Der Mensch im Menschen ist ewig
Marginalien zum Bildnis des Juden in der modernen Kunst:
Versuch einer
Rückschau
Teil 2 / Claus STEPHANI
Der Jude als genereller "Sündenbock"
Das Bild des Juden in der Kunst wird bis zum 18. Jh. nicht nur aus der
Sichtweise des Christentums mit allen seinen Phasen der Verketzerung und
zeitweiliger, halbherziger Toleranz, sondern auch von einer durch die Kirche
vehement propagierten antijüdischen Haltung bestimmt. Diese begann mit dem "Gottesmord"-Vorwurf
bereits in der Antike und erreichte unter Papst Innozenz III. (Lothar von Segni,
1160-1216) eine neue Dimension, als 1215 das 4. Laterankonzil in seinen vier
Kanones die bis dahin erfolgreichen Juden aus allen handwerklichen Berufen
ausschloß, zum Tragen einer "Judenkleidung" zwang und ihnen die vom Volk
verhaßte Rolle der Geldwechsler, Pfandleiher und Zinsnehmer zuwies. Ein Teil
dieser Beschlüsse wurde in den Dekretalen des Papstes Gregor IX. (1234),
aufgenommen und damit zu verbindlichem Kirchenrecht erklärt.
Und während in den nachfolgenden Jahrhunderten die Kirche und der Adel
Reichtümer horteten, verarmte das gewöhnliche Volk auf dem Lande und in den
Städten; es begann die bis ins 20. Jh. andauernde Pauperisierung und Verelendung
der Massen. Doch gegen diese im Hintergrund stehenden Ausbeuter, die kirchlichen
und weltlichen Herrn, konnten die unterdrückten Bevölkerungsteile praktisch
nichts unternehmen. Und so richtete sich der geschickt manipulierte Volkshaß
schließlich gegen "die Juden", die als "Wucherer" bezeichnet wurden, was dann in
zahlreichen bildlichen Darstellungen zum Ausdruck kommt. Denn "der Jude wurde
zum Werkzeug und Sündenbock der entstehenden kapitalistischen
Wirtschaftsordnung. Daß deren Initiatoren und Nutznießer, die eigentlichen
Wucherer, ganz andere waren, nämlich die Großkaufleute, ja die Kirche selbst und
einige ihrer Orden, wie etwa die Templer das blieb dem gemeinen Mann weithin
verborgen" (Nachum T. Gidal).
Ein prägnantes Beispiel dafür, wie ein Maler im Schatten der Kirche sich zum
Gestalter antijüdischer Propaganda verleiten ließ, dürfte das bekannte Gemälde
"Die Kreuztragung" von Hieronymus Bosch (ca. 1450-1516) sein. Hier wird der
gedemütigte Jesus inmitten eines entmenschten jüdischen Mobs dargestellt. Die
dämonischen Gesichter der Juden, beim ersten Hinsehen an ihren "krummen Nasen"
erkennbar, werden durch tierisch wirkende Züge zu bösartigen Karikaturen
entstellt. Sie wären, hieß es damals, "Schuld" an der Kreuzigung des "Heilands",
und das sollte schon an ihrem unmenschlichen Aussehen zu erkennen sein.
Unwillkürlich denkt man hier an die stereotypen "Judenbilder", die dann etwa
vierhundert Jahre später durch den nationalsozialistischen und faschistischen
Blätterwald Europas gingen.
Marc Chagall: Betender Jude (Öl), 1925
Eine der widerlichsten antijüdischen Darstellungen, die im 14.
und 16. Jh. vor allem im deutschen Sprachraum verbreitet war, ist das "Bild" von
der "Judensau" "Ausdruck und Beweis einer wirklich grenzenlosen Verachtung der
Juden" (Eduard Fuchs). Hier sieht man Männer mit "Judenhut", wie sie pervers und
lüstern, an den Zitzen einer Sau saugen, bzw. sich am Schwanz und am Analbereich
zu schaffen machen oder, seltener, die Sau umarmen und küssen. Dazu gibt es oft
auch eine "Erklärung" auf einem Schleifenband, womit das "Bild" dekorativ
umrahmt wird. Die "Judensau" als "Skulptur" war Jahrhunderte hindurch sowohl an
kirchlichen Bauwerken (Wittenberg, Regensburg, Brandenburg, Xanten, Magdeburg,
Köln, Metz, Volmar u.a.) als auch an öffentlichen Gebäuden und Brückentoren
(z.B. in Frankfurt/M.) zu sehen. Nebenbei sei bemerkt, daß es an einigen Kirchen
Deutschlands auch heute noch (!) skulpturale Darstellungen der "Judensau" gibt,
so z.B. an der ev. Stadtkirche St. Marien, der Predigerkirche Luthers in
Wittenberg.
