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Zur Geschichte der
Juden in Niederösterreich 1496-1670/71
"Gantze Dörffer voll Juden"

Barbara STAUDINGER

Dass "damahls gantze Dörffer voll Juden in Oesterreich waren", schrieb der englische Arzt und Reisende Eduard Brown in den späten 1660er-Jahren, als er auf seinem Weg von Venedig nach Wien durch die österreichischen Erbländer reiste. Im Gegensatz zu den Herzogtümern Steiermark und Kärnten, wo seit 1496 keine Juden mehr geduldet wurden, lebten in Niederösterreich in zahlreichen ländlichen Gemeinden Juden. Nicht nur der englische Reisende wunderte sich. Die Geschichte der Juden in Niederösterreich, die im 17. Jahrhundert bis zu ihrer Ausweisung in den Jahren 1670/71 in mehr als 50 Orten auf dem Land lebten, ist bis heute fast unbekannt geblieben.

Der Zeitraum zwischen 1496 und 1671 stellt innerhalb der jüdischen Geschichte Österreichs eine eigene Epoche dar, von den Auswirkungen der Vertreibung der Juden aus der Steiermark und Kärnten ausgehend, bis zu deren Ausweisung aus Wien und Niederösterreich in den Jahren 1669 bis 1671. Zwischen diesen zeitlichen Eckpunkten kam es zu einer langsamen Konsolidierung jüdischen Lebens in Österreich unter der Enns, zu einem ökonomischen Aufstieg einzelner Personen oder Familien, zur Festigung der jüdischen Rechtsstellung durch kaiserliche, landesfürstliche oder auch ständische Privilegien, und zur Etablierung zahlreicher neuer jüdischer Gemeinden, deren Blüte zwischen den Jahren 1620 und 1670 lag.

Dass die jüdische Besiedlung im Land unter der Enns nicht nur im Vergleich zu den anderen österreichischen Ländern, in denen abgesehen vom äußersten Westen kaum Juden geduldet wurden, in der Frühen Neuzeit relativ dicht war, ist in der Forschung zwar bereits seit längerem bekannt. Dennoch ist Niederösterreich als jüdisches Siedlungszentrum im Heiligen Römischen Reich bis heute kaum beachtet. Dies liegt zum einen an den intensiven Forschungen insbesondere der letzten Jahre, die sich mit dem schwäbisch-vorderösterreichischen Raum und mit dem Bodenseeraum auseinander setzten und den Südwesten des Reiches als Zentrum des frühneuzeitlichen Landjudentums in den Blickpunkt rückten, während ähnliche Forschungsinitiativen für die jüdische Geschichte Niederösterreichs lange fehlten. Zum anderen ist die ältere Forschung zu den niederösterreichischen Landjuden von sehr unterschiedlicher Qualität: Die wertvolle Studie von Leopold Moses aus dem Jahr 1935 ist aufgrund ihrer unübersichtlichen Struktur nur schwer zu rezipieren. Sein Fokus auf das 17. Jahrhundert blendet zudem weitgehend die Frage nach einer Kontinuität der Siedlungsorte, die bereits im 16. Jahrhundert bestanden, aus. Trotzdem sind hier die wichtigsten Quellen zur Geschichte der Juden in Niederösterreich, die Steuerverzeichnisse der Landjuden aus den Jahren 1652 bis 1671, ausgewertet. Ältere Arbeiten, wie die Dissertation von Leo Menczer, sind wegen ihres veralteten Forschungsstandes problematisch. Die meisten Studien, die sich jedoch mit der Geschichte der Juden in Niederösterreich auseinandersetzen, blenden die Frühe Neuzeit nahezu gänzlich aus. Und auch in der heimatkundlichen Literatur sind die jüdischen Gemeinden Niederösterreichs auf einem sehr unterschiedlichen Niveau, zumeist allerdings auf Basis der wenigen Forschungsliteratur behandelt, so dass bis heute große Forschungslücken bestehen.

