Der Film "Opfer des
Hasses" (Österreich 1923) und das "Jüdische Hilfswerk"
Ein Werbefilm als zeitgeschichtliches Dokument
Thomas SOXBERGER
Der 1923 in Wien und Baden bei Wien für das "Jüdische
Hilfswerk" gedrehte Propagandafilm "Opfer des Hasses. Die Tragödie eines
russischen Fabrikanten in 4 Akten von Ing. Rafael Barisch" wurde erst vor
wenigen Jahren in einem Moskauer Archiv wieder entdeckt.1 Eine Erstaufführung
der restaurierten Fassung mit Klavierbegleitung erfolgte im Rahmen der vom
Filmarchiv Austria organisierten Reihe "Galizien die Republik der Träume.
Spielfilme über eine vergessene Region" am 26. Februar 2003 im Metro-Kino. Die
Vorführung stand in Zusammenhang mit der Ausstellung "Zwischen Ost und West.
Galizische Juden und Wien (7. November 2000 18. Februar 2001)" im Jüdischen
Museum der Stadt Wien, in der auch Filmausschnitte gezeigt wurden. Im
Ausstellungskatalog wird "Opfer des Hasses" kurz als ein "von Hans Marschall im
Auftrage des jüdischen Hilfsvereines [sic!] gedrehte[r] Dokumentarfilm"
definiert, der ein "ziemlich idealisiertes Bild von Wien" zeichne, und auf eine
im Gegensatz dazu von Antisemitismus und "konsequent betriebenen
Diffamierungskampagnen gegenüber den Ostjuden im Wien der zwanziger und
dreißiger Jahre" gekennzeichnete Realität verwiesen.2
Die Vorführung des Filmes im Kontext einer Galizien-Ausstellung erfolgte also
unter der Annahme, sein historischer Hintergrund sei der galizische
Flüchtlingsstrom, der mit der Offensive der russischen Armee zu Beginn des
Ersten Weltkrieges einsetzte. Bei näherer Betrachtung der Spielhandlung des
Films lässt sich aber erkennen, dass den historischen Bezugspunkt die Pogrome
gegen die jüdischen Gemeinden in der Ukraine zu Beginn der 1920er-Jahre
darstellen. Diese forderten eine nie genau eruierte Zahl von Opfern
Schätzungen gehen von über 50.000 Ermordeten und bis zu 100.000 weiteren
Todesopfern als indirekte Folge der Gewalttaten aus und waren eine der
schrecklichsten Aspekte der Bürgerkriege in Osteuropa nach 1917.3
Außer diesem allgemeinen Hintergrund lassen sich Produktion und Präsentation des
Films auch in Beziehung setzen zur politischen Lage des Jahres 1923 in
Österreich als auch innerhalb der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG Wien).
Das wird an den zeitgenössischen Berichten über die Presseaufführung des Filmes
1923 deutlich:
"Am 24. des Monats fand im Rotenturm-Kino die Pressevorführung des
Propagandafilms OPFER DES HASSES statt, der in Vertretung des Ministeriums für
soziale Verwaltung Sektionsrat Dr. Wenzel beiwohnte. Der Film schildert in
anschaulichen Bildern die Leiden eines von der Heimatscholle vertriebenen,
seiner Familie beraubten jüdischen Fabrikanten aus Russland, der nach einer
qualvollen Flucht in Wien ein gastliches Heim findet. Bilder aus den
Waisenhäusern in Baden und anderen humanitären Anstalten führen das segenreiche
Wirken dieser Institute vor Augen. Der Eindruck des wirkungsvollen Films wurde
durch die glänzenden Leistungen des Hauptdarstellers Szöreghy und des Leipziger
Opernsängers Max Kriener, der ostjüdische Lieder mit tiefem Empfinden vortrug,
wesentlich gehoben."4
Über dieselbe Vorführung wird auch in einer ungezeichneten Notiz in der
Zeitschrift "Die Wahrheit" berichtet. "Die Wahrheit" war ein Organ der "Union
deutschösterreichischer Juden", welche jahrzehntelang die Führung der IKG Wien
stellte und trotz Einbußen 1923 immer noch die führende Partei war. Ich zitiere
den Artikel hier vollständig, da er einige interessante Ergänzungen enthält:
Propagandafilm des Jüdischen Hilfswerks
Am 24. v. M. fand im Rotenturmkino die Pressevorführung des Films "Opfer des
Hasses" statt, der außer Vertretern der Presse in Vertretung des
Bundesministeriums für soziale Verwaltung Herr Sektionsrat Dr. Wenzel, sehr
viele Führer der Wiener jüdischen Oeffentlichkeit, sowie in Vertretung der
Wiener Kultusgemeinde deren Präsident Professor Dr. Alois Pick anwohnten.
Nachdem der Herr Kultusvorsteher Wolf Pappenheim eine sehr schwungvolle
Ansprache gehalten und das Mitglied der Leipziger Oper Herr Max Kriener einige
Gesangsstücke schön zum Vortrag gebracht hatte, folgte die Vorführung des Films,
der das Schicksal eines jüdischen Fabriksdirektors schildert, den blinder Haß
von der heimatlichen Scholle vertreibt und ihn seiner ganzen Habe beraubt. Nur
zwei Enkelkinder bleiben ihm erhalten und er flieht mit ihnen unter den
schwersten Entbehrungen. Völlig herabgekommen und seelisch gebrochen, gelangen
diese Opfer menschlicher Bestialität nach Wien, wo sie die Liebe ihrer
Glaubensbrüder warm umfängt und ihnen eine zweite Heimat gewährt. Die beiden
Kinder finden Aufnahme in dem Waisenhaus in Baden und vergessen gar bald die
Ereignisse, die ihre jungen Gemüter aufwühlten. Der Film, der gute Aufnahmen des
Elisabethheims, der Talmudthoraschule und anderer Agudainstitutionen, aber auch
einige alte Bekannte aus der Wiener jüdischen Oeffentlichkeit zeigt, wurde mit
großem Beifall aufgenommen."5
Es handelt sich nun um folgende jüdische Wohlfahrtseinrichtungen, deren Gebäude
und Tätigkeiten dokumentiert werden, wie aus den originalen Zwischentiteln des
Films hervorgeht (kursiv angeführt):
1. Das Waisenhaus in Baden. Ärztliche Untersuchung der Kinder aus dem
Pogromgebiet. Ein Pogromopfer. Ausspeisung. Unterricht. Turnen. Jahrzeit nach
einem verstorbenen Förderer des Waisenhauses. Bar Mizwah.
