Von Achau bis Zwölfaxing:
jüdische Ansiedlungen in
Niederösterreich
Die Vertreibung von 1420/21 bedeutete für lange Zeit das
Ende jüdischer Gemeinden in Niederösterreich. Die Wiederbesiedlung erfolgte
langsam, Gemeinden konnten sich nur schwer bilden, an alte Traditionen
konnte kaum angeknüpft werden. Bereits im 15. Jahrhundert sind jedoch
einzelne privilegierte Juden belegt, die sich, wenn auch vorerst ohne festen
Wohnsitz, in Niederösterreich aufhielten. Längerfristig war Niederösterreich
das einzige Land, in dem Juden nach den Vertreibungen des 15. Jahrhunderts
wieder Fuß fassen und sich auch neue Gemeinden bilden konnten. Obwohl die
niederösterreichischen Juden auch im 16. Jahrhundert mehrere Male mit
Ausweisungen bzw. Ausweisungsdrohungen konfrontiert waren, ist hier von
einer gewissen wenn auch marginalen Siedlungskontinuität im 16.
Jahrhundert auszugehen, bevor im 17. Jahrhundert eine Reihe neuer
Landgemeinden gegründet wurden.
Nach der Vertreibung der Juden aus den Herzogtümern
Steiermark und Kärnten 1496 siedelten die Vertriebenen zunächst in der von
der Niederösterreichischen Kammer verwalteten Grenzregion zu Ungarn, dem
heutigen Burgenland, aber auch bereits in Niederösterreich selbst. In
Eisenstadt und Güns (Kõszeg) sowie in Marchegg sind Juden bereits seit dem
frühen 16. Jahrhundert belegt. Von Eisenstadt zog der bekannte Hirschl von
Graz wahrscheinlich um das Jahr 1509 nach Zistersdorf weiter, wo sich ein
Zweig seiner Familie dauerhaft niederließ. Die vertriebenen Laibacher
(Ljubljana) Juden durften sich vorübergehend in Eggenburg ansiedeln, während
einige der 1526 aus Pressburg (Bratislava) und Ödenburg (Sopron)
ausgewiesenen Juden ebenfalls in die Grenzregion zu Ungarn zogen. In den
1540er-Jahren kann schließlich die Anwesenheit von Juden in Wolkersdorf
belegt werden.
Im gesamten 16. Jahrhundert lebten wohl abgesehen von
der größeren burgenländischen Gemeinde Eisenstadt nur wenige Juden in
Niederösterreich. Ein Verzeichnis von 1560 weist überhaupt nur fünf Juden
bzw. jüdische Familien auf, von denen sich allerdings zwei in Polen bzw.
Italien aufhielten. Neben Zistersdorf und Marchegg wird in dieser
Aufstellung wiederum Wolkersdorf genannt, wobei diese Liste kaum vollständig
sein dürfte. Dies legt etwa ein Steuerverzeichnis des Jahres 1567 nahe, in
dem für Marchegg, Zistersdorf und Wolkersdorf zusammen 38 Personen, 22
"alte" und 16 "junge" Juden verzeichnet wurden.
Von einer äußerst dünnen Besiedlung im 16. Jahrhundert
ausgehend, ist für die letzten beiden Jahrzehnte dieses Jahrhunderts ein
Anstieg der jüdischen Bevölkerung im Land unter der Enns zu verzeichnen, die
sich auch durch die landesfürstliche Ausweisung von 1572/73 nicht wesentlich
verringerte. Erst in den ersten beiden Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts kam
es jedoch zu einer verstärkten Zuwanderung, zahlreiche Gemeinden entstanden
in den ersten Jahren des Dreißigjährigen Krieges, nicht zuletzt aufgrund von
Zuwanderung von Juden aus dem Reich. Bereits vor 1650 dürften sich die
jüdischen Gemeinden und Ansiedlungen konsolidiert haben, auch wenn die
Mobilität wahrscheinlich immer relativ groß blieb. Die zweite Hälfte des 17.
Jahrhunderts ist mit über 50 Siedlungsorten als Blütezeit des jüdischen
Lebens in Österreich unter der Enns zu bezeichnen, die 1670/71 durch die
Vertreibung unterbrochen wurde.
Detaillierteres Material zur Siedlungsstruktur steht uns
allerdings erst ab der Mitte des 17. Jahrhunderts zur Verfügung. Nach den
Steuerverzeichnissen der Landjudenschaft, die für die Jahre 1652 und
1662-1671 erhalten sind, lebten in ungefähr 52 bis 54 Orten in
Niederösterreich insgesamt zwischen 350 und 480 jüdische Familien, was,
nimmt man eine durchschnittliche Familiengröße von fünf Personen an,
ungefähr 1750 bis 2400 Personen entspricht. Dass diese Zahl keineswegs klein
war zeigt ein Vergleich mit Wien. In der Wiener Judenstadt, die zu den
größten Gemeinden des Heiligen Römischen Reichs zählte, wohnten vor der
Ausweisung maximal 3000 Juden.