In Zusammenarbeit mit dem Forschungsvorhaben "Germania Judaica IV", das die Geschichte der Juden in Deutschland in der Zeit von 1520 bis 1650 untersucht, wurde am Institut für Geschichte der Juden in Österreich (St. Pölten) in den Jahren 1998 bis 2004 das Forschungsprojekt "Austria Judaica" durchgeführt, das sich neben Wien schwerpunktmäßig mit der Geschichte der Juden in Niederösterreich in der Frühen Neuzeit beschäftigte. Innerhalb des Forschungsprojekts wurde nicht nur die vorhandene Forschungsliteratur gesammelt, sondern vor allem auch systematisch die, zu einem großen Teil bisher unbekannten, Quellen des Hofkammerarchivs, aber auch vieler Stadt- und Herrschaftsarchive zu den niederösterreichischen Landjuden bearbeitet, so dass nun die Grundlage für eine neue Darstellung der Geschichte der Juden in Niederösterreich vorliegt. Teilaspekte dieser Forschungen wurden bereits in den letzten Jahren der Öffentlichkeit vorgestellt: Neben der bisher unveröffentlichten Dissertation von Sabine Hödl sind dies vor allem die Forschungen von Peter Rauscher, der für die jüdische Gemeinde in Langenlois dieses Jahr eine Monographie publiziert hat. Nicht zuletzt diesen Arbeiten ist es zu verdanken, dass nun als ein Ergebnis des Forschungsprojektes ein Handbuch zur Geschichte der Juden in Niederösterreich von 1496 bis 1670/71 geschrieben werden kann. Aus diesem Buch, dass voraussichtlich im Jahr 2005 erscheinen wird, werden im Folgenden einige Aspekte vorgestellt.

Von Achau bis Zwölfaxing:
jüdische Ansiedlungen in Niederösterreich

Die Vertreibung von 1420/21 bedeutete für lange Zeit das Ende jüdischer Gemeinden in Niederösterreich. Die Wiederbesiedlung erfolgte langsam, Gemeinden konnten sich nur schwer bilden, an alte Traditionen konnte kaum angeknüpft werden. Bereits im 15. Jahrhundert sind jedoch einzelne privilegierte Juden belegt, die sich, wenn auch vorerst ohne festen Wohnsitz, in Niederösterreich aufhielten. Längerfristig war Niederösterreich das einzige Land, in dem Juden nach den Vertreibungen des 15. Jahrhunderts wieder Fuß fassen und sich auch neue Gemeinden bilden konnten. Obwohl die niederösterreichischen Juden auch im 16. Jahrhundert mehrere Male mit Ausweisungen bzw. Ausweisungsdrohungen konfrontiert waren, ist hier von einer gewissen – wenn auch marginalen – Siedlungskontinuität im 16. Jahrhundert auszugehen, bevor im 17. Jahrhundert eine Reihe neuer Landgemeinden gegründet wurden.

Nach der Vertreibung der Juden aus den Herzogtümern Steiermark und Kärnten 1496 siedelten die Vertriebenen zunächst in der von der Niederösterreichischen Kammer verwalteten Grenzregion zu Ungarn, dem heutigen Burgenland, aber auch bereits in Niederösterreich selbst. In Eisenstadt und Güns (Kõszeg) sowie in Marchegg sind Juden bereits seit dem frühen 16. Jahrhundert belegt. Von Eisenstadt zog der bekannte Hirschl von Graz wahrscheinlich um das Jahr 1509 nach Zistersdorf weiter, wo sich ein Zweig seiner Familie dauerhaft niederließ. Die vertriebenen Laibacher (Ljubljana) Juden durften sich vorübergehend in Eggenburg ansiedeln, während einige der 1526 aus Pressburg (Bratislava) und Ödenburg (Sopron) ausgewiesenen Juden ebenfalls in die Grenzregion zu Ungarn zogen. In den 1540er-Jahren kann schließlich die Anwesenheit von Juden in Wolkersdorf belegt werden.

Im gesamten 16. Jahrhundert lebten wohl – abgesehen von der größeren burgenländischen Gemeinde Eisenstadt – nur wenige Juden in Niederösterreich. Ein Verzeichnis von 1560 weist überhaupt nur fünf Juden bzw. jüdische Familien auf, von denen sich allerdings zwei in Polen bzw. Italien aufhielten. Neben Zistersdorf und Marchegg wird in dieser Aufstellung wiederum Wolkersdorf genannt, wobei diese Liste kaum vollständig sein dürfte. Dies legt etwa ein Steuerverzeichnis des Jahres 1567 nahe, in dem für Marchegg, Zistersdorf und Wolkersdorf zusammen 38 Personen, 22 "alte" und 16 "junge" Juden verzeichnet wurden.

