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Facettenreiches jüdisches Stadtleben
Isabella MARBOE
Ein vielschichtiges Sittenpanorama jüdischen Lebens im
Wien der Zwischenkriegszeit zeichnete die Schau "Wien, Stadt der Juden. Die
Welt der Tante Jolesch" im jüdischen Museum. Sie ist vorbei, im reich
bebilderten Katalog lebt sie jederzeit wieder auf. Von der Stetl-Kultur zum
Zionismus, vom "Roten Wien" bis zur Hochblüte des Regietheaters unter Max
Reinhardt reicht das Spektrum jüdischen Lebens. Schillernde Persönlichkeiten
brachte das fruchtbare Milieu hervor: Sigmund Freud, Arnold Schönberg, Karl
Kraus und viele andere.
"Ich saß im Café Heinrichshof gegenüber der Oper. Ließ
vom Fenster aus das Leben vorübergleiten. Das Leben der Großstadt. Ich
liebte diese Stadt. Alle ihre Geräusche, Gerüche, Sinne und Laster erzählten
mir so eifrig ihre Wichtigkeiten. Die elektrische Trambahn klingelte und
lärmte, Kutscher schrien und fluchten, Autos tuteten protzig und herrisch,
Menschen eilten im Schnellschritt zwischen Wagen, Elektrischen, Autos und
Gott weiß was atembeklemmend höllisch hindurch. Ein einziges Chaos 1,"so
beginnt Fritz Karpfens Text. Gar nicht anzüglich, sondern klug und eloquent
entwirft er das blumige Sittenpanorama der pulsierenden Metropole, die Wien
einst war.
Mit enormer Dokumentenfülle, in stilvollen Rahmen von
Ausstellungsarchitekt Gustav Pichelmann in die Wand integrierten Monitoren
mit zeitgenössischen Filmen entführte die Festwochenschau "Wien, Stadt der
Juden. Die Welt der Tante Jolesch" in das brodelnde Wien der
Zwischenkriegszeit. Joachim Riedl kuratierte sie umfassend breit, er gab
auch den umfangreichen Katalog heraus.
Der Weg in den einstigen Reichtum einer lebendigen,
vielfältigen, stadtbildprägenden jüdischen Kultur beginnt beim legendären
Wunderteam. Mit "Spüüts euer Spüü!" spornte der charismatische, jüdische
Trainer Hugo Meisl seine Mannschaft zum Länderspiel gegen England am
7.12.1932 an. Dass das von der RAVAG direkt übertragene Schicksalsmatch mit
3:4 gegen die Briten verloren wurde, tat dem begeisterten Empfang durch
10.000e Anhänger keinen Abbruch. Als Architekt und Impresario eines
Sportlerkollektivs, das zu einer Ikone österreichischer Identität wurde,
ging Meisl in die Annalen ein. Kulturstadtrat Viktor Matejka ließ dieses
Sportereignis später vom Maler Paul Meissner in einem Monumentalgemälde des
aufs Feld stürmenden Teams festhalten. Es zeigt Hugo Meisl, der im
"Ringcafe" die Aufstellung auszutüfteln pflegte, vornehm mit Mantel, Hut und
Schal.
Ein buntes Potpourri aus Exponaten wie der Aufnahme der
Hellerschen Schokoladefabrik, des Kaufhauses Zwieback, vornehmer Geschäfte
wie Knize & Comp., Rolandbühne und Leicht-Variete im Prater geben einen
Überblick über die kulturhistorische Bandbreite. In die aufgeschlagene Seite
des Kundenbuchs von E. Braun& Co. am Graben trugen sich u.a. Erzherzogin
Ileana, Prinzessin von Rumänien und die berühmte Volksschauspielerin Hansi
Niese ein.
201.513 Juden 1923 in Wien, für ihre Kinder gab es 83
Volks-, 58 Haupt- 55 Mittel-und 24 Talmudschulen, außerdem 29
Jugendorganisationen, 8 Studenten-und 11 Sportvereine. Von 1933-36 standen
in Wien 95 Synagogen mit 29.000 Sitzplätzen. Eingezeichnet am Wiener
Stadtplan, wird ein dichtes Netz an Institutionen erkennbar, die sich
gehäuft in der Inneren Stadt, sowie in der Brigittenau und Leopoldstadt
finden.