Gezeigt wird das Jüdische Waisenhaus in Baden bei Wien, Germergasse 48. Ein
Unterstützungsverein des Waisenhauses, dessen Gründungsjahr 1920 war bestand in
Wien II., Ferdinandstr. 29. Präsident war 1932 Isaak I. Thumim, Vizepräsident
Wolf Pappenheim, im Vorstand befand sich auch Rabbiner Leo Deutschländer. Ein
"Bund ehemaliger Zöglinge des Badener Waisenhauses" hatte seinen Sitz an der
Adresse Wien II. , Czerninplatz 4.6
2. Das Elisabeth-Heim für Kriegerwaisen, Lehrmädchen und Arbeiterinnen.
Gewerblicher Unterricht (gezeigt werden dabei Mädchen, die häkeln, sticken, Hüte
nähen). Turnen. Nach der Arbeit (gezeigt werden tanzende Mädchen). Dank der
Kinder. Ruhe (gezeigt wird ein Schlafsaal).
Das Heim hieß in späteren Jahren "Dr. Krüger-Heim für Lehrmädchen und
jugendliche Arbeiterinnen", Wien II. , Malzgasse 7. Dort befanden sich:
Frauengewerbeschule für Weißnähen und Kleidermachen, Koch- und
Haushaltungsschule, Sprachschulen, Kurse für Musik, Kunstgewerbe und Turnen.7
Die Filmszenen illustrieren diese Tätigkeiten der Einrichtung, wir sehen auch,
dass ein Internat angeschlossen war.
3. Talmud Thora Volks- und Bürgerschule in Wien. In der Geschichtsstunde.
Talmudstudium. Ein schwieriges Problem. Das grosse Verhör beim Herrn
Oberrabbiner. Belohnung der Fleißigen. Der Kindergarten.
1932 scheint diese Institution als "Volks- und Hauptschule für Knaben und
Mädchen (mit Öffentlichkeitsrecht) des Wiener Talmud-Thora-Schulvereines", Wien
II., Malzgasse 16, auf.8
Der gezeigte Oberrabbiner könnte der ab 1893 als Rabbiner der Schiffschul
amtierende Jesaja Fürst sein.
4. Lehrwerkstätten des "Jüdischen Hilfswerks". Schlosserei. Tischlerei.
Diese Einrichtung scheint 1932 nicht mehr auf, befand sich aber zu Beginn der
1920er-Jahre in Wien-Meidling, wie aus einem Bericht in der Zeitschrift "Die
Wahrheit" 1923, also im Erstaufführungsjahr des Filmes, hervorgeht. "Ch. B." (Chajim
Bloch, 1881-1973) berichtet, dass nach Ende der "Kenessio Gedaulo" der Agudas
Jisroel prominente Delegierte von Max Hofbauer9 zu einem "Ausflug zwecks
Besichtigung der von der Wiener Orthodoxie unterstützten Wohlfahrtsanstalten,
sowie der von der Agudas Jisroel gegründeten Lehrlingswerkstätten in Meidling"
eingeladen wurden.1 0
5. Das "Internat für verlassene Knaben" in Wien. Ausspeisung.
Hier handelt es sich vermutlich um das "Baron Springersche Waisenhaus für
Knaben; Heimstätte für verlassene Kinder (Knaben)", Wien XIV., Goldschlagstr.
84.1 1
Wie die Erwähnung von Wolf Pappenheim und der Agudahinstitutionen zeigt, war das
"Jüdische Hilfswerk" im Umfeld der jüdisch-orthodoxen Partei "Agudas Jisroel"
angesiedelt. Kultusvorstand Wolf Pappenheim war einer ihrer wichtigsten
Funktionäre, er war Obmann der Wiener Ortsgruppe der Agudas Jisroel in
Österreich1 2, befand sich im Vorstand des orthodoxen Vereines Adas Jisroel1 3,
des Waisenhauses in Baden bei Wien1 4 und des orthodoxen Schulvereins Jesod
Hathora.1 5
Damit sind die im Film gezeigten Einrichtungen der Wiener Orthodoxie aber
eigentlich nicht solche der galizischen, oder wie es zeitgenössisch meist hieß,
"polnischen" Juden, da die Wiener Organisation der orthodoxen"Agudas
Jisroel"-Partei weitgehend von der "ungarischen" Orthodoxie dominiert wurde.
Deren Zentrum war die "Schiffschul", die Vereinssynagoge der "Adas Jisroel" in
der Großen Schiffgasse 8.1 6 Die ungarische Orthodoxie war auch in Baden bei
Wien gut organisiert.
