Simon PAULUS
Im letzten Jahr wurde in den österreichischen Medien
einem alten Bauwerk in Bruck an der Leitha besondere Aufmerksamkeit
gewidmet.1
Bei diesem weitgehend erhaltenen mittelalterlichen Gebäude könnte es sich
nämlich um eine der wenigen, noch weitestgehend original erhaltenen
Synagogen des Mittelalters in Europa handeln.
Obwohl mehrere wissenschaftliche Untersuchungen und
heimatpflegerische Bemühungen seit den späten 70er Jahren auf das
architekturgeschichtlich wertvolle Gebäude aufmerksam zu machen versuchten,
drohte es zu verfallen. Erst in jüngster Zeit besann man sich des in einem
Hinterhof in der Schillerstraße gelegenen Bauwerks. Seitdem laufen auf
Initiative der Stadträtin Christine Schwarz intensive Bemühungen, für das
leerstehende Gebäude eine Nutzung zu finden.
Dabei war das Bauwerk einer besonderen Ironie des
Schicksals ausgesetzt, wurde es doch genau im Jahr der Machtergreifung durch
Adolf Hitler 1938 - sogar auf dessen persönlichen Einsatz hin - unter
Denkmalschutz gestellt. Damals noch unter der Annahme, daß es sich bei dem
Gebäude um die sogenannte Niklaskapelle handelte. In der Literatur zur
Denkmaltopographie Brucks wurde diese Annahme prinzipiell übernommen.2
Inzwischen konnte nachgewiesen werden, daß sich diese Kapelle auf dem Platz
der heutigen, im Jahr 1705 geweihten Pfarrkirche auf dem Hauptplatz befand.3
Gleichzeitig erhärteten sich die Hinweise, daß es sich bei dem
bemerkenswerten gotischen Bau in der Schillerstraße um das Gtteshaus der
mittelalterlichen Judengemeinde gehandelt haben könnte, die 1422 im Zuge der
Wiener Geserah unter Herzog Albrecht V. aus Bruck vertrieben wurde. Bereits
in der Stadtchronik Carl Kloses aus dem Jahr 1855 und auch später in der
Chronik Josef Christelbauers von 1920 wurde das Gebäude mit der Synagoge der
mittelalterlichen Gemeinde in Verbindung gebracht.4
Auf diese zwischenzeitlich in Vergessenheit geratene -
Möglichkeit wies Mitte der 80er Jahre erstmals wieder der ungarische
Kunsthistoriker Ferenc David hin; Pierre Genée führte das Gebäude 1988 in
seinem fundamentalen Werk über die Synagogen in Österreich an.5
Ein großer Verdienst kommt der Arbeit von Andrea Sonnleitner zu, die 1992 in
ihrer Magisterarbeit über die mittelalterlichen Synagogen im ehemaligen
Erzherzogtum Österreich das Bauwerk eingehend beschrieb und seine Funktion
anhand einer Gegenüberstellung mit anderen Synagogenbauten des Mittelalters
zu klären versuchte.6
Auch das im Sommer 2003 von dem Restaurator Alfred Weiß vorgelegte Gutachten
schließt sich der Annahme an.
Bereits ein Jahr zuvor, im Oktober des Jahres 2002 wurde
das Gebäude im Rahmen eines Forschungsprojektes eingehender durch eine
Gruppe von Studenten und Wissenschaftlern des Institutes für Bau- und
Stadtbaugeschichte der TU Braunschweig lasertachymetrisch vermessen und
untersucht.7
Dieses Forschungsprojekt, das in Zusammenarbeit mit dem Center for Jewish
Art an der Hebrew University of Jerusalem seit 1994 läuft, widmet sich der
Dokumentation und Rekonstruktion ehemaliger jüdischer Sakralbauten in
Zentraleuropa. Eine vom Autor durchgeführte Forschungsarbeit untersucht
speziell die Typologie und Verbreitung mittelalterlicher Synagogenbauten im
aschkenasischen Raum. Es lag daher nahe, daß auch das Gebäude in Bruck an
der Leitha in den Mittelpunkt dieses Forschungsinteresses rückte.