An dieser Stelle muß auch der Reformator Dr. Martin Luther mit seiner
berüchtigten richtungweisenden Hetzschrift "Von den Jüden und ihren Lügen"
(1543) genannt werden, eine Publikation, die Jahrhunderte hindurch die
offizielle Verfolgung und Verhöhnung der Juden maßgeblich beeinflußte, wie ein
damaliges Spottbild Josels von Rosenheim, dem Sprecher der deutschen Juden zur
Zeit Luthers, zeigt: In der einen Hand hält Josel den Talmud, in der anderen
einen Geldbeutel.
Luthers weit verbreiteten, haßerfüllten Äußerungen über das "verworfene,
verdammte Volk der Juden" wobei er unter anderem forderte, "daß man ihre
Synagogen oder Schulen mit Feuer anstecke", sie "wie tolle Hunde" aus dem Lande
treibe usw. empörten damals selbst prominente Persönlichkeiten des
Protestantismus. So schrieb ein Nachfolger Ulrich Zwinglis, der Schweizer
Theologe und Historiker Heinrich Bullinger an den Reformator des Elsaß, Martin
Butzer, man habe beim Lesen den Eindruck, das sei "von Schweinehirten, nicht von
einem berühmten Seelenhirten geschrieben..." Luthers "Forderungen", die er in
seinen Schmähschriften und Predigten oft in pöbelhaftem Stil äußerte, wurden
keine vierhundert Jahre später von den Nationalsozialisten wortwörtlich erfüllt.
Die christliche Gräuelpropaganda, mit ihren abergläubischen Anschuldigungen und
Ritualmordlegenden, genährt von Vorurteilen und Mythen, und die vernichtenden
Maßnahmen, wie Pogrome, Zwangstaufen und Vertreibungen, war Jahrhunderte
hindurch meist von theologischen Beweggründen bestimmt, bis dann im 19. Jh. der
Antisemitismus ein pseudowissenschaftlicher Begriff, den 1879 der deutsche
Journalist Wilhelm Marr lancierte mit ideologischen und biologischen
Argumenten zu agieren begann und die Juden als "Verräter", "Fremdkörper", als
"artfremden" und "korrumpierenden Virus" der Gesellschaft herausstellte. Diese
Entwicklung, deren Auslöser in der jüdischen Emanzipation und im Bereich
wirtschaftlicher Interessen zu suchen ist, führte schließlich im 20. Jh. zur
dunkelsten Stunde der europäischen Geschichte zum Nationalsozialismus und
Schoah.
Sie widerspiegelt sich in zahllosen antisemitischen Spott- und Zerrbildern, die
besonders während der inszenierten "Dreyfus-Affäre", 1894-1899, in der damaligen
Presse erschienen sind, und kulminiert in widersinnigen Darstellungen. So wird
der französische Hauptmann und Jude Alfred Dreyfus, der angebliche "Verräter",
in einem weit verbreiteten Hassbild von Jules Eugenè Lenépveu (1819-1898) zur
Hydra, dem mythologischen Monster. Doch anderseits gibt es auch entlarvende
Karikaturen jüdischer Künstler, wie z.B. die bekannte Zeichnung "Es ist seine
Schuld!", die Abel Pann (1883-1963) im Jahr 1915 veröffentlichte, um zu zeigen:
"Für alle Schwierigkeiten in Europa wird der Jude, der generelle Sündenbock,
verantwortlich gemacht."