Die Pressevorführung im Juli 1923 stand im Kontext der Vorbereitungen zur "Kenessio
Gedaulo" ("Große Versammlung") der "Agudas Jisroel", die am 15. August 1923 in
Wien zusammentrat. Auf dieser Konferenz, an der wichtige Vertreter des
orthodoxen Judentums teilnahmen, wurden weit reichende Beschlüsse gefasst und
große Anstrengungen gemacht, die Agudas Jisroel zu einer weltweiten,
durchsetzungsfähigen Organisation der Orthodoxie zu machen. Die "Wahrheit"
berichtete sehr positiv über dieses Ereignis.1 7 Tatsächlich war das Verhältnis
zwischen Liberalen und Orthodoxen nicht immer so harmonisch, wie in der
Berichterstattung vermittelt wird, hier zeigt sich vielmehr das Werben der
"Union der Österreichischen Juden" um einen oft recht schwierigen, aber immer
mehr an Gewicht gewinnenden Koalitionspartner.
Wiener Orthodoxie und die IKG Wien
Die jahrzehntelang in der Kultusgemeinde tonangebende liberale Partei "Union"
sah sich Anfang der zwanziger Jahre von zwei Seiten unter Druck gesetzt: von
Zionisten und Orthodoxen. Der Flüchtlingsstrom aus Galizien hatte spürbare
Veränderungen in die Zusammensetzung des Wiener Judentums gebracht, auch die
allgemeinen politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen verschoben die
Kräfteverhältnisse zugunsten der Zionisten und der Orthodoxie.
Die zionistische Bewegung erfuhr zu Ende des Ersten Weltkrieges einen enormen
Aufschwung durch ihre geschickte Propagierung der so genannten
Balfour-Deklaration und die starke Aktivität um die Einrichtung eines "Jüdischen
Nationalrates für Österreich". Die Union sah sich daher zu einer Politik der
strategischen Zugeständnisse und Wahlbündnisse mit den aufstrebenden Kräften
genötigt. Für die Kultusgemeindewahlen 1924 wurde eine gemeinsame Liste
"Vereinigte jüdische Parteien" mit einer orthodoxen Liste und den
Jüdisch-Nationalen gebildet.1 8
Aber auch innerhalb der Wiener Orthodoxie gab es Veränderungen durch den
Weltkrieg. Im 19. Jahrhundert war sie von der so genannten "ungarischen"
Orthodoxie dominiert, die besonders in Westungarn (heute Burgenland und
Slowakei) ihre Basis hatte. Die Führung der Wiener Agudas Jisroel war praktisch
identisch mit der Führung dieser ungarischen Orthodoxen der "Schiffschul". Bis
zum Ersten Weltkrieg hatten sich die Orthodoxen der "Adas Jisroel" im Anspruch,
die Vertreter des wahren Judentums zu sein, von der Politik der offiziellen
Kultusgemeinde, der sie formal angehörten, weitgehend fern gehalten und sich dem
Aufbau eigener Institutionen gewidmet. Gelegentlich drohten sie mit Abspaltung,
im Unterschied etwa zu vielen Gemeinden in Ungarn oder Deutschland kam es aber
nie zu einer "Austrittsorthodoxie", sondern man gab sich mit den erreichten
Zugeständnissen zufrieden.
Nach dem Ersten Weltkrieg änderte sich die Taktik der Orthodoxie insofern, als
die politische Enthaltung aufgegeben wurde. Das Auftreten einer konkurrierenden
Orthodoxie der Zuwanderer aus Galizien veranlasste offenbar die "ungarischen"
Orthodoxen dazu, ihre Strategie neu zu definieren. Die "Adas Jisroel" versuchte
nun, sich als Sprecher der Gesamtorthodoxie in Wien zu profilieren, stieß dabei
aber auch im orthodoxen Milieu auf Widerstand. Das hatte auch damit zu tun, dass
die Galizianer dem Zionismus weit aufgeschlossener gegenüber standen und die
Basis für die "Misrachi", die religiösen Zionisten, bildeten, während die "Adas
Jisroel" strikt antizionistisch eingestellt war.1 9
Alles das führte zu komplizierten und wechselnden Konstellationen in der IKG.
Für die Wiener Gemeinde- und Landtagswahlen 1924 bildete etwa die Union mit den
Jüdischnationalen eine gemeinsame Liste, um Vertreter jüdischer Interessen in
die Wiener Bezirksorganisationen und den Landtag entsenden zu können, die
Orthodoxie blieb diesem Wahlbündnis aber fern.2 0 Wie die Historikerin Harriet
Pass-Freidenreich betont, befand sich die österreichische jüdische Orthodoxie in
einem Dilemma, was ihre politische Vertretung auf Landtags- und nationaler Ebene
betraf. Die Sozialisten waren für die jüdischen Orthodoxen, die vorwiegend
kleine selbständige Unternehmer waren, aus ideologischen und sozialen Gründen
nicht wählbar, die Christlich-Sozialen wiederum versuchten, sich als Förderer
eines "christlichen" Mittelstandes zu profilieren und bedienten sich dabei oft
einer aggressiven, antisemitischen Polemik in sozialen und gesellschaftlichen
Fragen.
Des ungeachtet wurde zur Eröffnung der "Kenessio Gedaulo" auch Bundeskanzler
Seipel eingeladen, der sich allerdings in einer recht knappen formulierten
Grußbotschaft für sein Fernbleiben entschuldigte und "einen gedeihlichen
Verlauf" der Verhandlungen wünschte. In einer diplomatischen Wendung anerkannte
er die ideellen Ziele der Aguda, wobei interessant ist, dass er dies als
katholischer Priester tat, nicht als Bundeskanzler und Vertreter einer
regierenden Partei:
"[...]In einer Zeit, die den aufbauenden Wert des Gottesglaubens und der Treue
zur angestammten Religion weiten Volkskreisen neuerdings vor Augen geführt hat,
begrüße ich es als katholischer Priester [sic!] aufrichtig, wenn Agudas Jisroel,
diese Organisation des rein religiös orientierten Teiles der Judenschaft, sich
ihrerseits mit Ueberzeugungstreue für diese ewigen Ideen einsetzt.