Von einer äußerst dünnen Besiedlung im 16. Jahrhundert ausgehend, ist für die letzten beiden Jahrzehnte dieses Jahrhunderts ein Anstieg der jüdischen Bevölkerung im Land unter der Enns zu verzeichnen, die sich auch durch die landesfürstliche Ausweisung von 1572/73 nicht wesentlich verringerte. Erst in den ersten beiden Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts kam es jedoch zu einer verstärkten Zuwanderung, zahlreiche Gemeinden entstanden in den ersten Jahren des Dreißigjährigen Krieges, nicht zuletzt aufgrund von Zuwanderung von Juden aus dem Reich. Bereits vor 1650 dürften sich die jüdischen Gemeinden und Ansiedlungen konsolidiert haben, auch wenn die Mobilität wahrscheinlich immer relativ groß blieb. Die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts ist mit über 50 Siedlungsorten als Blütezeit des jüdischen Lebens in Österreich unter der Enns zu bezeichnen, die 1670/71 durch die Vertreibung unterbrochen wurde.

Detaillierteres Material zur Siedlungsstruktur steht uns allerdings erst ab der Mitte des 17. Jahrhunderts zur Verfügung. Nach den Steuerverzeichnissen der Landjudenschaft, die für die Jahre 1652 und 1662-1671 erhalten sind, lebten in ungefähr 52 bis 54 Orten in Niederösterreich insgesamt zwischen 350 und 480 jüdische Familien, was, nimmt man eine durchschnittliche Familiengröße von fünf Personen an, ungefähr 1750 bis 2400 Personen entspricht. Dass diese Zahl keineswegs klein war zeigt ein Vergleich mit Wien. In der Wiener Judenstadt, die zu den größten Gemeinden des Heiligen Römischen Reichs zählte, wohnten vor der Ausweisung maximal 3000 Juden.

Neben wenigen größeren Gemeinden, allen voran Ebenfurth mit 45 Familien im Jahr 1669, gefolgt von Weitersfeld (33), Zwölfaxing (25) und Waidhofen an der Thaya (23), waren kleinere Siedlungen typisch für das jüdische Leben in Niederösterreich. Durch Migration und Todesfälle waren gerade die jüdischen Kleinstsiedlungen immer von der Auflösung bedroht. Diese Instabilität der jüdischen Siedlungen auf dem Land zeigt etwa die Eingabe des Schönbüheler Juden Joseph Veit aus dem Jahr 1662. Er suchte um einen Steuererlass für sich an, da der wohlhabendste Jude im Ort samt seiner Frau ermordet worden war und drei weitere die Gemeinde heimlich verlassen hätten, und er nun alleine sei.

Geographisch konzentrierten sich die jüdischen Siedlungen im 17. Jahrhundert entlang der Donau, vor allem in der Nachbarschaft des Handelszentrums Krems, das selbst keine Juden aufnahm. Eine weitere Häufung jüdischer Siedlungen gab es im nördlichen Waldviertel, wo mit Waidhofen an der Thaya mit über 100 Personen eine der größten Gemeinden lag, sowie entlang der von Wien nach Süden gehenden Handelsstraße über Wiener Neustadt in Richtung der ungarischen Grenze, wo sich in Zwölfaxing, Ebenfurth und Achau große Gemeinden befanden. Weitere Siedlungen befanden sich in unmittelbarer Nähe zur oberungarischen und mährischen Grenze.

Religiöses Leben

Im Gegensatz zu Wien, wo sich an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert wieder eine institutionalisierte Gemeinde etablierte, die schließlich im Ghetto über zwei Synagogen verfügte, war die Situation auf dem Lande in den meisten Gemeinden eine andere. In vielen Fällen handelte es sich nicht um eine Gemeinde (kehila) im eigentlichen Sinn, da, wenn überhaupt, nur rudimentär Strukturen und Einrichtungen (Synagoge, Friedhof, Mikwe) vorhanden waren.

Viele Gemeinden waren wohl weder groß noch vermögend genug, um eigene Synagogen errichten zu können. Zumeist wurden wohl Beträume in Gemeindehäusern oder auch in Wohnhäusern vermögenderer Gemeindemitglieder genutzt. Nur in wenigen Fällen wissen wir mehr über die Vorgeschichte der Einrichtung oder des Baus einer Synagoge in den einzelnen Gemeinden. Für Langenlois etwa ist bekannt, dass zunächst wohl ein Raum in einem Privathaus als Betraum angemietet worden war, bevor eine Synagoge im sogenannten "größeren Judenhaus", einem Wohnhaus, etwa um die Jahre 1624-1626 eingerichtet werden konnte.