Abel Pann (Pfeffermann), Maler, Lithograph und Karikaturist, stammte aus
Kreslawka (Lettland), lebte in Odessa, Wien, Paris und während des Ersten
Weltkriegs in den USA, von wo er den neuen europäischen Antisemitismus in seinen
Zeichnungen anprangerte. Die Symbolfiguren der Großmächte zeigen beschuldigend
auf einen kleinen verängstigten Mann, der durch Aussehen und Haltung als Jude zu
erkennen ist. Neben Henry Mayer, dessen sarkastische Zeichnungen in den
"Münchener fliegenden Blättern", im Londoner "Black and White" und in dem
Pariser "Le Rire" erschienen, Edmund Edel, Ernst Stern und Walter Trier gehörte
Pann zu den bekanntesten Karikaturisten seiner Zeit.
Ephraim Moses Lilien: Gestern...: Die Überfahrt
nach Amerika (Tuschezeichnung), 1922
Das Zerrbild des Juden war vorher schon, zu Beginn des 19. Jhs.
in zahlreichen populären Holzschnitten und in sogenannten "Bilderbögen", wie
jener von Johann Michael Voltz, "Unser Verkehr nach der neuesten Darstellung"
(1816/18), im Volk verbreitet worden mit Trödlern, Händlern, Hausierern,
Arrivierten von denunzierendem Aussehen. Sie sollten als lächerliche
"Judentypen" an der "Judennase", an Mimik und Gestik, an Kleidung und
Körperhaltung zu erkennen sein. Schließlich bedienten sich sogar auch bekannte
Künstler, wie der populäre Schriftsteller und Maler Wilhelm Busch (1832-1908),
des gängigen antisemitischen Klischees. Er zeichnete in einer seiner satirischen
Bilderfolgen bewußt den Juden "Schmulchen Schievelbeiner" als grotesk wirkende
Spottfigur: "Krumm die Nase (...), Augen schwarz (...), Miene schlau" usw., um
dann witzig-selbstherrlich festzustellen: "Schöner ist doch unsereiner!"
Die geistige Heimat
Die frühen Bildnisse jüdischer Menschen wie jene auf den Fresken der Synagoge
von Dura Europos (3. Jh.) bis zur erzählenden Ikonographie, den Miniaturen in
verschiedenen religiösen Handschriften und Büchern des 9.-14. Jhs. werden
meist nur durch äußere Merkmale, wie Kleidung, Bart und "Judenhut"
gekennzeichnet. Das trifft sowohl auf die bekannten Wandgemälde mit Moses,
Josua, David, Hesekil, Mordechai und Esther in Dura Europos zu, wie auch auf die
späteren Gruppenbilder mit Al-Mansur Al-Jahudi, Süßkind von Trimberg und anderen
Repräsentanten des Judentums. Es sind wohl Juden, die abgebildet werden,
erkennbar an Kostümierung und äußerer Erscheinung, doch ohne explizit
wesenseigene, individuelle Züge.
Betrachtet man dann Haltung und Ausdruck der Darstellungen aus dem 16./17. Jh.
z.B. Holbeins (d.J.) expressiver Holzschnitt "Jesaja weint um Israel" (1547) und
andere grafische Arbeiten jener Zeit findet man kaum ein Kunstwerk, das als
authentisch jüdisches Porträt bezeichnet werden kann, denn die Gesichter von
Juden und Nichtjuden sind oft intersubjektiv. Erst die Bildnisse der
spanisch-jüdischen Maler im 18. Jh. z.B. David Estevanes Gemälde "Chacham
David Nieto an seinem Arbeitstisch sitzend" oder die Familienporträts Caterine
da Costa vermitteln eine bezeichnende personenbezogene und jüdische Eigenheit
des Gesichtsausdrucks.
Im 19. Jh. folgte dann, etwa zur Zeit Moritz Daniel Oppenheims, eine Reihe
bekannter europäischer Maler, die sich dem jüdischen Antlitz zuwandten, um es
geistig und künstlerisch zu erkunden und in oft großformatigen realistischen
Ölgemälden wiederzugeben; dazu gehörten z.B. der Franzose Jean Léon Gerôme
(1824-1904) "Die Klagemauer", 1880 , der Lette italienischer Herkunft
Alexander Rizzoni (1836-1902) "Die Mahlzeit des jüdischen Violinspielers",
1874 , der Russe Iwan Kramskoy (1837-1887) "Jüdischer Waisenknabe" der
Rumäne Nicolae Grigorescu (1838-1907) "Porträt eines galizischen Juden",
1860/70 , der Pole Leopold Pilichowski (1869-1933) "Sukkot", 1894/95 u.a.