Ich danke Ihnen auch für die freundlichen Worte, die Sie in ihrem
Einladungsschreiben für das Sanierungswerk Oesterreichs fanden, dessen Regierung
sich bewußt ist, den jüdischen Bürgern ihres Landes die von der Verfassung
verbürgten Rechte gewahrt zu haben".2 1
Die Agudas Jisroel
Die Agudas Jisroel war 1912 in Kattowitz als politische Vereinigung der
jüdischen Orthodoxie gegründet worden, um die Kooperation der Orthodoxie über
die europäischen nationalen Grenzen hinweg und effektives Lobbying für ihre
Anliegen zu gewährleisten. Der Erste Weltkrieg bedeutete für die Agudas Jisroel
eine erste Bewährungsprobe. Die Kriegshandlungen führten zu großen Flucht- und
Wanderungsbewegungen, was die traditionelle jüdische Lebensweise Osteuropas, die
schon während des 19. Jahrhunderts durch ökonomische, soziale und politische
Entwicklungen immer mehr unter Druck geraten war, nun mehr denn je in Frage
stellte. Auch das Kriegsende brachte keine Besserung, sondern eine Pogromwelle
in bisher unbekanntem Ausmaß. Die Friedensschlüsse der neuen Nationen
Ostmitteleuropas mit Sowjetrussland und die Gründung der Sowjetunion 1922
brachten zwar eine gewisse Stabilisierung der Situation. Ein beträchtlicher Teil
des osteuropäischen Judentums Weißrusslands und der Ukraine fand sich aber nun
unter der Herrschaft eines dezidiert religionsfeindlichen und in seinem
Modernisierungseifer rücksichtslos gegen alle Traditionen und religiösen
Institutionen vorgehenden Regierungssystems. Die Wiener "Kenessio Gedaulo"
verabschiedete daher mehrere Resolutionen: an den Völkerbund, an den Präsidenten
der Vereinigten Staaten, gegen den Antisemitismus und gegen die Verfolgung in
Russland.2 2Doch wartete man nicht auf Hilfe von Seiten der Weltmächte, sondern
die Orthodoxie versuchte, die eigenen Hilfsprogramme auf ein solides
organisatorisches Fundament zu stellen. Damit sind wir beim "Jüdischen
Hilfswerk".
Das "Jüdische Hilfswerk" in Wien
Über die Gründung des "Jüdischen Hilfswerks" erhalten wir Aufschluss in einem
Artikel von Martin Rathsprecher.2 3 Unter dem Titel "Das jüdische Hilfswerk. Ein
organisatorischer Neubau für soziale Fürsorge der Agudas Jisroel", berichtete
er, dass der "erste Weltkongreß der orthodoxen Judenschaft den Beschluß fasste,
ein interterritoriales jüdisches Hilfswerk ins Leben zu rufen, für alle Juden
ohne Unterschied ihrer Staatszugehörigkeit". Eine Zentralisierung der
Hilfsaktionen sei durch die aktuelle Lage ein Gebot der Stunde, da klar sei,
dass "eine Verwaltung, die von einem einheitlichen Geiste getragen wird, um
vieles mehr zu leisten vermag als im umgekehrten Falle".2 4
Die Wiener Zentrale legte der sozialen Kommission des Kongresses einen Entwurf
vor, der "im Prinzipiellen vollste Einmütigkeit fand", so Martin Rathsprecher,
der folgende Punkte dieses Entwurfes referierte:
"1. Das jüdische Hilfswerk hat sein Hauptbüro am Sitz der Zentrale
(Landeszentralen befinden sich in den einzelnen von Juden bewohnten Ländern) und
erstreckt seine Tätigkeit über die ganze Erde.
2. Das jüdische Hilfswerk untersteht dem Zentralrat der Agudas Jisroel.
3. Die Tätigkeit des jüdischen Hilfswerks ist:
a) Zusammenfassung der bestehenden sozialen Institutionen, die auf religiöser
Grundlage geführt werden, zwecks Systematisierung des Verwaltungswesens,
b) Gründung und Erhaltung von sozialen Institutionen, (Kranken- und
Waisenhäuser, Lehrwerkstätten, Säuglings- und Altersversorgung),
c) Schaffung und Ausbau von Fürsorge- und Beratungsstellen,
d) Gründung und Erhaltung von gemeinnützigen Banken zur Förderung von Kaufleuten
und Gewerbetreibenden,
e) Errichtung von Büros für Rechtsschutz und Berufsberatung,
f) rascheste Organisierung besonderer Hilfsaktionen für den Fall plötzlich
eintretenden Massenelends.
Bedenkt man, dass die Vorarbeiten für die endgültige Errichtung des jüdischen
Hilfswerks bis Ende 1923 fertiggestellt sein müssen, wird man sich einen Begriff
davon machen können, welch eine fieberhafte Tätigkeit bei der Wiener Filiale des
jüdischen Hilfswerks, das mit diesen Vorarbeiten betraut ist, einsetzen wird,
wenn zu ihren sonstigen Obliegenheiten, die in der Erhaltung von zwei
Waisenhäusern in Baden, einem Internat für verlassene Knaben in Wien und in der
endlichen Errichtung und Eröffnung der großangelegten jüdischen Lehrwerkstätten
in Meidling bestehen, noch erstere hinzukommen.
Durch die von der "Kenessio Gedaulo" erfolgte Annahme des oben erwähnten
Entwurfes hat die soziale Fürsorge der Agudas Jisroel einen in seiner Bedeutung
kaum abzuschätzenden Schritt nach vorwärts getan. Wollen wir hoffen, dass dieses
durch nennenswerten Fleiß hervorgegangene Produkt auch bald die schönsten
Früchte zeigen wird." 2 5
Aus den Formulierungen Rathsprechers lässt sich allerdings herauslesen, dass die
Zentralisierungsbestrebungen innerhalb der Agudas Jisroel nicht unumstritten
waren und ein Teil der Delegierten auf dezentralisierten Strukturen beharrt
haben dürfte. Damit ist der Film auch als Teil der Überzeugungsarbeit innerhalb
der Agudas Jisroel selbst zu sehen.