Neben wenigen größeren Gemeinden, allen voran Ebenfurth
mit 45 Familien im Jahr 1669, gefolgt von Weitersfeld (33), Zwölfaxing (25)
und Waidhofen an der Thaya (23), waren kleinere Siedlungen typisch für das
jüdische Leben in Niederösterreich. Durch Migration und Todesfälle waren
gerade die jüdischen Kleinstsiedlungen immer von der Auflösung bedroht.
Diese Instabilität der jüdischen Siedlungen auf dem Land zeigt etwa die
Eingabe des Schönbüheler Juden Joseph Veit aus dem Jahr 1662. Er suchte um
einen Steuererlass für sich an, da der wohlhabendste Jude im Ort samt seiner
Frau ermordet worden war und drei weitere die Gemeinde heimlich verlassen
hätten, und er nun alleine sei.
Geographisch konzentrierten sich die jüdischen Siedlungen
im 17. Jahrhundert entlang der Donau, vor allem in der Nachbarschaft des
Handelszentrums Krems, das selbst keine Juden aufnahm. Eine weitere Häufung
jüdischer Siedlungen gab es im nördlichen Waldviertel, wo mit Waidhofen an
der Thaya mit über 100 Personen eine der größten Gemeinden lag, sowie
entlang der von Wien nach Süden gehenden Handelsstraße über Wiener Neustadt
in Richtung der ungarischen Grenze, wo sich in Zwölfaxing, Ebenfurth und
Achau große Gemeinden befanden. Weitere Siedlungen befanden sich in
unmittelbarer Nähe zur oberungarischen und mährischen Grenze.
Religiöses Leben
Im Gegensatz zu Wien, wo sich an der Wende vom 16. zum
17. Jahrhundert wieder eine institutionalisierte Gemeinde etablierte, die
schließlich im Ghetto über zwei Synagogen verfügte, war die Situation auf
dem Lande in den meisten Gemeinden eine andere. In vielen Fällen handelte es
sich nicht um eine Gemeinde (kehila) im eigentlichen Sinn, da, wenn
überhaupt, nur rudimentär Strukturen und Einrichtungen (Synagoge, Friedhof,
Mikwe) vorhanden waren.
Viele Gemeinden waren wohl weder groß noch vermögend
genug, um eigene Synagogen errichten zu können. Zumeist wurden wohl Beträume
in Gemeindehäusern oder auch in Wohnhäusern vermögenderer Gemeindemitglieder
genutzt. Nur in wenigen Fällen wissen wir mehr über die Vorgeschichte der
Einrichtung oder des Baus einer Synagoge in den einzelnen Gemeinden. Für
Langenlois etwa ist bekannt, dass zunächst wohl ein Raum in einem Privathaus
als Betraum angemietet worden war, bevor eine Synagoge im sogenannten
"größeren Judenhaus", einem Wohnhaus, etwa um die Jahre 1624-1626
eingerichtet werden konnte.
Die Synagoge stellt das Zentrum des gemeindlichen Lebens
der Juden dar. Eine weitere zentrale Gemeindeeinrichtung ist der Friedhof.
Jüdische Friedhöfe bestanden ebenso wie Synagogen wahrscheinlich in allen
größeren Gemeinden und wurden wohl von benachbarten kleineren Siedlungen
mitgenutzt. So verfügte etwa die Gemeinde von Grafenwörth über einen
Friedhof, in dem auch die Judenschaft von Nußdorf ob der Traisen ihre Toten
bestattete.
Andere gemeindliche Einrichtungen, wie etwa eine Mikwe,
können für den niederösterreichischen Raum im 16. und 17. Jahrhundert (mit
Ausnahme von Wien und Wolfsthal) nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden,
auch wenn sie sicherlich in einigen Gemeinden vorhanden waren. Denn ein
Tauchbad mit "lebendigem Wasser" gehörte zu den festen Einrichtungen einer
Gemeinde. Vor allem in den kleinen Siedlungen war jedoch oft keine Mikwe vor
Ort. Aus diesem Grund wurde vielleicht, wie in anderen Kleinstsiedlungen im
Fränkischen, ein Fluss oder Bach für diesen Zweck genutzt, auch wenn wegen
des darin enthaltenen Schmelzwassers religiöse Probleme entstanden.