Die Reihe großer Namen, die im weiten Bereich der Malerei des 19. Jhs. aus dem
europäischen Judentum hervorging, ist beeindruckend lang, und im 20. Jh. gehören
ihr dann auch die wichtigsten Vertreter der modernen Kunst an bis hin zur
Avantgarde und den verschiedenen kreativen Veranstaltungen, Aktionen,
Richtungen, Strömungen und Stilen. So gibt es vom modernen Primitivismus der
amerikanischen Nachkriegszeit (Morris Hirshfield) bis zur Konzeptkunst, wie
Land-Art, zur Enviroment- und Happeningkunst (Allan Kaprow, Robert Rauschenberg,
Edward Kienholz, George Segal), von der kinetischen Kunst und der
minimalistischen und konzeptuellen Malerei (Robert Mangold, Miriam Schapiro,
Jonathan Lasker, Alan Green), bis zur Foto-Kunst (Gisèle Freund, Cindy Sherman,
Alfred Stieglitz, John Heartfield/Helmut Herzfelde, Arkadi Schaichet, André
Kertész) und der Kunst im Zeitalter neuer Medien (Dara Birnbaum, Jenny Holzer,
Bruce Nauman) immer wieder herausragende Vertreter, die aus dem Judentum kommen.
Einen Querschnitt ihres vielfältigen Schaffens auch nur fragmentarisch zu
vermitteln, ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich, denn wir wollen uns
hier nur auf einige Maler und Grafiker beschränken, die durch ihre Porträts das
Bild des Juden in der modernen Kunst mitgestaltet und geprägt haben.
Hermann Struck: Lesender Jude (Zeichnung), 1919
Dabei wird auch das muß gesagt sein auf das Schaffen
zahlreicher namhafter jüdischer Künstler, wie Amadeo Modigliani (1884-1920),
Jules Pascin (Julius Pincas, 1885-1930), Louis Marcoussis (Ludwig Kasimir
Ladislas Marcus, 1883-1941), Antoine Pevsner (Nathan Borissowitsch Pevsner,
1886-1962), Marcel Janco (1895-1984), Friedensreich Hundertwasser (Friedrich
Stowasser, 1928-2000), Jacques Herold (1910-1987) u.a. nicht eingegangen, da in
ihrem Werk ein spezifisch jüdisches Erleben und Gestalten wenig sichtbar und
erkennbar ist. Das soll selbstverständlich keine Wertung ihrer künstlerischen
Leistungen sein, sondern unsere Aufmerksamkeit auf jene schöpferischen Aspekte
lenken, die wir am Beispiel einiger charakteristischer Bildnisse darstellen
wollen.
Und so werden wir uns nun den Genrebildern und Porträts, den jüdischen Menschen
im einstigen Alltag, im Schtetl zuwenden, den Rabbinern, Chassidim, Handwerkern,
Musikanten und anderen Vertretern des Judentums, die von jüdischen Künstlern der
Moderne nachgezeichnet und dadurch für die Nachwelt bewahrt wurden. Denn diese
einst farbige, lebendige Welt des östlichen Judentums gibt es nicht mehr; sie
wurde in einer "Endlösung", die in der Menschheitsgeschichte einzigartig ist,
vernichtet. Doch die Bildnisse sehen uns heute über Grenzen und Zeiten hinweg
immer noch an, wenn wir sie näher betrachten und dabei ihre Individualität, ihre
besondere Eigenart, Eigenartigkeit und Einzigartigkeit zu erkennen versuchen.
Jeder Künstler gestaltet seine persönlichen Erlebnisse, Erfahrungen aus seinem
Blickwinkel, aus seiner Perspektive, und so ist auch jedes Werk eine autonome
Schöpfung. Beim ostjüdischen Künstler, insoweit er seiner Herkunft, seiner
heimatlichen Lebenswelt nicht entfremdet wurde und in der Erinnerung beheimatet
blieb wie Marc Chagall, Chaim Soutine und Isachar Ryback in Paris oder E. M.
