"Wahrscheinlich ist die Literatur der beste Weg, um dieses einzigartige,
widersprüchliche,
großartige Land zu verstehen" (Kolumbien)
Bernhard BRUDERMANN
Hans Ungar - Buchhändler und Kunstsammler Gründer der "Librería
Central "in Bogotá, Kolumbien
Geb. 29.8.1918 in Wien / Österreich
Gest. 23.5.2004 in Bogotá/ Kolumbien
Bernhard Brudermann und Hans Ungar (von links
nach rechts)
Hierzulande ist kaum bekannt, dass in Lateinamerika, wie z.B.
in Argentinien oder Kolumbien, die jüdische Literatur eine wichtige Rolle
spielt.
Zahlreiche osteuropäische Juden flüchteten nach Lateinamerika, um der Verfolgung
in Europa zu entkommen.
In der Buchhandlung des jüdisch-österreichischen Buchhändlers Hans Ungar trafen
sich seit Jahrzehnten die aus Europa Vertriebenen. Jene polnischen, rumänischen
und österreichischen Juden und deren Nachkommen, die vor Pogrom und Verfolgung
nach Kolumbien geflohen waren, sehnten sich nach der Kultur und Literatur des
alten Europa.
1987 lud mich ein Freund meines Vaters, ein nach Kolumbien ausgewanderter
österreichischer Künstler namens Hanns Heinz Goll, für mehrere Monate nach
Kolumbien ein.
Kolumbien - dieses gefährliche, aber auch traumhaft schöne Land - faszinierte
mich in jeder Hinsicht und alle Erfahrungen, die ich in diesem Land sammeln
konnte, bereichern bis heute mein Leben.
Es sollte nicht nur eine Reise in einen fremden Kontinent sein, sondern auch
eine Reise zu einem längst vergessenen alten Europa, die ebenso aufregend war.
Bereits eine Woche nach meinem Eintreffen wurde ich dem Ehepaar Hans und Lilly
Ungar vorgestellt. Weder der große Altersunterschied noch die Entfernung der
Kontinente konnten unserer Seelenverwandtschaft, die uns vom ersten Augenblick
des Kennenlernens verbunden hat, etwas anhaben.
Wie gerne war ich Gast bei der Familie Ungar in ihrer wunderschönen
Backsteinvilla, gelegen an den Hängen von Santa Fe de Bogota, und wie
priviligiert fühlte ich mich als ich die Erlaubnis bekam in der größten
Privatbibliothek Kolumbiens zu stöbern!
Als mich die Nachricht vom Ableben meines Freundes Hans Ungar erreichte, konnte
ich es nicht fassen, dass ich nie mehr diese wunderschön alt-österreichisch
gefärbte Sprache aus seinem Munde hören und ihn nie mehr auf seinen
Spaziergängen durch die Wiener Innenstadt begleiten sollte.
Ein großes ethisches Selbstverständnis zeichnete Hans Ungar aus, seine
Weltoffenheit und Herzlichkeit war beispiellos. Niemals zeigte er Verbitterung
oder Groll, obgleich das Schicksal ihm zuweilen harte Prüfungen auferlegt hatte.
Die Literatur half Hans Ungar das Trauma der Ermordung seiner Familie zu
überwinden.
Nun zur Lebensgeschichte von Hans Ungar:
Geboren wurde Hans am 29. August 1916 in Wien als Sohn von Paul und Alice Ungar,
einer großbürgerlichen Familie, die mehrere noble Modesalons in der Innenstadt
besaß.
Er wuchs hier in Wien gemeinsam mit seinem Bruder, dem späteren Schriftsteller
Fritz Ungar, in einer Atmosphäre des "Fin de Siecle" auf.
Bekannte Autoren wie Stefan Zweig oder Hermann Bahr gingen im Hause Ungar ein
und aus. (Ich selbst konnte in Kolumbien die für die Familie signierten Bücher
dieser Autoren bewundern.)
Hans besuchte die Volksschule, das Gymnasium und die Hochschule für Welthandel
in Wien.
Nach der Matura absolvierte er seine Reserve-offiziersausbildung in
Kaisersteinbruch.
Da er ein begnadeter Pianist, war bekam er während dieser Zeit oft die
Möglichkeit Klavier zu spielen. Sein Studium konnte er nicht mehr beenden.