Hier, rund um den ehemaligen Franz-Josefs Bahnhof lebten
vor allem die orthodoxen Einwanderer aus dem Osten, zwei Mal fand in Wien
der Weltkongress ihres Verbandes, der Agudas Jisroel, statt. Auch die
Stetl-Kultur der Chassidim erblühte hier, der von ihnen hochverehrte
Czortkower Rebbe Israel Friedmann starb 1933 in Wien. Aufnahmen seines
Begräbnisses zeigen eine unüberschaubare Menschenmenge auf der Straße. Sie
alle folgten seinem Sarg, brachten den Verkehr zum Erliegen und zwangen so
mit sanfter Gewalt zum angemessenen Stillstand. Diese Anlässe bilden den
Meilenstein, um den herum mit Bildern, Dokumenten, rituellen Gegenständen
das orthodoxe Spektrum des damaligen jüdischen Wien illustriert wird. Wie
ein rechtwinklig aufgeschlagenes, sehr schmales, hochformatiges Buch wirken
sie in der Ausstellungsgestaltung, außen foto-, innen textbedruckt, als
prägnantes, wegweisendes Element.
1925 fand der 14. Zionistenkongress statt. Ein
Chanukka-Leuchter mit Herzl-Konterfei, eine Postkartenserie aus Palästina,
die der Verlag S. Adler aus Haifa herausbrachte, der rege Zulauf, den die "Palästina"-Ausstellung
über die Fortschritte der Kolonien in Eretz Israel machte, verdeutlichen,
welch Faszination Herzls Idee vom jüdischen Nationalstaat in Palästina
ausübte. Selbst vor in Wien fest verankerten Intellektuellen machte die
zionistische Begeisterung nicht Halt. Josef Frank fertigte eine
Projektzeichnung für eine Volksschule unter Palmen in Tiberias an, Hans Beer
lud in einem Brief Arnold Schönberg zu sich nach Paris, um die Zukunft
zehntausender Siedler in Palästina zu erörtern. Der Erfinder der
Zwölftonmusik arbeitete damals intensiv an "Der biblische Weg, Schauspiel in
drei Akten", einer politischen Parabel, für die er auch ein Bühnenbild
entwarf. Herzls Bewegung löste allerdings nicht nur Euphorie, sondern ebenso
starke Ablehnung aus. Hochalarmiert plakatierte der Verband
deutschnationaler Juden: "Viel zu lange haben wird deutschfühlenden Juden
dem Zionismus Duldung entgegengebracht!...Wer Heimatrecht auf deutschem
Boden beansprucht, muß auch im Herzen ein ganzer Deutscher sein!" Ein
Exponat, dem der spätere Geschichtsverlauf wahrhaft tragische Dimension
verleiht, das aber deutlich die Inhomogenität der Wiener Juden belegt.
"Völker leben gegeneinander, ineinander. Das Wr. Judentum
ist vom Überfluss der schönsten und kulturreichsten deutschen Stadt
gewachsen, es hat hier die größte Fruchtbarkeit entwickelt, die irgendeinem
westlichen Judentum beschieden war. Ohne die Juden wäre Wien nicht, was es
ist, wie ohne Wien ihr Dasein in den neueren Jahrhunderten seiner stolzesten
Seite verlustig ginge. Kein Eingriff vermag diesen Lebensprozess rückgängig
zu machen," 2
schrieb Hans Tietze 1933 mit fast visionärem Weitblick. Auch an den
bahnbrechenden sozialen Errungenschaften des "Roten Wien" waren Juden
maßgeblich beteiligt. Mit einem so innovativ wie zielgerichtet gestaffelten
Steuersystem, das u.a. für Autos, Reitpferde, Dienstboten oder in
Auktionshäusern und Vergnügungsstätten eingehoben wurde, legte
Finanzstadtrat Hugo Breitner den Grundstein zum kommunalen Wohnbauprogramm.