Lilien und Lasar Segall in Berlin war die Begegnung mit dem Westen der
entscheidende Auslöser, der die Rückbesinnung herbeigeführt hat. Kunstrichtungen
und -strömungen, wie Jugendstil oder Expressionismus, spielten dabei oft eine
sekundäre Rolle, denn es ging diesen Künstlern um inhaltliche und weniger um
formalästhetische Aussagen, wobei, wie bereits festgestellt, jüdische Herkunft
nicht auch jüdische Kunst impliziert.
Doch es gab auch vereinzelte Fälle, wie den Berliner Grafiker Hermann Struck
(1876-1944), zu dessen Schülern übrigens Max Liebermann, Josef Israels und Marc
Chagall gehörten. Struck kam während des Ersten Weltkriegs als deutscher Soldat
in den Osten, wo er zum erstenmal jüdische Menschen und ihre traditionsgeprägte
Lebenswelt kennenlernte und in berühmten Radierungen und Kupferstichen
"Skizzen aus Litauen, Weißrußland und Kurland", 1916, "Das ostjüdische Antlitz"
von Arnold Zweig, 1920 für die Nachwelt künstlerisch gestaltete.
Diese Kunstwerke entstanden einerseits aus der Konfrontation der Künstler mit
ihrem Judentum das sie bewußt oder unbewußt in sich trugen, auch wenn sie sich
geistig zeitweilig in einer erneuernden Strömung integrierten, wie z.B. El
Lissitzky und Joseph Tschaikow im Konstruktivismus, Jacques Lipchitz (Chaim
Jacob) im Kubismus oder Tristan Tzara im Dadaismus , andererseits aus der
Situation einer gefühlsbestimmten, existenzbedingten Entheimatung, auch wenn man
als Jude in der Diaspora immer nur eine zeitweilige und niemals beständige
Heimat besessen hatte. Es ist die Speicherung von Erlebnissen, Erfahrungen und
Erinnerungen, die nun in Form einer Rückbesinnung zum Ausdruck kommt und sich,
besonders bei Samuel Hirschenberg, Marc Chagall, István Beregi, Iosif Iser,
Reuven Rubin, Arnold Daghani, Kurt Seligmann, Abraham Walkowitz und anderen
repräsentativen Malern und Grafikern, als jüdische Kunst zu erkennen gibt.
Neben Reuven Rubin (1893-1975) und Arnold Daghani (1909-1985) die aus den
jüdisch geprägten Kulturmilieu der rumänischen Städte Galatz bzw. Suceava
stammten sollte auch der leider in Vergessenheit geratene Porträtist M. W.
Arnold (Max Mendel Wechsler, 1897-1946) aus Jassy genannt werden. Arnold schuf
eine Reihe von jüdischen Bildnissen, die zwar seinerzeit nicht ausgestellt
werden durften, doch, wie z.B. die Gemälde "Rubin" und "Jemenitischer Jude" zu
den expressivsten Arbeiten der Zwischenkriegszeit gehören.
Hier kann nun keine Analyse der Gesamtstruktur jüdischen Kunstschaffens versucht
werden, denn uns beschäftigen diesmal nur jene Aspekte, die sich auf das Porträt
ostjüdischer Menschen beziehen, und dabei wollen wir das real existierende, das
unmittelbar erlebte Antlitz betrachten und nicht das einstige Vorstellungsbild
mit seinen zeitbedingten Sonderformen. So ist die sichtbare Wirklichkeit bei den
nachfolgenden exemplarischen Bildnissen nicht das primäre Faktum, sondern der
Ausgangspunkt zur verborgenen geistigen Welt des Judentums, die in den
ostjüdischen Gesichtern und ihrer Physiognomie transparent wird. Es ist die
farbige Jüdischkeit einer eigenen Kunstwelt, entstanden aus der inneren
Erfahrung einer zweitausendjährigen Wanderung, der Verfolgung, Vernichtung oder
des Überlebens in der Emigration; und es ist eine gegenständliche Kunstwelt, mit
beseelten Werken, deren Sinnbildlichkeit und Ausdruck wir zu bestimmen
versuchen.