Die Tätigkeit der Agudas Jisroel und des "Jüdischen Hilfswerks", wie sie auch im
Film gezeigt wurde, zielte vor allem darauf, jüdische Kinder und Jugendliche dem
orthodoxen Judentum zu erhalten. In diesem Bereich gab es auch greifbare
Erfolge, und Wien hatte eine starke orthodoxe jüdische Jugendorganisation, eine
der größten innerhalb der Agudah.2 6
Wien wurde auch in den 1920er-Jahren eine wichtige organisatorische Zentrale für
das orthodoxe Schulwesen in Osteuropa. So erfahren wir etwa aus dem Jüdischen
Jahrbuch für 1932, dass in Wien eine Beth-Jakob-Schule bestand (II., Obere
Donaustraße 12), sowie ein "Institut für die Donaurandstaaten" (im Krüger-Heim
in der Malzgasse 7), offenbar eine Lehrerbildungsanstalt.2 7 1923 veranstaltete
der geschäftsführende Ausschuss der Agudas Jisroel ein Preisausschreiben für
Verfasser von Schulbüchern für religiöse Schulen in hebräischer, jiddischer und
deutscher Sprache.2 8
Die "Beth-Jakob-Schulen" waren orthodoxe Bildungseinrichtungen für Mädchen, die
vor allem in Polen aktiv waren. Die Unterrichtssprache in diesen Schulen war
(und ist auch heute noch großteils) Jiddisch. Die Begründerin dieser Schulen war
die bemerkenswerte Sarah Schenirer (1883-1935).2 9 In Wien wirkte in den
zwanziger Jahren ihr wichtigster Mitarbeiter Rabbiner Leo Deutschländer
(1888-1935), der ein sehr effektiver "Fundraiser" für diese Schulen war.3 0
Der ideologische Gehalt des Films
In einer Beschreibung des Filmarchivs Austria wird folgende Inhaltsangabe und
Charakterisierung des Filmes gegeben:
"Nachdem Familienmitglieder des von der russischen Revolution enteigneten
jüdischen Fabrikanten Goldschmidt einem Pogrom zum Opfer gefallen sind,
emigriert er mit zwei geretteten Enkelkindern nach Wien. Das jüdische Hilfswerk
bringt die Emigranten im Waisenhaus in Baden unter, wo Goldschmidt einem
Besucher seine Geschichte erzählt.[...] Der Film ist eine Mischform, in der die
Spielszenen in einen dokumentarischen Rahmen gestellt sind. Die in Rückblenden
erzählte Geschichte des Fabrikanten fungiert hier als Anlassfall, um die
Errungenschaften aller vom Sozialministerium geförderten Institutionen zu
zeigen.[...] Den Anlassfall konnte man 1923 in Wien auch als Warnung vor dem
"bolschewistischen Vorbild" an die heimische Arbeiterbewegung verstehen.
Interessant aus heutiger Sicht ist die Demonstration der verdienstvollen
Tätigkeit des Jüdischen Hilfswerks beim Aufbau einer sozialen Infrastruktur für
Flüchtlinge. Der Film bietet authentische Bilder von Baden und gibt Einblick ins
Leben der vorgestellten Institutionen."3 1
Die "Opfer des Hasses" sind die Opfer der Pogrome des Bürgerkrieges nach den
russischen Revolutionen von 1917. Der Fabrikant Goldschmidt wird von einem
zweifachen Unglück getroffen: durch eine proletarische Revolution enteignet und
an den Bettelstab gebracht, verliert er in weiterer Folge noch den Großteil der
Familienangehörigen durch einen Pogrom einer berittenen Bande. Gemeint sind
damit vermutlich Kosaken, keine Rotarmisten. Die Aussage, dass "der tendenziöse
Inhalt des Anlassfalls den russischen Arbeitern und Rotarmisten die Schuld an
Pogromen anlastet, die es in Russland immer wieder gegeben hat" wird daher der
Darstellung des Filmes nicht ganz gerecht, wenn auch seine antisozialistische
Tendenz außer Zweifel steht.3 2
Eine weitere Tendenz des Films, die allerdings nur indirekt zum Ausdruck kommt,
ist eine antizionistische. Die Zionisten hatten schon früher, wie z.B. der Film
"Herzl" zeigt, den Film als effektives Propagandamedium für sich entdeckt.3 3
Die Darstellung des traditionellen Judentums in "Opfer des Hasses" ist eine
Antwort auf alle, die dieses als überholt ansahen darunter die Mehrheit der
zionistischen Theoretiker, welche einen völligen Umbau der Sozialstruktur des
jüdischen Volkes und die Auflösung der Diaspora als notwendig und erstrebenswert
ansahen.
Dem gegenüber soll der Film eine moderne Orthodoxie präsentieren, die sich in
ihrer sozialen Tätigkeit auf der Höhe der Zeit befindet. Das Programm des
"Jüdischen Hilfswerkes" richtete sich auf durchdachte, langfristige und
"nachhaltige" Lösungen für das Massenelend der jüdischen Bevölkerung Osteuropas.
Der Umgang mit den Kriegsflüchtlingen aus Galizien zu Beginn des Ersten
Weltkrieges durch die offiziellen Stellen der IKG hatte auch starke Kritik
ausgelöst, er wurde als bürokratisch und nicht auf die wahren Bedürfnisse der
Menschen zugeschnitten beschrieben. Der Film über das Jüdische Hilfswerk sollte
offenbar vermitteln, dass die Wiener IKG und die Wiener jüdischen
Sozialeinrichtungen Kompetenz im Umgang mit Flüchtlingen hatten und sogar als
internationales Vorbild dienen konnten.