Sein Bruder Fritz wurde bereits Anfang April 1938 eingesperrt. Hans hatte die
Möglichkeit, durch einen früheren Vorgesetzten vom Militär Ausreisepapiere zu
bekommen. Seine Eltern wollten noch für die Freilassung von Fritz kämpfen und
dann nachreisen.
Als er sich Anfang Juli 1938 am Bahnhof auf die Reise nach Hamburg begab,
verabschiedete er sich von seinen Eltern. Es sollte das letzte Mal sein, dass er
sie sah. Seine Eltern und sein Bruder Fritz wurden in Auschwitz umgebracht.
Eine abenteuerliche Reise führte Hans Ungar nach Kolumbien.
Von Hamburg reiste er mit dem Schiff in die Hafenstadt Cartagena und von dort
mit dem Raddampfer den Rio Magdalena entlang durch die tropischen Landschaften
Kolumbiens. Schließlich landete er in der 350 000 Einwohner Stadt Bogota (
heute ca. 10 Millionen Einwohner ) mit seiner kolonialen Architektur. Er begann
seine berufliche Laufbahn bei einem englischen Bankier. In dieser Zeit lernte
Hans seine Frau Lilly, geborene Bleyer, kennen. Ein ähnliches Schicksal verband
die beiden. Lilly Ungar, geboren und aufgewachsen in Wien als Tochter von
angesehenen Geschäftsleuten. Auch ihre gesamte Familie wurde in den
Konzentrationslagern umgebracht. Wie Hans konnte auch sie auf abenteuerliche Art
aus Europa entkommen. Hier in Kolumbien führte sie das Schicksal zusammen, sie
heirateten und gründeten eine Familie.
Ab 1946 war Hans vorerst Geschäftsführer, kurze Zeit später Eigentümer der
ältesten Buchhandlung Kolumbiens. Die "Libreria Central", damals wie heute eine
internationale Buchhandlung, wurde bereits 1926 vom Österreicher Pablo Wolf
gegründet.
1956 eröffnete Hans Ungar noch zusätzlich eine Kunstgalerie, die heute die
älteste Galerie Kolumbiens ist. Er förderte hier nicht nur junge aufstrebende
Künstler Kolumbiens ( wie z.B. Botero), sondern machte auch Ausstellungen
international bekannter Maler wie Oskar Kokoschka möglich. Seit den Fünfziger
Jahren hatte Hans eine Dozentur für Geschichte an der angesehenen "Universidad
de los Andes", die er auch mitbegründet hat. Er unterhielt weiters ein
kulturelles, allwöchentliches Radioprogramm zu Buchbesprechungen an der
bedeutendsten Radiostation des Landes. Es erschienen zahlreiche Publikationen
von Hans Ungar in diversen bekannten Zeitschriften. Zumeist waren es
österreichische Themen ("Das Wien in der Jahrhundertwende", "Karl Kraus und
seine Zeit", Johann Strauss", "Ein Wiener in Kolumbien" und vieles mehr), die er
behandelte.
Hans Ungar unterhielt ebenfalls rege Kontakte zu anderen vertriebenen
Österreichern wie z. B. zu Gerardo Reichel- Dolmatoff (der aus Salzburg
stammende bedeutenden Anthropologe, der die "Kogi-Indianer" erforschte und viele
Bücher zum Thema "Schamanismus" verfasste). Fritz und Lore Friedmann, Franz
Lichtenberg, Paul Engel, Erich Arendt, Margot Neumann, Trude Krakauer , um nur
einige der Exilanten aus Österreich zu nennen, zählten ebenfalls zum
Freundeskreis der Familie Ungar.
Ein Kolumbianer erzählte mir, dass erst jene Österreicher, allen voran Hans
Ungar, aus Bogota eine Kulturstadt gemacht hätten und dass die Kolumbianer
diesen Menschen auch deshalb so dankbar seien.
Hans Ungar, der ja Besitzer der größten Privatbibliothek Kolumbiens war, stellte
vielen Forschern und Studenten seine Werke zur Verfügung (viele Erstausgaben und
Autographen befinden sich in der Sammlung).