Die Untersuchung des Gebäudes kann aufgrund zahlreicher
Hinweise in der Anlage, der Typologie und einiger baulicher Eigenheiten die
bisherigen Vermutungen zur ursprünglichen Funktion als Synagoge nur
bestätigen, obwohl eindeutige Beweise, beispielsweise in Form einer
hebräischen Weiheinschrift oder ikonographischer Merkmale am Gebäude selbst
fehlen. Dennoch läßt sich bereits auf der Grundlage der Gebäudedokumentation
eine genauere Vorstellung gewinnen, wie das Gebäude während seiner Nutzung
als jüdisches Gtteshaus ausgesehen haben mag. Dieser Rekonstruktionsversuch
soll hier erstmals kurz dargestellt werden:8
Bei dem Gebäude in Bruck handelt es sich um einen in
Ostwestrichtung leicht gestreckten rechteckigen Mauerwerksbau, der heute mit
einem flachen Zeltdach gedeckt ist. Der Grundriß ist nicht genau orthogonal
angelegt, sondern zeigt eine leichte trapezoide Verdrehung.9
Die etwa 1,10 m starken Mauern sind in Bruchstein gemauert und verputzt, die
Gebäudeecken als Eckquaderung in Werkstein ausgeführt. Das Mauerwerk ist
vermutlich in seiner gesamten Höhe bis zur Traufe noch weitgehend original
erhalten. Ursprünglich beinhaltete der Baukörper einen hohen gewölbten Saal
mit den Innenabmessungen von ca. 8,00 m x 5,90 m, dessen Gewölbe ebenfalls
noch erhalten geblieben ist.
Durch den erst im 17. oder 18. Jahrhundert erfolgten
Einbau eines Kellergewölbes und einer hölzernen Zwischendecke, sowie einiger
weiterer Umbauten ist das Erscheinungsbild des Gebäudes stark verändert
worden: Drei Zugänge für das erste Geschoß und den Keller wurden in die
ursprünglich geschlossene Ostwand eingebrochen, einer davon später wieder
vermauert. Beim Einbau des Kellergewölbes wurden Öffnungen, die sich in
Kopfhöhe an der West-, Süd- und Nordseite befanden, verschlossen, ebenso ein
Portal, das sich am westlichen Ende der Südwand befand. Einige der fein
gearbeiteten Konsolen und Gewölberippenansätze im Innenraum mußten ebenfalls
dem Einbau der Zwischendecke weichen. Von besonderer Qualität ist eine
Gruppe von vier fein gearbeiteten gotischen Lanzettfenstern, die in ihrem
Bogen jeweils eine kleine Maßwerkrosette mit einem Fünf- bzw. Dreibaasmotiv
umschlossen. Anhand der Bauskulptur läßt sich die Entstehungszeit des Bau in
das zweite Drittel des 14. Jh. datieren.
Die Einwölbung des Raumes erfolgte als eine zweijochige
Kreuzrippenwölbung mit scharf gegrateten Rippen, wobei jeweils zur West- und
Ostwand eine gesonderte Rippe verläuft, ein sogenanntes fünfstrahliges
Kreuzrippengewölbe. Die zwei in situ erhaltenen Schlußsteine zeigen
im östlichen Joch eine Rosette mit sich öffnenden Blättern, im westlichen
ein stilisiertes Pflanzenmotiv. Neben eingehauenen Buchstaben, sehr
wahrscheinlich Steinmetzzeichen, die sich an den einzelnen Rippensteinen
finden lassen,10
sind besonders eingeschnittene Löcher in den Rippen zu erwähnen, an denen
vermutlich Leuchter abgehängt wurden. Insgesamt läßt sich an jedem
Rippenstrahl der Diagonalrippen in etwa gleicher Höhe so ein Loch
feststellen, sodaß man annehmen kann, daß der Raum durch acht Hängelampen
erhellt werden konnte.
Die heute sichtbare Bemalung des östlichen Gewölbes ist
sicher neuzeitlich (18. oder 19. Jh.). Reste einer mittelalterlichen
Farbgestaltung sind auf den ersten Blick nicht festzustellen, so daß man
vermutlich von einem originalen, vielleicht weiß-geschlemmten Putz ausgehen
muß.
Betreten wurde der Raum ursprünglich von der Südseite.
Hier befindet sich das bereits erwähnte und erst in jüngster Zeit
freigelegte spitzbogige Portal, dessen Ausschmückung mit einem Wimperg und
drei Fialen wahrscheinlich in späterer Zeit abgeschlagen wurden oder nie
vollendet wurden, sodaß heute nur mehr die im Mauerwerk eingelassenen
Quaderblöcke der Portalbekrönung sichtbar sind. Das Tympanon mit einem
eingeschriebenen Dreiblattbogen ist erhalten geblieben. Auffallend sind die
heute zugemauerten und auf Bodenniveau liegenden Öffnungen an der Süd- West
und Nordseite, die sich im Innenraum noch an der Westseite der Kellerwand
sichtbar als horizontal-längliche Sehschlitze abzeichnen.