Aufgrund der spärlichen Quellen sind wir auch kaum über
das religiöse Leben in den niederösterreichischen Landgemeinden
unterrichtet. Schließt man von dem Vorhandensein fester Kultuseinrichtungen,
wie Synagogen, Mikwen oder Friedhöfen, auf das Organisationsniveau der
jüdischen Gemeinden, so dürfte dieses in den niederösterreichischen
Landgemeinden nicht allzu hoch gewesen sein. Dennoch weisen die erhaltenen
Anlagebücher der niederösterreichischen Landjuden darauf hin, dass von den
etwa 50 Siedlungsorten in den 1660er-Jahren wohl mindestens die Hälfte der
Siedlungen groß genug waren, um selbständig einen Minjan bilden zu können.
War dies nicht der Fall, ging man wahrscheinlich zumindest an den hohen
Feiertagen in die nächste Gemeinde. Die Überwindung von größeren Strecken
und auch Probleme bei der Einhaltung der religiösen Gebote dürften bei den
zerstreuten kleinen Landgemeinden nicht selten gewesen sein. Gemeindliche
Strukturen gab es nur in den größeren Ansiedlungen, kaum jedoch dort, wo
einzelne Familien oder Personen an einem Ort lebten.
Man kann davon ausgehen, dass die religiöse Observanz am
Land, vor allem in den Kleinstsiedlungen, erheblich litt. Vielleicht war es
auch im Land unter der Enns problematisch, sich mit rituell reinen
Lebensmitteln zu versorgen. War kein Schächter vor Ort, konnte es schwierig
sein, an koscheres Fleisch zu kommen. Dasselbe gilt für den Wein, auch wenn
der Import von großen Mengen an koscherem Wein nach Niederösterreich im 17.
Jahrhundert belegt ist. Selbst produziert wurde koscherer Wein, wie dies im
Privileg von 1656 ausdrücklich erlaubt worden war, wohl nur in kleineren
Mengen. Auch konnten sich im nahen Zusammenleben mit der christlichen
Bevölkerung Probleme ergeben, die im Alltag gelöst werden mussten. So war
etwa das Wirtshaus nicht nur ein Ort sozialer Zusammenkunft, sondern auch
der Ort, an dem Geschäfte getätigt wurden.
Das wirtschaftliche Leben orientierte sich an den
christlichen, nicht den jüdischen Feiertagen. In Weitersfeld war es nach den
Aussagen des dortigen Pfarrers nicht einmal den Christen möglich, die
Sonntagsruhe einzuhalten. Die Judenschaft erbot sich, offensichtlich
anlässlich einer Beschwerde, gerne die christlichen Feiertage einhalten zu
wollen, sofern dies die christlichen Untertanen auch tun würden. Feiertage
konnten zum Teil auch am Arbeitsplatz begangen werden. Im Mauthaus von
Wilfersdorf nahe bei Mistelbach wurde gemeinsam dem Tag der Tempelzerstörung
(Tischa beAw) an der Mautstelle gedacht, allerdings ohne die Arbeit
gänzlich zu unterbrechen. Neben dem Mautner und seinem Angestellten waren
vor allem Nikolsburger Juden wahrscheinlich durchreisende Händler an der
Maut anwesend. Zusammen konnte man einen Minjan bilden und (mangels einer
Alternative in unmittelbarer Umgebung) den Feiertag begehen.
Für den niederösterreichischen Raum trafen all diese
Probleme im religiösen Alltag wohl zumindest partiell zu, auch wenn das
dichte Netz an jüdischen Siedlungen im 17. Jahrhundert zumindest nahe legt,
dass die Gemeinden miteinander kommunizierten und in engerem oder weiteren
Kontakt standen. Dass viele dieser Siedlungen zumindest einen minimalen Grad
an Organisation erreichten, belegt etwa die Tatsache, dass für die meisten,
zumindest einige Familien umfassenden Ansiedlungen ein sogenannter
"Judenrichter", die frühneuzeitliche Bezeichnung für Gemeindevorsteher, der
die Gemeinde nach außen vertrat, belegt ist. Dennoch: sowohl hinsichtlich
der gemeindlichen Infrastruktur als auch hinsichtlich der Möglichkeiten, ein
religiöses Leben zu führen, gab es in den einzelnen Gemeinden und
Ansiedlungen eine große Spannbreite. Von wohlhabenden Gemeinden wie
Langenlois, in der ein großer Prozentsatz an gebildeten Personen wohnte, bis
zu kleinen Ansiedlungen, die über keinerlei Einrichtungen einer Gemeinde
verfügten, spannte sich der Bogen jüdischer Existenz in Niederösterreich.