Dabei lassen sich in der jüdischen Bildnismalerei und -grafik des 20. Jhs. zwei
künstlerische Antipode erkennen. Da ist einmal das klare, übersichtlich
gestaltete Gesicht mit charakteristischem, schicksalsgeprägtem Blick und
Ausdruck, eben ein Bild, das die Persönlichkeit des Porträtierten erkennbar
macht und zur Wirkung bringt so z.B. bei Werken von Kaufmann, Lilien,
Hirschenberg, Beregi, Iser. Diesem gegenüber stehen die von Symbolen,
Symbolfiguren und Deutungen bestimmte Traumwelt eines Marc Chagall und die
Visionen von Victor Brauner, Anatoli Kaplan und Chaim Soutine. Es ist eine
wundersame ostjüdische Welt voller phantastischer Ereignisse und hintergründiger
Geschichten, wie sie im 20. Jh. auch die in Bukarest lebenden Malerinnen
Margareta Sterian, Clarette Wachtel, Alma Redlinger und Tia Peltz auf ihre
feminin-sensible Weise erzählen.
Und seither blickt auch das ostjüdische Antlitz aus einem der vielen Fenster der
zeitgenössischen Kunst. Es ist oft "streng und vorwärtsgewandt", wie Arnold
Zweig 1919 schrieb, mit einem "Blick, der weder fordert noch verzichtet, sich
nicht sehnt und nicht klagt, der aber ist, und eine Ferne an sich saugt, von der
wir wissen, daß sie nicht mehr ist als Zeit". Es ist das Gesicht des östlichen
Judentums, gezeichnet von Erfahrungen, vom Leid, vom Leben und Überleben in
einer zweitausendjährigen Diaspora, getragen vom gemeinsamen Glauben, von
überlieferter Kultur und einem einzigartigen Geschichtsbewußtsein. Dieses
Gesicht wollen wir nun am Beispiel jüdischer Kunst näher betrachten.
Dabei sollte noch einmal gesagt werden, was bisher bereits angedeutet wurde,
nämlich, daß es in der Malerei des 20. Jhs. vom rein Gestalterischen her keinen
integralen jüdischen Stil gibt, dafür aber Werke jüdischer Künstler, die sich
durch die spezifische Aussage und Sichtweise identifizieren. Diese künstlerische
Identifikation mit dem Judentum kann man, summarisch formuliert, als jüdische
Kunst bezeichnen eine Kunst, die Ideen verkörpert, sichtbar und begreifbar
macht. Dabei benötigt sie nicht, wie einst Martin Buber in seiner Rede auf dem
5. Zionistischen Kongreß (Basel, 1901) gesagt hatte, eines "Bodens und eines
Himmels, zu dem sie emporwachsen kann"; sie setzt allerdings voraus, so unsere
Meinung, eine identitätsbezogene innere Einstellung des Künstlers, dessen
geistige Heimat in der biblischen Welt liegt und der in seinem Schaffen vom
erlebten Milieu des Judentums geprägt wurde auch wenn dieses sich
situationsbedingt manchmal nur auf den Kreis der Familie beschränkte.
Spiegelungen einer Welt
In der imaginären Galerie, in die wir nun abschließend führen wollen, stehen
ostjüdische Künstler wie Isidor Kaufmann, Moritz Gottlieb, Samuel Hirschenberg,
Marc Chagall, István Beregi, Iosif Iser, El Lissitzky, Reuven Rubin, Arnold
Daghani, Abraham Walkowitz, Jankel Adler, Anatoli Kaplan, Ben Shahn, Clarette
Wachtel, aber auch westeuropäische Namen, wie Hermann Struck, Felix Nussbaum,
Amadeo Modigliani, Mark Gertler, Jack Levine, William Gropper, Jacob Epstein,
Mitchel Siporin, deren Kunst nicht, wie bei einigen der Erstgenannten, durch
Entheimatung und Konfrontation mit dem "Westen" entstanden ist, sondern meist
auf der Suche nach dem Judentum ihrer Väter, der einstigen Einwanderer und
ghettoisierten Randgestalten in einem noch fremden Land.