Hans Ungar unternahm auch viele Forschungsreisen in Kolumbien, Expeditionen zu
alten Indianer-Kulturen. Als junger Mann in den vierziger Jahren nahm er an
einer abenteuerlichen Schatzsuche in der Guajira ( im Norden Kolumbiens ) teil.
Diese Reise bot ihm Gelegenheit die verschiedenen Kulturen, Sprachen und
Menschen Kolumbiens kennenzulernen.
Jedes Jahr reiste er für mehrere Wochen in den Sommermonaten nach Wien, um hier
jeden Abend kulturelle Veranstaltungen zu besuchen. Insbesondere liebte er die
Oper. Seit den neunziger Jahren kam es in Wien zu regelmäßigen Treffen zwischen
dem Ehepaar Ungar und mir.
Mich faszinierte die Selbstdisziplin meines Freundes Hans, der selbst im
Hochsommer bei höchsten Temperaturen mit Anzug und Krawatte zu stundenlangen
"Gewaltmärschen" bereit war. Seine Großzügigkeit, sein Humor und seine
außergewöhnliche Aura faszinierte alle Menschen, die ihm auch hier in Wien
begegneten.
Trotz dramatischer Schicksalsschläge- sein einziger Sohn, ein bekannter
Architekt starb auf tragische Weise als junger Familienvater wie auch sein
Schwiegersohn. Er musste auch vom Leukämie erkrankten Künstler Heinz Goll für
immer Abschied nehmen, der wie ein Sohn für Ihn war.
Aber Hans verlor auch nach diesen harten Prüfungen niemals seinen Optimismus und
seinen unverwechselbaren Humor.
Hans Ungar war Träger vieler Auszeichnungen:
In Deutschland verlieh man ihm das Bundesverdienstkreuzes. In Österreich bekam
er das Silberne Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich,
verliehen am 28. September 1964. Weiters das österreichische Ehrenkreuz für
Wissenschaft und Kunst, verliehen vom Bundespräsidenten, auf Vorschlag des
Bundesministers für Unterricht am 26. April 1979.
In Kolumbien bekam er verschiedenste Auszeichnungen, u.a. die zweithöchste
Auszeichnung, die das Land Kolumbien zu vergeben hat, sowie eine Auszeichnung
der Stadt Bogota für Ausbau der freundschaftlichen Beziehungen mit anderen
Ländern, vorzüglich mit Österreich.
Seine Tochter Elisabeth ist Universitätsprofessorin für Politik in Bogota, seine
kosmopolitischen Enkelkinder sind heute in hohen Positionen in Kolumbien tätig.
Sein Enkel Antonio Ungar ist einer der bekanntesten Nachwuchsautoren Kolumbiens
( einer der Hauptvertreter der "jungen Löwen", eine neue Literaturbewegung aus
Lateinamerika, die hauptsächlich aus den Enkeln der aus Europa geflüchteten
Juden besteht, wie Harold Kremer, Esther Fleisacher, Marco Schwartz, u.a. ).
Antonio Ungar ist eigentlich ausgebildeter Architekt und konnte im Jahr 1994
durch meine Vermittlung einen Sommer lang ein Praktikum in der alten Heimat
seiner Großeltern bei der Architektin Eva Rubin ( Tochter des Architekten Roland
Rainer ) absolvieren.
Leider hat sich in den letzen Jahren in Kolumbien die politische Situation sehr
verschlechtert, Guerilla- und Drogenkriege, Entführungen, Terrorismus in den
Strassen von Bogota lähmen das Land. Hans Ungar musste diese traurige
Entwicklung mit ansehen.
In seinen letzten Monaten erblindete der Bücherliebhaber sogar, doch seine
Familie war immer an seiner Seite und gab ihm Kraft.
Am 23. Mai 2004 hat Hans Ungar im Alter von 87 Jahren diese Welt verlassen.
Bevor ich diesen Artikel schrieb telefonierte ich mit Lilly Ungar (84), die nun
alleine die Buchhandlung weiterführt und untröstlich über den Verlust des
geliebten Mannes nach 62 Ehejahren ist.
Zahlreiche kolumbianische Tageszeitungen brachten einen Nachruf auf Hans Ungar.
Er lebt in unseren Herzen weiter.
Quellen: Private Dokumente der Witwe Lilly Ungar,
BOGOTA/KOLUMBIEN
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