Christen und Juden Kontakte und Konflikte
Die allgemeine ausgrenzende und durch antijüdische
Stereotypen geprägte ablehnende Haltung gegenüber dem Judentum war
maßgeblich dafür verantwortlich, dass jüdisch-christliches Zusammenleben in
der Frühen Neuzeit in weiten Teilen von Konflikten geprägt war. Gerade für
die jüdischen Landgemeinden in der Frühen Neuzeit konnte jedoch belegt
werden, dass sich der christlich-jüdische Alltag auf dem Land von Kontakten
wirtschaftlicher oder auch geselliger Natur bis zu antijüdischen
Ausschreitungen erstrecken konnte. Diese Bandbreite, die in einem, wenn auch
geringem, Maße auch soziale Kontakte mit einbezog, lässt sich in der Stadt,
wo die jüdische von der christlichen Bevölkerung räumlich getrennt lebte,
nicht feststellen. Besonders auf dem Land, wo in kleinen räumlichen
Einheiten Christen und Juden miteinander lebten, war dieses Zusammenleben
von Nachbarschaft und Konkurrenz geprägt.
Nachbarschaft von Christen und Juden, wie sie auf dem
Land zum Alltag gehörte, bedeutete Kontakte, aber auch Konflikte,
wirtschaftliche Konkurrenz, aber auch zuweilen Kooperation. Eine solche
entwickelte sich etwa zwischen dem Niederthaler Juden Adam David und den
Fleischhackern in Waidhofen an der Thaya, von der beide Seiten profitierten.
Adam David hatte mit den bürgerlichen Fleischhackern der Stadt ein Abkommen
getroffen, das bei der Schlachtung abfallende Unschlitt, welches die
Fleischhacker nicht absetzen konnten, zu übernehmen und an Seifensieder im
weiteren Umkreis zu verkaufen. Im Gegenzug gewährte er den Fleischhackern
kurzfristig Kredite und sicherte ihnen damit nötige Zwischenfinanzierungen.
Als der (eigentlich verbotene) Unschlittverkauf aufflog, baten die
Fleischhacker für den Juden, da sie sich ansonsten außer Stande sahen, das
Abfallprodukt Unschlitt selbständig zu vertreiben. Diese offensichtlich eine
Zeit lang fruchtbare Zusammenarbeit soll jedoch nicht dazu führen,
christlich-jüdische Kontakte rein aus einem positiven Blickwinkel zu sehen.
Gerade jene Fleischhacker, die sich in diesem Fall so für einen Juden
eingesetzt hatten, beschwerten sich in scharfen, von antijüdischen
Stereotypen getragenen Worten über den Fleischverkauf von Juden in Waidhofen
an der Thaya.
Solche wirtschaftlichen Kooperationen wie in Waidhofen
waren kein Einzelfall. So weisen etwa auch Ermahnungen, dass es Christen
verboten sei, jüdische Waren durch die Mautstellen zu befördern und damit
die höheren Maut
sätze, die von Juden verlangt wurden, zu umgehen, darauf
hin, dass dies wohl häufig vorgekommen sein mag. Auch für dieses Geschäft
brauchte es zwei Seiten, Juden und Christen, die davon profitierten,
Amtspersonen, die bestochen werden konnten, oder Kaufleute, die sich gegen
Entgelt bereit erklärten, die Waren von Juden zu transportieren. Kontakte
zwischen Christen und Juden mussten jedoch nicht immer friedlicher Natur
sein, sondern waren auch von Judenfeindschaft, von Auseinandersetzungen, die
mitunter auch gewalttätig enden konnten, geprägt. Auch wenn eine Vielzahl
von Konflikten zwischen Christen und Juden überliefert sind, so steht hinter
diesen Streitigkeiten auch ein "Normalzustand" im ländlichen Alltag, in dem
Christen und Juden bei weitem nicht immer friedlich miteinander lebten
und überlebten.
Aufgrund der Forschungen der letzten Jahre zur jüdischen
Geschichte in Niederösterreich präsentiert sich das Land unter der Enns nun
als eine Region, in der sich vor allem im 17. Jahrhundert ein dichtes Netz
an jüdischen Siedlungen bilden konnte. Obwohl die Landjuden in der zweiten
Hälfte des 17. Jahrhunderts eine teilweise Loslösung von der Wiener Gemeinde
dadurch erreichen konnten, dass sie ab 1652 selbständig ihre Steuern an den
Landesherrn entrichteten, blieb die Wiener Judenschaft jedoch auch weiterhin
das Zentrum für das niederösterreichische Landjudentum. Die Entscheidung
Kaiser Leopold I., die Juden aus Wien auszuweisen, war schließlich dafür
verantwortlich, dass auch die niederösterreichischen Landjuden im Frühjahr
1671 das Land verlassen mussten. Die Blütezeit der jüdischen Landgemeinden
Niederösterreichs war zu Ende.