Betrachtet man vergleichend die Gesichter der Rabbiner in den Darstellungen von
Beregi, Chagall oder der Brüder Henschel, so lassen sich bereits einige Merkmale
der künstlerischen Ausdrucksweise erkennen. So wird "Abraham Tiktin,
Oberlandesrabbiner zu Breslau", auf der lithographischen Inkunabel (1812) der
Brüder Henschel als eine "hochwürdige" selbstbewußte Persönlichkeit dargestellt
nicht unbedingt erkennbar als Jude, wenn man z.B. die Kippa als eine andere
Kopfbedeckung deuten würde. Dasselbe könnte man auch von einigen Porträts sagen,
die Jahrzehnte vorher wie die Radierung "Der Rabbiner von Potsdam" von Georg
Friedrich Schmidt, 1750 oder später entstanden sind. Die Sichtweise des
jüdischen Künstlers unterscheidet sich hier nicht oder kaum von der eines
christlichen. Im Jahrhundert danach aber werden dann die Bildnisse des
Rabbiners, der als Lehrer, Richter, Prediger, Gelehrter und als Leiter einer
Gemeinde oder einer Jeschiwa das Judentum repräsentiert, mehr beinhalten und
vermitteln, als nur das Abbild einer herausragenden Persönlichkeit.
Das zeigen z.B. die Gesichter der beiden Rabbiner, die von Beregi und Chagall
aus einem jeweils eigenen und doch verbindenden Blickwinkel gezeichnet wurden.
Im "Porträt des Kotzker Rebben" von Beregi und in Chagalls Frühwerk "On dit
Der Rabbiner" (1912) obwohl unterschiedlich in Farbgebung und Stellung, läßt
sich, wie eine verborgene, hintergründige Spiegelung, die Geschichte des
östlichen Judentums erkennen; sie ist geprägt von Leid und Stolz und trägt
menschliche Züge. Beim Profil des Kotzker Rebben ist es der stille Adel des
Ausdrucks, hinter dem sich ein geistiger Horizont von ungeahnter Weite andeutet.
Chagalls Rabbiner hingegen, in dunklen magisch wirkenden Farben, sieht den
Betrachter mit eindringlichem und prüfendem Blick an. Es sind die Augen des
Ostjuden, von denen Arnold Zweig sagte: "Unbeirrbar stehen sie, breit
auseinander und unverrückbar verbunden wie die Sterne des Jakobstabes in den
fließenden Nebeln des weißen Bartes". Aus der mystischen Dämmerung, die das Bild
beherrscht, heben sich symbolhaft ein Buch mit hebräischen Schriftzeichen und
ein Magen David hervor.
Das Buch, der Begleiter durch die Jahrtausende des lernenden und lehrenden
Juden, ist immer wieder auch in anderen Porträts als sinnbildliche Beigabe
präsent, so in Arbeiten von Kaufmann, Hirschenberg, Adler, Struck, Iser, Daghani,
Arnold, Kaplan u.a. Das Buch wird somit oft zum Merkmal, zur gestalterischen
Komponente eines Bildnisses, denn in den meisten Darstellungen liegt es nicht
vor dem Juden auf einem Tisch oder Pult, sondern er hält es beim Lesen in der
Hand. Von Iosif Iser gibt es zwei berühmte Gemälde mit dem gleichen Titel, "Jude
mit einem Buch" (1919/20), wo das Buch, wie ein Teil seiner selbst, zur Person
und Identität des Juden gehört, ebenso in den Zeichnungen von E. M. Lilien,
Hermann Struck, Anatoli Kaplan u.a.
Hermann Struck: Jüdische Bäuerin (Zeichnung),
1919
Da aber bei hebräischen Schrifttexten die Leserichtung von
rechts nach links erfolgt und auch in der mittelalterlichen Buchmalerei die
Illustrationen in dieser Reihenfolge entstanden sind, ist anzunehmen, daß eine
solche Tendenz bzw. Blickbewegung sich auch in der Haltung der Profile oder
Halbprofile widerspiegelt. Man schreibt von rechts nach links, und wo man zu
schreiben beginnt, liegt bekanntlich der Anfang der Anfang der Zeile, des
Gedankens, des Satzes. Ein karpatischer Zaddik, Mojsche Tscherteser, der vor
einem halben Jahrhundert zurückgezogen in der Nähe eines kleinen rumänischen
Bergdorfes lebte, sagte einst, daß jeder Anfang schon Vergangenheit sei, denn
eigentlich gäbe es keine Gegenwart, sondern nur Vergangenheit und Zukunft. Jede
Geste, ist sie getan, gehöre schon der Vergangenheit an.