Die Synagoge stellt das Zentrum des gemeindlichen Lebens der Juden dar. Eine weitere zentrale Gemeindeeinrichtung ist der Friedhof. Jüdische Friedhöfe bestanden ebenso wie Synagogen wahrscheinlich in allen größeren Gemeinden und wurden wohl von benachbarten kleineren Siedlungen mitgenutzt. So verfügte etwa die Gemeinde von Grafenwörth über einen Friedhof, in dem auch die Judenschaft von Nußdorf ob der Traisen ihre Toten bestattete.

Andere gemeindliche Einrichtungen, wie etwa eine Mikwe, können für den niederösterreichischen Raum im 16. und 17. Jahrhundert (mit Ausnahme von Wien und Wolfsthal) nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden, auch wenn sie sicherlich in einigen Gemeinden vorhanden waren. Denn ein Tauchbad mit "lebendigem Wasser" gehörte zu den festen Einrichtungen einer Gemeinde. Vor allem in den kleinen Siedlungen war jedoch oft keine Mikwe vor Ort. Aus diesem Grund wurde vielleicht, wie in anderen Kleinstsiedlungen im Fränkischen, ein Fluss oder Bach für diesen Zweck genutzt, auch wenn wegen des darin enthaltenen Schmelzwassers religiöse Probleme entstanden.

Aufgrund der spärlichen Quellen sind wir auch kaum über das religiöse Leben in den niederösterreichischen Landgemeinden unterrichtet. Schließt man von dem Vorhandensein fester Kultuseinrichtungen, wie Synagogen, Mikwen oder Friedhöfen, auf das Organisationsniveau der jüdischen Gemeinden, so dürfte dieses in den niederösterreichischen Landgemeinden nicht allzu hoch gewesen sein. Dennoch weisen die erhaltenen Anlagebücher der niederösterreichischen Landjuden darauf hin, dass von den etwa 50 Siedlungsorten in den 1660er-Jahren wohl mindestens die Hälfte der Siedlungen groß genug waren, um selbständig einen Minjan bilden zu können. War dies nicht der Fall, ging man wahrscheinlich zumindest an den hohen Feiertagen in die nächste Gemeinde. Die Überwindung von größeren Strecken und auch Probleme bei der Einhaltung der religiösen Gebote dürften bei den zerstreuten kleinen Landgemeinden nicht selten gewesen sein. Gemeindliche Strukturen gab es nur in den größeren Ansiedlungen, kaum jedoch dort, wo einzelne Familien oder Personen an einem Ort lebten.

Man kann davon ausgehen, dass die religiöse Observanz am Land, vor allem in den Kleinstsiedlungen, erheblich litt. Vielleicht war es auch im Land unter der Enns problematisch, sich mit rituell reinen Lebensmitteln zu versorgen. War kein Schächter vor Ort, konnte es schwierig sein, an koscheres Fleisch zu kommen. Dasselbe gilt für den Wein, auch wenn der Import von großen Mengen an koscherem Wein nach Niederösterreich im 17. Jahrhundert belegt ist. Selbst produziert wurde koscherer Wein, wie dies im Privileg von 1656 ausdrücklich erlaubt worden war, wohl nur in kleineren Mengen. Auch konnten sich im nahen Zusammenleben mit der christlichen Bevölkerung Probleme ergeben, die im Alltag gelöst werden mussten. So war etwa das Wirtshaus nicht nur ein Ort sozialer Zusammenkunft, sondern auch der Ort, an dem Geschäfte getätigt wurden.

Das wirtschaftliche Leben orientierte sich an den christlichen, nicht den jüdischen Feiertagen. In Weitersfeld war es nach den Aussagen des dortigen Pfarrers nicht einmal den Christen möglich, die Sonntagsruhe einzuhalten. Die Judenschaft erbot sich, offensichtlich anlässlich einer Beschwerde, gerne die christlichen Feiertage einhalten zu wollen, sofern dies die christlichen Untertanen auch tun würden. Feiertage konnten zum Teil auch am Arbeitsplatz begangen werden. Im Mauthaus von Wilfersdorf nahe bei Mistelbach wurde gemeinsam dem Tag der Tempelzerstörung (Tischa beAw) an der Mautstelle gedacht, allerdings ohne die Arbeit gänzlich zu unterbrechen. Neben dem Mautner und seinem Angestellten waren vor allem Nikolsburger Juden – wahrscheinlich durchreisende Händler – an der Maut anwesend. Zusammen konnte man einen Minjan bilden und (mangels einer Alternative in unmittelbarer Umgebung) den Feiertag begehen.