Für die Identifizierung und Rekonstruktion eines
Synagogenbaus des Mittelalters ist besonders die Heranziehung von
Vergleichsbeispielen unabdingbar. Synagogen des Mittelalters vereinen
architekturtypologische Merkmale profaner Versammlungsbauten und kleinerer
christlicher Sakralarchitekturen. Eine wirklich eigenständige
architektonische Entwicklung des Bautypus Synagoge konnte schon aufgrund
der stark einschränkenden Vorgaben der christlichen Umgebung und auch einer
gewissen kulturellen Assimilation des mittelalterlichen Judentums nicht
stattfinden. Dennoch lassen sich Synagogen anhand einiger weniger besonderer
Merkmale von den ähnlich angelegten Sakralbauten ihrer christlichen Umwelt
unterscheiden.
So sind die Sehschlitze eines der wichtigsten Indizien,
die auf die Funktion dieses Gebäudes als Synagoge hindeuten. Solche
Sichtluken stellten die Verbindung zur sogenannten Frauenschul her:
Meistens waren dies schmale eingeschossige Räume, die das Gebäude von einer
oder mehreren Seiten umschlossen. Von hier aus konnten die Frauen dem
Gttesdienst folgen. Heute noch lassen sich diese Sichtluken an den meisten
der noch erhaltenen Synagogenbauten des Mittelalters finden. Vergleichend
genannt sei besonders die ältere Synagoge in Sopron: Die hier noch
erhaltenen Sichtluken und ihre Verteilung auf der Süd-, Nord- und Westseite
weisen eine verblüffende Ähnlichkeit zu Bruck auf. Der einzige Unterschied
besteht darin , daß man den Raum über einen Anbau im Norden betrat. Die hier
vorhandenen Sichtluken gehörten noch nicht zum Frauenbereich. Dieser schloß
an der Westseite an. Gleiches gilt für die ruinös erhaltene Synagoge in
Korneuburg. In Bruck wären analog dazu - vielleicht hölzerne - Anbauten an
der Westseite und an der Nordseite zu vermuten, die als Frauenschul
dienten. Auf der Südseite befand sich wahrscheinlich ebenfalls ein Vorbau,
von dem man durch das Portal den Synagogenraum betrat. Teile der Grundmauern
dieser Anbauten könnten sich in den heute stark verfallenen Gebäudeteilen
erhalten haben, die südlich und nördlich an das Gebäude anschließen. Obwohl
sich am Mauerwerk keine Spur eines Anbaus an der Westseite findet, die heute
an das benachbarte Grundstück grenzt, ist dennoch anhand der regelmäßigen
mittelalterlichen Parzellierung und der sich heute noch dort abzeichnenden
Baufluchten der umstehenden Gebäude sehr wahrscheinlich, daß dieser Teil des
Grundstücks früher zur Synagoge gehörte und sich die an dieser Seite
eingebauten Sichtluken zu einem hier befindlichen Anbau öffneten. Eine
klärende archäologische Untersuchung dieses Areals wäre daher wünschenswert.
Gemeinsam sind den Synagogenbauten und den vergleichbaren
Kapellen- und Hauskapellen des 14. und 15. Jh. die West-Ostorientierung und
eine zwei- oder dreijochige Kreuzrippeneinwölbung. Die Verwendung von einer
oder zwei zusätzlichen Rippen findet sich bei beiden Gebäudetypen. Jedoch
mit einem wesentlichen Unterschied: Im christlichen Sakralbau wird diese
Lösung dann angewandt, wenn statt eines polygonal gebrochenen Chores nur ein
gerader Abschluß der Ostwand vorliegt. Sie dient damit der Hervorhebung des
östlichen Joches als Chorjoch und Standort des Altars. Im Synagogenbau
dagegen finden sich die zusätzlichen Rippen sowohl am östlichen wie am
westlichen Joch. Sie betonen damit die Ost-Westorientierung und gleichzeitig
die Zentrierung des Raums auf die Mitte; den Standort der Bima.
Sowohl die Sichtluken als auch die besondere Ausbildung
der Kreuzrippenjoche weisen das Gebäude in Bruck als Synagoge aus. Hinzu
kommt, daß jegliche christliche Symbolik am Bauschmuck vermieden wird.
Beachtenswert sind auch weitere Merkmale am Brucker Beispiel, die zwar nicht
zwingend die Funktion als Synagoge bedingen, aber zumindest auf diese
hindeuten:
Zum einen ist dies die nachweisbare üppige Beleuchtung
mit einer großen Zahl von vom Gewölbe abgehängten Leuchtern und gleichzeitig
die Ausformung der schmalen und kleinen Fenster, die hoch ansetzend den Raum
wohl kaum allein genügend ausleuchten konnten. Fensteröffnungen und das
Vorhandensein von umlaufenden Lichtgesimsen oder Lampenaufhängungen sind
unabdingbar mit den Bedürfnissen des jüdischen Gttesdienstes verbunden,
wobei ausreichend Licht zum Lesen der Tora und der Gebetstexte vorhanden
sein muß. Auffallend ist, daß Synagogenbauten entgegen dem Bestreben
gotischer Architektur, die Wandflächen so weit wie möglich zugunsten großer
Fensteröffnungen zu verringern, nur schmale Lanzettfenster aufweisen. Ein
Kennzeichen, das den introvertierten Charakter dieser Bauten in ihrer eher
feindlich gestimmten Umwelt deutlich unterstreicht.