Wenn wir uns nun an der Leserichtung und den Worten des weisen Zaddiks
orientieren, könnte es sein, daß der Jude im Bildnis, blickt er nach links
vorwärts schaut, blickt er jedoch nach rechts, richtet sich sein Blick in die
Vergangenheit. Ältere Menschen blicken meistens nach rechts, in die
Vergangenheit, weil ihre wichtigen Erlebnisse und Erfahrungen in diesem
Abschnitt ihres Lebens liegen. Lesende Juden sehen in künstlerischen
Darstellungen, die ebenfalls von Juden stammen meist nach links, d.h. in die
Zukunft, denn, wie Mojsche Tscherteser sagte, Wissen allein würde die Zukunft
bestimmen, denn Wissen gab dem Judentum die Kraft zum Überleben. In Chagalls
grotesker, "luftiger" und traumhaft wirkender Bilderwelt z.B. ist ebenfalls
immer wieder diese Rechts-links-Bewegung zu erkennen. So fliegt der geflügelte
Fisch ("Die Zeit ist ein Strom ohne Ufer", 1930/1939) in die linke Richtung, und
ebenso schweben nach links, in die Zukunft, die junge Frau ("Der Spaziergang",
1917) wie auch die Braut ("Blumen über Paris", 1967). Der betagte "Kotzker Rebbe"
István Beregis hingegen blickt, wie auch der Großvater in der Komposition
"Jüdische Familie" (1913) von Mark Gertler und in anderen Darstellungen älterer
Menschen, nach rechts, in die Vergangenheit.
Nach den zahlreichen Milieuschilderungen von Isidor Kaufmann und den malerischen
Schöpfungen "in jüdischem Geiste", wie die höchste künstlerische Leistung Moritz
Gottliebs, "Betende Juden am Versöhnungstag", folgt im 20. Jh. eine Vielfalt von
Gesichtern aus einer Welt, deren Protagonisten heute im Bildnis weiterleben. Die
Porträts von Lissitzky, Adler, Daghani, Kaplan, Wachtel, Wolkowitz bis zu
Modigliani, Nussbaum, Struck, Gertler, Levine, Epstein, Siporin u.a. sind
Meilensteine dieser neuen jüdischen Kunst, deren Akzente sich immer mehr auch
auf die menschliche Psyche richteten; und so wird sie erkennbar im Geschick der
Alltagsmenschen, die nun als Einzelwesen und jeder in seiner jeweiligen
Besonderheit vorgestellt werden: der Jude als Lastenträger, als Arbeiter oder
Handwerker, der Jude als Musikant und Tänzer, der Jude mit dem Gelben Stern...
Es sind Bilder von tiefem seelischem Gehalt, Spiegelungen einer Welt, die in den
letzten Jahrzehnten immer mehr in die Ferne gerückt ist, und es sind Bilder, die
Juden zeigen, wie sie von Juden gesehen wurden.
Es war Marc Chagall, der 1922, trotz seiner zwiespältigen Haltung zu diesem
vieldiskutierten Thema, in der Moskauer jiddischen Zeitschrift "Schtrom"
schrieb: "Wenn ich kein Jude wäre (mit allem, was dieses Wort für mich
beinhaltet), dann wäre ich kein Künstler oder aber ein ganz anderer Mensch. Das
ist keineswegs etwas Neues. Was mich betrifft, so weiß ich ziemlich gut, zu
welchen Leistungen dieses kleine Volk fähig ist. Leider bin ich bescheiden und
kann nicht aufzählen, was es alles zu leisten vermochte. Etwas Beschwörendes
das ist es, was dieses kleine Volk vollbracht hat! Denn als es wollte, hat es
Christus und das Christentum hervorgebracht... Ist es nicht denkbar, daß es der
Welt auch eine Kunst, irgendeine Kunst, gegeben hat?"
Beim Betrachten der feinsinnigen Bildnisse, die Hermann Struck mit seinen
fünfzig meisterhaften Steinzeichnungen schuf, schrieb Arnold Zweig "im Monat Aw
5679" einen empfindsamen poetischen Text, den er seinen Eltern widmete, und da
steht der Satz: "Der Jude ist ewig, denn der Mensch im Menschen ist ewig".
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