Die spätere Roßmühle in
Korneuburg:
Anmerkungen zur mittelalterlichen Synagoge
Arne HERBOTE / Simon PAULUS
Das als Ruine erhaltene Bauwerk der ehemaligen Synagoge in
Korneuburg dürfte zu den bemerkenswertesten und wichtigsten Zeugnissen
mittelalterlicher Synagogenarchitektur im deutschsprachigen Raum zählen.1
Mit
den noch erhaltenen Bauwerken in Sopron und Bruck an der Leitha, den vermutlich
auch in Resten noch bestehenden Bauten in Tulln, Hainburg und Neulengbach sowie
einer Reihe nur mehr archivarisch feststellbaren Synagogen (Mödling,
Perchtoldsdorf, Krems, Eggenburg, Wiener Neustadt, Klosterneuburg, Neunkirchen)
gehört sie zu einer Gruppe einfacher Saalbauten, die zwischen etwa 1290 und 1360
in der weiteren und engeren Umgebung Wiens entstanden.2

Die Roßmühle in Korneuburg, Ansicht von
Nordosten (Foto: S. Paulus 2002)
Die frühesten Nachrichten über den Aufenthalt von Juden in Korneuburg sind mit
einer Überlieferung zu einem angeblichen Hostienwunder und einem
Hostienfrevelvorwurf verbunden. Ein Untersuchungsprotokoll, das 1305 anläßlich
der Überprüfung der Vorgänge angelegt wurde, berichtet von zwei Juden, die im
Zusammenhang mit dem Hostienfrevel hingerichtet wurden.3 An der Stelle des
Hauses des Juden Zärklin entstand eine Walfahrtskapelle, die als Gottesleichnam-
oder Blut-Christi-Kapelle 1338 den Augustiner-Eremiten als Kapelle zusammen mit
den ehemaligen Judengebäuden übertragen wurde. Der Standort dieser Bauten befand
sich an der Stelle des heutigen, in seinem Erscheinungsbild wesentlich auf einen
Ausbau im 18. Jahrhundert zurückgehenden Augustinerklosters in der Nähe des
Stockerauer Tores im Nordwesten der Stadt.
Für den Zeitraum nach diesen Ereignissen liegen nur wenige Nachrichten über den
Aufenthalt von Juden in der Stadt vor. Zwischen 1350 und 1420, dem Jahr der
landesweiten Vertreibung aus dem Herzogtum, lassen sich insgesamt etwa neun
ihrer Herkunft nach aus Korneuburg stammende Juden belegen, die überwiegend in
Wien wohnhaft waren.4 Dennoch muß in der Stadt eine größere jüdische Gemeinde
bestanden haben, da zwischen 1371 und 1418 drei Judenrichter bezeugt sind und
1469 eine wohl bereits 1420 konfiszierte und seitdem als landesfürstlicher
Schüttkasten dienende Synagoge der Stadt überlassen wird.5

Korneuburg, Ansicht des rekonstruierten
mittelalterlichen Bauwerks von Nordosten
(Zeichnung: S. Paulus 2005)
Dieses heute noch erhaltene Bauwerk befindet sich östlich des Hauptplatzes, in
der Biegung der Roßmühlgasse unmittelbar an der ehemaligen Stadtmauer. Bis zum
Ende des 16. Jahrhunderts wurde es von der Stadt an verschiedene Handwerker
vermietet, bevor es an den Bürger Johannes Ros(en)müller kam, der darin eine
Mühle einrichtete (Roßmühle). Nach einem Brand im Jahr 1766 diente das Gebäude
als Speicher und Magazin. Heute befindet sich in dem seit 1980 unter
Denkmalschutz gestellten Bauwerk, dessen Dach 1942 nach einem Sturm abgetragen
wurde, ein Schuppen, der etwa die Hälfte des Raumes einnimmt.
