre danach Kulturgut nach dem Krieg (=Mitteilungen aus
Niederösterreich Nr. 5/1995), S. 26.
16 Vgl. MOSES, Leopold: Spaziergänge. Studien und
Skizzen zur Geschichte der Juden in Österreich. Hg. v. Patricia Steines.
Wien 1994, S. 141.
17 Vgl. GOLD, Hugo: Untergegangene Judengemeinden:
Dürnkrut. In: GOLD, Hugo: Geschichte der Juden in Österreich. Ein
Gedenkbuch. Tel Aviv, S. 105.
18 Vgl. ZEISSNIK, Robert: Geschichte der Juden in
Hohenau. In: GOLD, Hugo: Geschichte der Juden in Österreich. Ein Gedenkbuch.
Tel Aviv, S. 25.
19 Vgl.ebenda, S. 26.
20 Vgl.ebenda, S. 25.
21 Vgl. KOLLER-GLÜCK, Elisabeth: Von den neuzeitlichen
Synagogen in Niederösterreich. In: Denkmalpflege in Niederösterreich. Bd.
15: 50 Jahre danach Kulturgut nach dem Krieg (=Mitteilungen aus
Niederösterreich Nr. 5/1995), S. 25.
22 Vgl. ZEISSNIK, Robert: Geschichte der Juden in
Hohenau. In: GOLD, Hugo: Geschichte der Juden in Österreich. Ein Gedenkbuch.
Tel Aviv, S. 25.
23 Literatur: EYBEL, Heinz: Verdrängt und vergessen. Die
jüdische Gemeinde in Mistelbach. Mistelbach 2003.
24 Vgl. KOLLER-GLÜCK, Elisabeth: Von den neuzeitlichen
Synagogen in Niederösterreich. In: Denkmalpflege in Niederösterreich. Bd.
15: 50 Jahre danach Kulturgut nach dem Krieg (=Mitteilungen aus
Niederösterreich Nr. 5/1995), S. 25.
25 Vgl.ebenda, S. 27.
26 Vgl. GOLD, Hugo: Untergegangene Judengemeinden:
Dürnkrut. In: GOLD, Hugo: Geschichte der Juden in Österreich. Ein
Gedenkbuch. Tel Aviv, S. 108.
27 Literatur: GOLLONITSCH, Ulrike (Hg.): Als wäre nichts
geschehen. Die jüdische Gemeinde in Hollabrunn. Wien 1990.
28 Vgl. N. N.: Geschichte der Juden in Hollabrunn. In:
GOLD, Hugo: Geschichte der Juden in Österreich. Ein Gedenkbuch. Tel Aviv, S.
33.
29 Vgl. KOLLER-GLÜCK, Elisabeth: Von den neuzeitlichen
Synagogen in Niederösterreich. In: Denkmalpflege in Niederösterreich. Bd.
15: 50 Jahre danach Kulturgut nach dem Krieg (=Mitteilungen aus
Niederösterreich Nr. 5/1995), S. 26.
30 Vgl. MOSES, Leopold: Spaziergänge. Studien und
Skizzen zur Geschichte der Juden in Österreich. Hg. v. Patricia Steines.
Wien 1994, S. 147.
31 Vgl. KOLLER-GLÜCK, Elisabeth: Von den neuzeitlichen
Synagogen in Niederösterreich. In: Denkmalpflege in Niederösterreich. Bd.
15: 50 Jahre danach Kulturgut nach dem Krieg (=Mitteilungen aus
Niederösterreich Nr. 5/1995), S. 26.
32 Quelle: IKG Wien, B 19 AD XXVII, c, d Feldsberg-Akte,
Mappe Sammelgrab Ortsfriedhof Stockerau Sammelgrab 6 Leichen unfoliiert,
handschriftliche Notiz nicht gezeichnet undatiert
33 Quelle: IKG Wien, B 19 AD XXVII, c, d Feldsberg-Akte,
Mappe Sammelgrab Ortsfriedhof Stockerau Sammelgrab 6 Leichen unfoliiert,
Abraham Feldheim an IKG Wien 22. 11. 1961
34 Quelle: IKG Wien, B 19 AD XXVII, c, d Feldsberg-Akte,
Mappe Sammelgrab Ortsfriedhof Stockerau Sammelgrab 6 Leichen unfoliiert,
Abraham Feldheim an IKG Wien 28. 12. 1961
35 Quelle: IKG Wien, B 19 AD XXVII, c, d Feldsberg-Akte,
Mappe Sammelgrab Ortsfriedhof Stockerau Sammelgrab 6 Leichen unfoliiert, IKG
Wien an Abraham Feldheim 9. 2. 1962
36 Quelle: IKG Wien, B 19 AD XXVII, c, d Feldsberg-Akte,
Mappe Bericht über Friedhöfe 1955-1964 unfoliiert, Dr. Ernst Feldsberg an
Regierungsrat Krell 23. 7. 1964 Beilage 7
37 Vgl. MOSES, Leopold: Spaziergänge. Studien und
Skizzen zur Geschichte der Juden in Österreich. Hg. v. Patricia Steines.
Wien 1994, S. 135.
38 Vgl. N. N.: Korneuburg. In: GOLD, Hugo: Geschichte der Juden in
Österreich. Ein Gedenkbuch. Tel Aviv, S. 45.