So musste beispielsweise Baron Rothschild für seine vier Palais einen
Wohnbausteuerbetrag berappen, der damals 15.000 Arbeiterwohnungen entsprach.
Der ehemalige Länderbank-Generaldirektor Breitner wurde so zum Feindbild der
austrofaschistischen Regierung, konnte aber mit seinem progressiven
Steuersystem über 60.000 Sozialwohnungen finanzieren, die dem elenden
Zinshauskasernendasein der armen Bevölkerungsschichten langsam ein Ende
setzten. Ihre Leistungen wusste die stolze Gemeinde in Filmen, Broschüren
u.Ä. entsprechend zu vermarkten. Im Auftrag des Fremdenverkehrsfonds
erstellte Architekt Erich Leischner einen Stadtplan, in dem die
Gemeindebauten sofort zu sehen waren, der sozialdemokratische Parteisekretär
Robert Danneberg schrieb stolz "Das neue Wien," Otto Neurath entwickelte mit
dem Grafiker Gerd Arnzt eine eigene Methode der Bildstatistik, um die
sozialistischen Errungenschaften auf einen Blick verständlich darzustellen.
Mit dem Wohnbau allein war es nicht getan: Sozialstadtrat
Julius Tandler, dem Herbert Boeckl in einem Porträt ein künstlerisches
Denkmal setzte, nahm sich der Fürsorge an. U.a. erhob er statistisch den
Einfluss des Ehestatus auf die Säuglingssterblichkeit. Max Adler legte im
Buch "Neue Menschen" den Grundstein zu moderner Pädagogik, indem er für
Kinder das Recht auf Kindheit einforderte. Beim Präsident des Wiener
Stadtschulrates, Otto Glöckel, fiel dieses Gedankengut auf fruchtbaren
Boden: Nach dem Motto "Sprengt die engen Klassenzimmer!" initiierte er die
österreichische Schulreform. Im Goethehof entwarfen die beiden Bauhäusler
Friedl Dicker und Franz Singer nach Prinzipien der Montessori-Pädagogik
einen Musterkindergarten, der 1938 zerstört wurde. Wie kindgerecht,
liebevoll und detailreich er geplant war, zeigen die Konstruktionspläne. Von
der ausgetüftelten Farbgebung der Wand-und Bodenflächen über spezielle Möbel
bis hin zur Zahnbürsten und becherablage wurde hier den Kleinen ein ideales
Umfeld geschaffen, historische Aufnahmen zeigen sie beim versunkenen Basteln
oder entspannt schlafen. Franz Singer entwarf einen "Phantasius-Spielkasten",
aus dem sich verschiedene Tiere zusammenbauen lassen. So was hätte man als
Kind auch gern besessen!
Auch im Sakralbau wurde damals mit der
"Neue-Welt-Synagoge" in Hietzing ein Stück einzigartiger Architektur
verwirklicht. Am internationalen Wettbewerb zu diesem Prestigebau der
Kultusgemeinde hatte sich auch Richard Neutra beteiligt, das Siegerprojekt
aber stammt von Arthur Grünberger. Klug und behutsam verbindet der Bau mit
Frauengalerie Tradition und Moderne. Gleichmäßige dekorative Elemente, eine
Kreuzung aus Davidstern und Blume, strukturieren die Fassaden, auch die
Dachzone des klaren Synagogenquaders ist dezent plastisch betont, ein Vorbau
mit zwei Nebeneingängen markiert das Entree. Welch schöne Lichteffekte die
vielen, kleinen Öffnungen im Innenraum erzeugten, kann man an einer
Innenaufnahme des Jahres 1930 bewundern. Sowohl die etablierte wie auch die
liberale jüdische Elite fühlte sich in diesem einzigen Synagogenneubau der
Zwischenkriegszeit repräsentiert.