Filmproduzenten und Darsteller
Das "Jüdische Hilfswerk" dürfte den Auftrag zur Herstellung des Filmes an
nichtjüdische Filmschaffende gegeben haben, für die er eine Gelegenheitsarbeit
darstellte. Allerdings ist sehr wenig über die Darsteller bekannt. Zumindest der
Regisseur Hans Marschall und der Hauptdarsteller in der Rolle des Fabrikanten
Goldschmidt, Julius (von) Szöreghi, waren keine Juden.
Julius (von) Szöreghi spielte in den 20er Jahren und bis Anfang der 30er Jahre
in Unterhaltungsfilmen, meistens allerdings nur kleine Nebenrollen. Bekannte
Titel sind etwa "Sodom und Gomorrha" (Ö 1922), "Das alte Lied" (D 1930),
"Viktoria und ihr Husar"
(D 1931) und "Karneval der Liebe" (D 1943). Er gehörte damit zu der großen Zahl
ungarischer Filmschaffender, die in der Frühzeit des österreichischen Filmes
tätig waren. Auch Fred Louis Lerch (1902-1985) war ein Schauspieler der
Stummfilmära in Österreich und Deutschland.
Über den Drehbuchautor Rafael Barisch und die übrigen Schauspieler konnten
vorläufig keine Details eruiert werden.
Als Schauspieler in einigen in Österreich entstandenen Horrorfilmen tauchte ein
Hans Marschall in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg auf. Wenn Hans Marschall
identisch ist mit Hanns Marschall, dem Regisseur unseres Films, dann handelt es
sich um den 1896 in Berlin geborenen Johannes Ickes, der am 12. August 1966 in
Bad Brückenau verstarb.3 4
Hans bzw. Hanns Marschall könnte aufgrund seiner Verbindungen zum und eventuell
auch wegen seiner politischen Verbindungen zu diesem Auftrag des "Jüdischen
Hilfswerks" gekommen sein. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Verbindungen
über das Wiener "Kriegspressequartier" (KPQ) im Ersten Weltkrieg entstanden
sind, das eine akitive Filmstelle und auch eine Reihe jüdischer Mitarbeiter
hatte. Das KPQ wurde zwar bereits mit Kriegsende aufgelöst, "Verstaatlichung"
und Mobilmachung für Propagandazwecke von Literatur und Film während des Krieges
wirkten aber in der Nachkriegszeit vielfältig nach. Über Hanns Marschall sind
nur wenige biographische Details bekannt, aber seine Tätigkeit lässt sich über
einige Jahrzehnte verfolgen. Die Versuche als Schauspieler und Regisseur
unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in Österreich dürften erste Gehversuche in
der Filmindustrie gewesen sein, in der Folge etablierte er sich in Berlin, er
arbeitete zum Beispiel mehrmals mit dem erfolgreichen Regisseur Harry Piel
(1892-1963) zusammen.
Daneben publizierte er auch in verschiedenen Genres und verfasste
Kriminalromane, historische Romane und Anekdotensammlungen. Später finden wir
ihn als Autor bei einem Berliner Verlag, dem "Verlag für Kulturpolitik". Das ist
bemerkenswert, da dieser Verlag seine Entstehung der besonderen Mischung von
Kulturpolitik und politischer Propaganda verdankte, wie sie während des Ersten
Weltkrieges entstanden war und auch für die gesamte Zwischenkriegszeit typisch
war und er einen klaren Österreich-Bezug hatte. 1919 als ein
konservativ-pazifistischer Verlag von dem Publizisten Carl Thesing (1879-1956)
in München gegründet, 1925 nach Berlin verlegt, war sein Schwerpunkt die
publikumswirksame Aufbereitung zeitgeschichtlicher Themen. Verlagsleiter war in
den zwanziger Jahren Karl Friedrich Novak, der während des Ersten Weltkrieges im
KPQ tätig gewesen war und den Verlag ins Fahrwasser der "Pan-Europa"-Bewegung
führte. Der Verlag publizierte auch gelegentlich zu jüdischer Thematik, so
erschien dort 1931 ein Buch des Wiener jüdischen Journalisten Chajim Bloch.3 5
Bloch war es auch, der über den erwähnten Delegiertenausflug der "Kenessijo
Gedaulo" von 1923 berichtet hatte.3 6
Nach 1933 wurde der Verlag in nationalsozialistischem Sinne "gleichgeschaltet"
und bestand als "Verlag für Kulturpolitik Otto Schaffer" bis zu Anfang der 40er
Jahre, wobei der Schwerpunkt sich auf historische Romane bzw. populäre
Darstellungen historischer Themen verlagerte.3 7
Für die Jahre unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg konnte ich bisher keinen
Hinweis auf eine Publikation oder die Beteiligung an einem Film finden. Offen
bleibt, ob er als politisch "belastet" galt oder einfach ökonomische Gründe
dafür ausschlaggebend waren. Zu Beginn der 50er Jahre war Hanns Marschall
jedenfalls wieder im Geschäft. 1951 wurde etwa sein Roman "Öl brennt in
Persien", der bereits 1941 beim Verlag für Kulturpolitik Otto Schaffer
erschienen war, im Verlag Broschek, Hamburg, neu aufgelegt. Als Drehbuchautor
verlegte Marschall sich nun, durchaus zeittypisch, auf das Genre des Heimatfilms
(etwa "Die große Schuld", BRD/Ö 1953) und des Heimatromans. Er schrieb nun auch
Hörspiele, die letzten Publikationen erscheinen Mitte der 1950er Jahre.