Für den niederösterreichischen Raum trafen all diese Probleme im religiösen Alltag wohl zumindest partiell zu, auch wenn das dichte Netz an jüdischen Siedlungen im 17. Jahrhundert zumindest nahe legt, dass die Gemeinden miteinander kommunizierten und in engerem oder weiteren Kontakt standen. Dass viele dieser Siedlungen zumindest einen minimalen Grad an Organisation erreichten, belegt etwa die Tatsache, dass für die meisten, zumindest einige Familien umfassenden Ansiedlungen ein sogenannter "Judenrichter", die frühneuzeitliche Bezeichnung für Gemeindevorsteher, der die Gemeinde nach außen vertrat, belegt ist. Dennoch: sowohl hinsichtlich der gemeindlichen Infrastruktur als auch hinsichtlich der Möglichkeiten, ein religiöses Leben zu führen, gab es in den einzelnen Gemeinden und Ansiedlungen eine große Spannbreite. Von wohlhabenden Gemeinden wie Langenlois, in der ein großer Prozentsatz an gebildeten Personen wohnte, bis zu kleinen Ansiedlungen, die über keinerlei Einrichtungen einer Gemeinde verfügten, spannte sich der Bogen jüdischer Existenz in Niederösterreich.

Christen und Juden – Kontakte und Konflikte

Die allgemeine ausgrenzende und durch antijüdische Stereotypen geprägte ablehnende Haltung gegenüber dem Judentum war maßgeblich dafür verantwortlich, dass jüdisch-christliches Zusammenleben in der Frühen Neuzeit in weiten Teilen von Konflikten geprägt war. Gerade für die jüdischen Landgemeinden in der Frühen Neuzeit konnte jedoch belegt werden, dass sich der christlich-jüdische Alltag auf dem Land von Kontakten wirtschaftlicher oder auch geselliger Natur bis zu antijüdischen Ausschreitungen erstrecken konnte. Diese Bandbreite, die in einem, wenn auch geringem, Maße auch soziale Kontakte mit einbezog, lässt sich in der Stadt, wo die jüdische von der christlichen Bevölkerung räumlich getrennt lebte, nicht feststellen. Besonders auf dem Land, wo in kleinen räumlichen Einheiten Christen und Juden miteinander lebten, war dieses Zusammenleben von Nachbarschaft und Konkurrenz geprägt.

Nachbarschaft von Christen und Juden, wie sie auf dem Land zum Alltag gehörte, bedeutete Kontakte, aber auch Konflikte, wirtschaftliche Konkurrenz, aber auch zuweilen Kooperation. Eine solche entwickelte sich etwa zwischen dem Niederthaler Juden Adam David und den Fleischhackern in Waidhofen an der Thaya, von der beide Seiten profitierten. Adam David hatte mit den bürgerlichen Fleischhackern der Stadt ein Abkommen getroffen, das bei der Schlachtung abfallende Unschlitt, welches die Fleischhacker nicht absetzen konnten, zu übernehmen und an Seifensieder im weiteren Umkreis zu verkaufen. Im Gegenzug gewährte er den Fleischhackern kurzfristig Kredite und sicherte ihnen damit nötige Zwischenfinanzierungen. Als der (eigentlich verbotene) Unschlittverkauf aufflog, baten die Fleischhacker für den Juden, da sie sich ansonsten außer Stande sahen, das Abfallprodukt Unschlitt selbständig zu vertreiben. Diese offensichtlich eine Zeit lang fruchtbare Zusammenarbeit soll jedoch nicht dazu führen, christlich-jüdische Kontakte rein aus einem positiven Blickwinkel zu sehen. Gerade jene Fleischhacker, die sich in diesem Fall so für einen Juden eingesetzt hatten, beschwerten sich in scharfen, von antijüdischen Stereotypen getragenen Worten über den Fleischverkauf von Juden in Waidhofen an der Thaya.