Schon Leopold Moses hat das Bauwerk in seiner Aufstellung mittelalterlicher und
frühneuzeitlicher Synagogenbauten aufgrund des zu Beginn des 20. Jahrhunderts
noch guten Erhaltungszustands hervorgehoben und seine Geschichte kurz
dargestellt.6 Anläßlich der Unterschutzstellung 1980 wurden die Fassaden
photogrammetrisch vermessen, jedoch nie im Sinne einer Baualterskartierung
ausgewertet. Trotz des großen Bekanntheitsgrades, nicht zuletzt durch die
Erwähnungen bei Pierre Geneé und Carol Herselle Krinsky blieb eine eingehendere
Untersuchung und Würdigung des Bauwerks bisher bis auf eine unveröffentlichte
Begutachtung durch den Kunsthistoriker Ferenc David aus.7 Erst Andrea
Sonnleitner widmete 1998 dem Bau in ihrer Magisterarbeit zu den
mittelalterlichen Synagogen im ehemaligen Herzogtum Österreich ein ausführliches
Kapitel und nahm basierend auf Davids Gutachten eine Einordnung unter
stilistischen wie typologischen Gesichtspunkten vor.8 Im Oktober 2002 konnte das
Bauwerk durch Mitarbeiter und Studierende des Fachgebiets Baugeschichte der TU
Braunschweig lasertachymetrisch aufgemessen und dokumentiert werden. Auf dieser
Grundlage basiert der hier vorgestellte Versuch einer Rekonstruktion des
Gebäudes in seinem ursprünglichen Zustand vor der Konfiskation von 1420.9

Korneuburg, Ansicht des rekonstruierten
Innenraums nach Osten
(Zeichnung: S. Paulus 2005)
Bei dem Bauwerk handelt es sich um einen kubischen Mauerwerksbaukörper aus
Bruchsandstein mit einer Werksteineckquaderung auf leicht gestrecktem,
rechteckigem Grundriß. Die Abmessungen betragen Außen etwa 10,50 x 13,20 m.10
Bei einer Mauerstärke von 81-90 cm ergeben sich Innenmaße des geosteten Raumes
von 8,80 m Breite und 11,40 m Länge.11 Die Höhe des Gebäudes bis zur Trauflinie
betrug ursprünglich etwa acht Meter. Heute liegt das Umgebungsniveau ungefähr 80
bis 90 cm über dem mittelalterlichen, was anhand der Position des auf der
Nordseite noch erkennbaren vermauerten Portals geschlossen werden kann.
Zusätzlich wurde vermutlich nach dem Brand 1766 die Mauerkrone um etwa einen
Meter erniedrigt und das heute sichtbare Traufgesims angelegt. Die
Fenstergliederung der Ost- und Westfassade, auf die noch näher eingegangen
werden soll, legt nahe, daß der Bau bereits vor dem Umbau ein hohes steiles
Walmdach besaß.
Der Innenraum wurde von einem zweijochigen, sechsteiligen Gewölbe überspannt,
dessen Konsolen, Wanddienste und die Putzkanten trotz der starken Beschädigung
durch den Brand noch gut sichtbar sind. Bis zum Boden geführte Dienstvorlagen
mit Kapitellen in den Ecken und in der Mitte der Längswände bereiteten die
Rippengurte und Diagonalrippen vor. Die mittleren Zusatzrippen endeten auf
Konsolen. Kapitelle, Konsolen und Solbänke der Fenster setzten in gleicher Höhe
an.
Die Ostfassade wurde ursprünglich durch eine großes, vermutlich mit einer
Maßwerkrosette ausgefülltes Rundfenster bestimmt, flankiert von zwei sehr
schmalen spitzbogigen Lanzettfenstern, dessen nördliches heute noch in Teilen
sichtbar ist. Fenster gleicher Ausformung befanden sich sehr wahrscheinlich auch
auf den Längsseiten, wo sie bedingt durch die innere Anordnung der Gewölbekappen
auf der Südseite jeweils auf der von innen betrachtet rechten Travée eingesetzt
wurden. Auf der Nordseite lag ein solches Fenster im östlichsten Joch, ein
weiteres vielleicht im westlichsten,12 so daß die Fenster der Längsseiten sich
nicht regelmäßig gegenüber lagen. Der heute zugemauerte Eingang, ein gotisches
Spitzbogenportal von etwa 1,55 m Breite befand sich in der Mittelachse des
westlichen Joches der Nordwand.13

Korneuburg, Blick in die Nordostecke. Zu
erkennen sind ein teilweise vermauertes Lanzettfenster und direkt unterhalb der
Mauerkrone Reste eines Rundfensters (oben rechts) sowie darunter der
Giebelabdruck des Toraschreins
(unten rechts), (Foto: S. Paulus 2002)
Wie auf der Ostseite sind auch auf der Westfassade in etwa der gleichen Höhe
Reste des Gewändes eines Rundfensters zu sehen. Möglicherweise besaß der Bau
sonst keine weiteren Öffnungen an dieser Wand, da die heute hier vorhandenen
Fenster und Tordurchbrüche späteren Bauphasen zuzurechnen sind und anscheinend
keine älteren ersetzt haben dürften.14 Das Fehlen weiterer Fensteröffnungen zur
Westseite könnte damit zusammenhängen, daß die Synagoge hier - im Gegensatz zur
heutigen Situation - gegen ein Nachbargrundstück stieß und somit auf einer nur
von der Roßmühlengasse aus zugänglichen Parzelle lag.