Ickes/Marschall war also offenbar ein unermüdlicher Produzent in jenem Genre,
dass man gerne als "gehobene Unterhaltung" bezeichnete, und als Drehbuchautor
und Verfasser von Krimis sehr produktiv. Diese Eigenschaften erlaubte es ihm, in
der Unterhaltungsindustrie einen Platz zu finden, an dem er sich Jahrzehnte lang
über alle politischen Veränderungen hinweg zu behaupten wusste. Seine Tätigkeit
während der NS-Zeit erklärt allerdings, warum der Film "Opfer des Hasses" nicht
in seinem Werkverzeichnis aufscheint.
Der Film als historisches Dokument
Was den "Mischcharakter" des Filmes betrifft, so ist dazu zu bemerken, dass
einerseits der Spielhandlung "dokumentarischer" Charakter zukommen soll,
andererseits auch der Großteil "Dokumentaraufnahmen" keineswegs zufällige und
spontane Ausschnitte aus dem Leben zeigt, sondern bewusst für die Kamera agiert
wurde. Beispiele für den "dokumentarischen" Charakter sind die zwei Szenen des
Filmes, in denen eine Karte der österreichisch-ungarischen Monarchie zu sehen
ist. Da der Film "aktuell" sein wollte, also die gegenwärtige Arbeit des
Hilfswerks unterstützt werden sollte, es allerdings, wie der Film auch betont,
schon "einige Jahre" tätig war, könnte das ein Versuch sein, der Spielhandlung
das richtige Zeitkolorit zu geben: die Aufnahme der Tätigkeit des Hilfswerks und
die Ankunft des Fabrikanten Goldschmidt wären dann noch vor November 1918 in
Wien erfolgt. Doch würde eine nostalgische Reminiszenz an die Monarchie gut in
die Atmosphäre des Jahres 1923 passen.
Der Film beginnt mit einer idealisierenden Darstellung einer patriarchalisch
geprägten jüdischen Tradition. Die ganze Familie versammelt sich zum Kiddusch am
Tisch des Familienvaters, der in einer anderen Szene als Fabrikherr auch als
gütiger Vater seiner Arbeiter gezeichnet wird. Sozialistische Agitation wird
deutlich zwielichtigen, ja verbrecherischen Elementen zugeordnet. Hervorzuheben
ist die Figur eines christlichen Arbeiters, der sich der antisemitischen
Agitation widersetzt und der Familie Goldschmidts praktische Hilfe leistet.
Der Spielhandlung fehlt eine differenzierte Charakterzeichnung, sie ist bloße
Illustration von feststehenden Wertungen und appelliert an vorgefasste
Meinungen. Er wendet sich offensichtlich in erster Linie an ein eher
konservativ-bürgerliches Publikum.
Als das Zielpublikum des Propagandafilmes lassen sich daher zwei Gruppen
annehmen. Er könnte erstens für Vertreter des Wiener Judentums, die als
Geldgeber für die Tätigkeit des "Hilfswerks" in Frage kamen, intendiert gewesen
sein. Nach der Darstellung von Rathsprecher handelte es sich bei ihm vor allem
um eine Neuorganisation bereits bestehender Einrichtungen und Hilfsaktionen.
Daraus lässt sich ableiten, dass der Film die geplante Zentralisierung der
Hilfseinrichtungen der Agudas Jisroel unterstützen und damit auch innerhalb der
Weltorganisation der Orthodoxie um Zustimmung für die umfassenden Pläne einer
Reorganisation dieser Hilfseinrichtungen werben sollte. Leider wissen wir nichts
über andere Aufführungen des Films. Die Wiener "Kenessijo Gedaulo" markierte
jedenfalls eine wichtige Phase in der Entwicklung der Agudas Jisroel und ihrer
Orientierung. Nur zehn Jahre später, mit der Machtergreifung Hitlers in
Deutschland, wurde das von Rathsprecher skizzierte Programm des "Hilfswerks"
höchst aktuell.
Die hauptsächliche Propagandawirkung des Filmes dürfte vom dokumentarischen Teil
ausgegangen sein, der den Film als historisches Dokument bis heute interessant
macht. Hier wird eine auf der Höhe der Zeit agierende Orthodoxie gezeigt, deren
Netzwerk an sozialen und Bildungseinrichtungen in weiterer Folge imstande war,
auf massive Veränderungen im jüdischen Leben zu reagieren. Diese Fähigkeit der
Agudas Jisroel, das orthodoxe Ideal jüdischen Lebens in konkrete soziale und
politische Netzwerke umzusetzen, erlaubte es der prinzipiell antizionistisch
eingestellten Orthodoxie, sich als Wahrerin jüdischer Werte zu profilieren. Es
gelang ihr in weiterer Folge, ihre Ideologie und Organisation so zu
modifizieren, dass sie auch im Staat Israel eine wichtige Rolle einnehmen und
bis heute spielen kann. Der Film "Opfer des Hasses" illustriert die Anfänge
dieser Entwicklung, was ihn zu einem einzigartigen historischen Dokument macht.
1 Regie: Hans Marschall, Buch: Rafael Barisch, Kamera
Gustav Kovacs Bauten Stefan Wesselly, Darsteller (Rollen) E. W. Emo (Iwan),
Julius Szöreghy (Goldschmidt), Midy Astori (Frau Goldschmidt), R. Majeritsch
(Rachel), L. Mandl (Lea), Fred Louis Lerch (Leas Bräutigam), G. Grohmann
(Jakob), Resi Hammer (Jakobs Frau), S. Hammer (Sascha), S. Schrötter (Herr vom
Komitee). Produktion Jüdisches Hilfswerk, Wien , Format 35mm, s/w, stumm,
deutsche Zwischentitel, Länge ca. 45 Minuten (1.150 m, 4 Akte). Angaben nach
Filmarchiv Austria, im Internet unter:
http://www.filmarchiv.at/events/galizien/opfer.htm
2 Gabriele Kohlbauer-Fritz, "Zwischen Ost und West. Spaziergang durch eine
Ausstellung." In: Zwischen Ost und West. Galizische Juden in Wien. Herausgegeben
von Gabriele Kohlbauer-Fritz im Auftrag des Jüdischen Museums Wien, Wien 2000,
S. 86.
3 Salo W. Baron, The Russian Jew under Czars and Soviets, 2nd ed., Schocken
Books, New York 1987, S. 184.