Im reichen kulturellen Umfeld des
zwischenkriegszeitlichen Wien gedieh eine lebhafte Kunst-und Kabarettszene,
Fritz Grünbaum und Karl Farkas setzten humoristische Marksteine, Oscar
Teller und seine Truppe rückten im Programm "Juden hinaus" dem
Antisemitismus mit scharfem Humor zu Leibe. Am Theater in der Josephstadt
sorgte der große Max Reinhardt kompromisslos und kostenträchtig in
ausgetüftelten Regien für Sternstunden der Theaterhochkultur, im Kunstjahr
1924 präsentierte Friedrich Kiesler seine bis heute bahnbrechend
avantgardistische "Raumbühne". Der zeitgenössischen bildenden Kunst schuf
Rechtsanwaltssohn Dr. Otto Kallir-Nirenstein allen väterlichen Bedenken zum
Trotz in seiner "Neuen Galerie" eine Heimstatt. Eröffnet wurde sie mit einer
Einzelausstellung des jung verstorbenen Egon Schiele, später verfasste
Kallir dessen ersten Oeuvre-Katalog. Er arbeitete eng mit dem "Hagenbund"
zusammen und brachte internationale Künstler wie van Gogh oder Eduard Munch
nach Wien, viele österreichische Maler stellten in der "Neuen Galerie"
erstmals aus.
Große Geister wie Arnold Schönberg, Sigmund Freud oder
den messerscharf formulierenden Karl Kraus brachte dieses fruchtbare
kulturelle Umfeld hervor, doch auch Skandale und Affären, die in der
Zeitungslandschaft des damaligen Wien Schlagzeilen machten, bringt die Schau
in Erinnerung. Wissenschaftler aller Disziplinen entwickelten damals
vermehrtes Interesse am bis dato tabuisierten Thema der Sexualität,
besonderer Popularität erfreute sich der jüdische Schriftsteller und
Publizist Hugo Bettauer. Seine Romane mit reißerischen Titeln wie "Der
Frauenmörder", "Der Tod einer Grete" oder "Die drei Ehestunden der Elizabeth
Lehndorff" avancierten zu Bestsellern, als Lebensratgeber und Trostspender
in Gefühls-und Liebesdingen wurden sie vor allem von der Damenschaft
hochgeschätzt. In eigens von ihm herausgegebenen "Bettauers Wochenschrift
für Lebenskultur und Erotik" schrieb er gegen die Verlogenheit einer
verklemmten Gesellschaft an. "Jawohl, ich habe immer und immer wieder das
arme kleine Mädchen, das seine Liebe nicht von der Kirche segnen lassen
kann, in Schutz genommen, ich bin gegen die entsetzlichen Treibjagden auf
die unglücklichen weiblichen Opfer schlechter brutaler Kerle zu Felde
gezogen, ich habe die wahren, echten Menschenrechte der von brutalem
Männerwillen verprügelten Frau angenommen, ich habe mich der ausgebeuteten
Kinder angenommen, habe versucht, die Sehnsucht und den Schmerz des
Proletariers nachzuempfinden, der für dürftigen Lohn roboten muß," 3
zeigt sich Bettauer als wahrer Freund aller Benachteiligten.
Unter dem Titel "Metaphysik der Haifische" widmete sich
Karl Kraus 4
in der Fackel dem Phänomen der Glücksritter und Spekulanten, um weiter gegen
die Journalisten und die Republik zu wettern, die den beiden populärsten
Protagonisten, Camillo Castiglioni und Siegmund Bosel "kaiserliche Ehren"
erwiesen. Zweiterem wurde per "Bosel-Gesetz" gestattet, ein Riesenpalais am
Ballhausplatz zu errichten. So kometenhaft sein Aufstieg, so abgrundtief war
sein Fall, als seine Unionbank zusammenbrach. Ein Leben wie ein
Groschenroman, und nur eine der vielen faszinierenden Geschichten, die es im
Katalog "Wien. Stadt der Juden....." wieder zu entdecken gibt.
1 Aus Fritz Karpfen: "Der Wille der Kreatur", Frisch &
Co. Verlag, Wien, 1920
2 Aus Hans Tietze, "Die Juden Wiens", Verlag E.P.Tal,
Wien 1933 (Reprint: Edition Atelier, Wien 1987)
3 Aus: Hugo Bettauer: Vorwort zu "Der Tod einer Grete
und andere Novellen", F. Lang, Wien 1924
4 Aus: Karl Kraus, "Metaphysik der Haifische", in: Die
Fackel, Nr. 632-639, Oktober 1923
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