Solche wirtschaftlichen Kooperationen wie in Waidhofen waren kein Einzelfall. So weisen etwa auch Ermahnungen, dass es Christen verboten sei, jüdische Waren durch die Mautstellen zu befördern und damit die höheren Maut

sätze, die von Juden verlangt wurden, zu umgehen, darauf hin, dass dies wohl häufig vorgekommen sein mag. Auch für dieses Geschäft brauchte es zwei Seiten, Juden und Christen, die davon profitierten, Amtspersonen, die bestochen werden konnten, oder Kaufleute, die sich gegen Entgelt bereit erklärten, die Waren von Juden zu transportieren. Kontakte zwischen Christen und Juden mussten jedoch nicht immer friedlicher Natur sein, sondern waren auch von Judenfeindschaft, von Auseinandersetzungen, die mitunter auch gewalttätig enden konnten, geprägt. Auch wenn eine Vielzahl von Konflikten zwischen Christen und Juden überliefert sind, so steht hinter diesen Streitigkeiten auch ein "Normalzustand" im ländlichen Alltag, in dem Christen und Juden – bei weitem nicht immer friedlich – miteinander lebten und überlebten.

Aufgrund der Forschungen der letzten Jahre zur jüdischen Geschichte in Niederösterreich präsentiert sich das Land unter der Enns nun als eine Region, in der sich vor allem im 17. Jahrhundert ein dichtes Netz an jüdischen Siedlungen bilden konnte. Obwohl die Landjuden in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine teilweise Loslösung von der Wiener Gemeinde dadurch erreichen konnten, dass sie ab 1652 selbständig ihre Steuern an den Landesherrn entrichteten, blieb die Wiener Judenschaft jedoch auch weiterhin das Zentrum für das niederösterreichische Landjudentum. Die Entscheidung Kaiser Leopold I., die Juden aus Wien auszuweisen, war schließlich dafür verantwortlich, dass auch die niederösterreichischen Landjuden im Frühjahr 1671 das Land verlassen mussten. Die Blütezeit der jüdischen Landgemeinden Niederösterreichs war zu Ende.

 1 Edward Brown, M. D., Auf genehmgehaltenes Gutachten und Veranlassung der Könl.- Engell. Medicinischen Gesellschafft in London Durch Niederland / Teutschalnd / Hungarn / Serbien / Bulgarien / Macedonien / Thessalien / Oesterreich / Steiermark / Kärnthen / Carniolen / Friaul / etc. gethane gantz sonderbare Reisen (...). Nürnberg 1686, S. 219.

 2 Siehe z. B. die Sammelbände Rolf Kießling (Hrsg.), Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches. Berlin 1995 (Colloquia Augustana 2), S. 128-153; Rolf Kießling – Sabine Ullmann (Hrsg.), Landjudentum im deutschen Südwesten während der Frühen Neuzeit. Berlin 1999 (Colloquia Augustana 10), sowie Sabine Ullmann, Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in den Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650-1750. Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 151).

 3 Z. B. Bernhard Purin, Die Juden von Sulz. Eine jüdische Landgemeinde in Vorarlberg 1676-1744. Bregenz 1991 (Studien zur Geschichte und Gesellschaft Vorarlbergs 9); Karl Heinz Burmeister, Medinat Bodase, Bd. 3: Zur Geschichte der Juden am Bodensee 1450 – 1618. Konstanz 2001. Zu Hohenems siehe noch immer: Aron Tänzer, Geschichte der Juden in Hohenems und im übrigen Vorarlberg. Meran 1905 (ND Bregenz 1982).

 4 Leopold Moses, Die Juden in Niederösterreich. (Mit besonderer Berücksichtigung des XVII. Jahrhundert). Wien 1935.

 5 Leo , Geschichte der Juden in den N. Ö. Provinzstädten im XVII. und XVIII. Jahrhundert. Ungedr. phil. Diss., Wien 1929.

 6 Sabine Hödl, Zur Geschichte der Juden in Österreich unter der Enns 1550-1625. Ungedr. phil., Diss., Wien 1998; Peter Rauscher, Langenlois – æåì Eine jüdische Landgemeinde in Niederösterreich im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. Horn – Waidhofen/Thaya 2004 (Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes 44).

 7 Im Folgenden wird auf Hinweise auf Forschungsliteratur und Quellen verzichtet. Alle genauen Nachweise sind in der kommenden Publikation "Gantze Dörffer voll Juden". Geschichte der Juden in Niederösterreich 1496-1670/71, die 2005 erscheinen wird, angeführt.

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