Wie bei den meisten Synagogenbauten wurde auch der Raum
in Bruck nicht axial von Westen her betreten, sondern der Zugang erfolgte
von der Seite. Dies hatte den Effekt, daß der Eintretende nicht sofort den
Toraschrein erblickte, sondern sich zu diesem erst hinwenden mußte,
gleichzeitig aber auch die Bima den Blick nicht verstellte. Zwar lassen sich
auch im christlichen Sakralbau ähnliche Merkmale ausmachen, doch herrscht
hier die Tendenz vor, architektonisch die Achse zum Chorraum durch ein
Hauptportal an der Westseite zu betonen.
Einige weitere Hinweise auf die Synagogennutzung wären
nur durch eine intensivere Gebäudeuntersuchung zu klären: Zum Einen ist dies
die Frage, ob das ursprüngliche Fußbodenniveau nicht tiefer als bisher
angenommen lag. Anhand des erhaltenen Portals ist zumindest gesichert , daß
man von außen ein bis zwei Stufen zur Portalschwelle aufstieg, um
anschließend wieder mindestens eine Stufe in den Synagogenraum
hinabzusteigen.
Zum Anderen wäre zu überprüfen, ob sich bei der
Entfernung des neuzeitlichen Kellergewölbes und der Freilegung des
ursprünglichen Bodenniveaus noch Fundamentreste der Bima und einer
umlaufenden steinernen oder hölzernen Sitzbank finden ließen.11
Dies würde die ohnehin schon zwingende Beweislage des baulichen Befundes
endgültig bestätigen. Eine genauere Analyse der Steinmetzzeichen könnte
zudem Klarheit über die Herkunft der Bauleute und ihrer Bauhütte und damit
einen sehr genauen Datierungszeitraum schaffen. Sonnleitner hat hier bereits
auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, daß der Bau in Zusammenhang mit dem
zwischen 1332 und 1339/42 in Bruck errichteten Augustiner-Eremiten-Kloster
entstanden sein kann.
Nur noch schwer nachweisbar ist dagegen, ob sich in der
Ostwand eine Nische für den Thoraschrein befand. Durch das Einbrechen einer
großen Kellertür wurde dieser Bereich der Wand zerstört. Allerdings deutet
genau diese Tatsache darauf hin, daß hier vielleicht wirklich eine Nische
vorhanden war, die dann durch ja nur geringe bauliche Eingriffe zum
Kellereingang umfunktioniert wurde. Auch setzt die Konsole des östlichen
Rippenbündels etwa einen halben Meter höher als die Konsolen der übrigen
Seiten an, sodaß hier offenbar bewußt auf ein größeres Bauteil der
Einrichtung, beispielsweise eine Giebelbekrönung des Thoraschreins,
Rücksicht genommen wurde.
Aufgrund älterer Ansichten und einer noch im 19. Jh.
bestehenden Firstmauer im Westen ist für den ursprünglichen Bau nach
Sonnleitner ein Satteldach zu rekonstruieren. Die Dachneigung dürfte
entsprechend vergleichbarer gotischer Dachkonstruktionen relativ steil
gewesen sein. Der Bau überragte damit vermutlich die umgebende
mittelalterliche Bebauung gemäß der talmudischen Vorschrift, fügte sich aber
durch die versteckte Lage den Vorgaben der christlichen Obrigkeit.
Insgesamt betrachtet läßt sich der Bau also unschwer in
die Gruppe der Synagogen kleinerer und mittelgroßer städtischer Gemeinden
einreihen, die zwischen dem Ende des 13. Jh. und der Mitte des 15. Jh. in
Mitteleuropa und speziell auf dem Gebiet des ehemaligen Erzherzogtums
Österreich errichtet wurden. Eingehendere archivalische und auch
bauarchäologische Untersuchungen könnten dafür eine endgültige Bestätigung
liefern. Unabhängig von der hier behandelten Frage mag an dieser Stelle an
die zuständigen Behörden appelliert werden, endlich dringend notwendige
Sanierungsarbeiten einzuleiten, um das zunehmend dem Verfall preisgegebene,
überaus wertvolle Bauwerk zu erhalten.