4 Das Kino-Journal, 28. Juli 1923, Nr. 678, zitiert nach: Filmarchiv Austria,
siehe Anm. 1.
5 Die Wahrheit. Unabhängige Zeitschrift für jüdische Interessen. Mit dem
Beiblatt: Veröffentlichungen der "Union deutschösterreichischer Juden", XXXIX.
Jg., Nr. 16, 10. August 1923, S. 16.
6 Jüdisches Jahrbuch für Österreich, Herausgegeben von Löbel Taubes und Chajim
Bloch, Wien 5693/1932, S. 79.
7 a.a.O. S. 42.
8 a.a.O., S. 42.
9 Nicht identifiziert.
10 Ch[ajim] B[loch], "Delegiertenausflug zu den jüdischen Institutionen". Die
Wahrheit, XXXIX. Jg., Nr. 18/19, 10. September 1923, S. 32. Die Adresse der
Lehrwerkstätten wurde noch nicht ermittelt.
11 Jüdisches Jahrbuch (Anm. 6) , S. 70.
12 a.a.O., S. 53.
13 a.a.O., S. 52.
14 a.a.O., S. 79.
15 a.a.O., S. 52.
16 a.a.O., S. 51.
17 Siehe "Der Kenessio zum Gruße", in: Die Wahrheit, XXXIX Jg., Nr. 17, 17.
August 1923, S. 3-7.
18 Harriet Pass-Freidenreich, Jewish Politics in Vienna, 1918-1938, Bloomington,
Indiana University Press 1991, S. 136.
19 a.a.O., S. 116-117.
20 a.a.O., S. 127.
21 Die Wahrheit (wie Anm. 14), S. 4.
22 "Die wichtigsten Resolutionen und Beschlüsse der Kenessio Gedaulo", in: Die
Wahrheit, Nr. 18/19, 10. Sept. 1923, S.5-8.
23 Evelyn Adunka: Martin Rathsprecher, 2. 5. 1900 Wien 15. 2. 1963 Wien, in:
Bohlbecher/Kaiser, Lexikon der Österreichischen Exilliteratur. Wien, Deuticke
2000, S. 530. Die dort gebrachten biographischen Angaben (falls es sich
tatsächlich um die selbe Person handelt) enthalten weder einen direkten Hinweis
auf eine Nähe des Journalisten zur Agudas Jisroel, noch auf solche zur "Union"
bzw. deren Organ "Die Wahrheit". Auffällig ist, dass der "Lyriker,
Feuilletonist, Hörspielautor" 1937 im "Krystall-Verlag" publizieren konnte, der
dem "nationalen" Schriftstellerlager in Österreich zuzuordnen war und im
allgemeinen jüdische Autoren nicht ins Programm nahm, siehe Murray G. Hall,
Österreichische Verlagsgeschichte, Wien, Böhlau 1985, Band II, S. 22.
24 Martin Rathsprecher, "Das jüdische Hilfswerk. Ein organisatorischer Neubau
für soziale Fürsorge der Agudas Jisroel", Die Wahrheit, Nr. 20, 17. September
1923, S. 6-7.
25 a.a.O., S.7.
26 Jüdisches Jahrbuch (Anm. 5), S. 53.
27 a.a.O., S. 54.
28 Die Wahrheit (wie Anm. 17), S. 31.
29 Siehe dazu einen Artikel über Sarah Schenirer aus orthodoxer Perspektive, der
stark hagiographisch ausgerichtet ist, aber ungeachtet dessen sehr informativ
über diese bemerkenswerte Frau: Sarah Schenirer: The Mother of Generations,
unter: http://www.tzemachdovid.org/gedolim/jo/tworld/schenirer.html.
30 Vgl. dazu Chaim Shapiro: Dr. Leo Deutschländer: Father of the Bais Yaakov,
http://www.tzemachdovid.org/gedolim/jo/tworld/deutschlander.html.
31 Filmbeschreibung Filmarchiv Austria, (wie Anm. 1).
32 Filmbeschreibung Filmarchiv Austria, (wie Anm. 1).
33 Zur durchschlagenden Wirkung des Filmes "Herzl" vergleiche Jim Hoberman:
Jenseits von Galizien, diesseits von Hollywood: der jiddische Film aus Wien,in:
Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart. Frankfurt am Main, Heft 8/1991, S.
121-122.
34 Deutsches Literaturlexikon. Biographisch-Bibliographisches Handbuch.
Begründet von Wilhelm Kosch. Franke Verlag Bern, 1986, Band X, S. 471.
35 Chajim Bloch: Das jüdische Volk in seiner Anekdote. Ernstes und Heiteres von
Gottsuchern, Gelehrten, Künstlern, Narren, Schelmen, Aufschneidern, Schnorrern,
Reichen, Frommen, Freidenkern, Täuflingen, Antisemiten. Verlag für
Kulturpolitik, Berlin 1931.
36 Vgl. Anm. 10, Bloch war auch 1932 einer der Herausgeber des Jüdischen
Jahrbuches für Österreich, siehe Anm. 6.
37 Eine Darstellung der Geschichte und des Programms des "Verlages für
Kulturpolitik" von Thomas Soxberger ist in Vorbereitung.
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