Auf der Außenseite der Südwand sind knapp über dem heutigen Bodenniveau vier
heute vermauerte Öffnungen mit aus Ziegelsteinen gemauerten Segmentbogenstürzen
zu erkennen. Auf der Innenseite lassen sich teilweise noch die Steinrahmungen
schmaler waagerechter Sehschlitze feststellen. Damit ist erwiesen, daß sich an
der Südseite der für die Frauen bestimmte Anbau befand, der auf älteren
Abbildungen der Mühle wohl in überbauter Form noch sichtbar war. Seine
Grundrißform läßt sich anhand des heute noch sichtbaren Verlaufs einer
Bodenlinie, die die Grundstücksgrenzen markiert, als ein schiefwinkliges,
langgezogenes Trapez ablesen. 15
Bemerkenswert ist, daß sich an der Innenseite der Ostwand die Putzkante der
Toraschreinrahmung erhalten hat. Der Schrein besaß einen Dreiecksgiebel mit
einem Steigungsmaß von etwa 45 Grad. Die Nische selbst wurde später durch das
Einbrechen eines Zugangs zerstört. Ferner befand sich in der östlichen Ecke der
Nordwand ein Wandschrank, dessen steinerne Rahmung noch erkennbar ist. Eine
weitere Nischenrahmung ist westlich neben dem Portal erhalten. Vermutlich saßen
auch in der Westwand weitere Nischen.
Ungewöhnlich ist das aus zwei sechsstrahligen Jocheinheiten bestehende
Rippengewölbe. Es leitet sich von spätromanischen Rippengewölbesystemen im
anglo-normannischen Raum ab (St. Trinité und St. Etienne in Caen, um 1100
eingewölbt) und gelangte über die Vermittlung französisch-kathedralgotischer
Vorbilder in den deutschsprachigen Raum.16 Im Synagogenbau läßt es sich bei der
Synagoge in Marburg an der Lahn (2. Bauphase um 1270) und in der etwa
gleichzeitig errichteten Prager Altneuschul feststellen, hier jedoch in
abgewandelter Form: Bedingt durch die Zweischiffigkeit des Prager Baus wird die
Querrippe nur bis zum Schlußstein geführt, so daß eine fünfstrahlige Wölbeinheit
entsteht. Die rhythmische Gliederung der Wand durch Dienste und Konsolen ist
jedoch der Korneuburger Synagoge sehr ähnlich, was durchaus auf eine
Beeinflussung des Korneuburger Baus durch das Prager Vorbild schließen läßt.
Anhand der historischen Entwicklung der jüdischen Niederlassung in Korneuburg
ist der Entstehungszeitraum des Gebäudes zunächst grob zwischen etwa 1330 und
1420 einzugrenzen. Stilistisch und aufgrund des historischen Hintergrunds dürfte
sie im 2. Drittel des 14. Jahrhunderts erbaut worden sein. In Bezug auf ihre
Raumgröße von ca. 100 qm wird die Korneuburger Synagoge nur von der
archäologisch dokumentierten Synagoge in Wien übertroffen, die Ende des 13.
Jahrhunderts von 76 qm auf etwa 120 qm erweitert und zweischiffig eingewölbt
wurde. Dies deutet darauf hin, daß dem Bau in Korneuburg einiges an Bedeutung
zugemessen wurde und die Zahl und Finanzkraft der im 14. Jahrhundert dort
ansässigen Juden nicht unbeträchtlich gewesen sein wird.
Als einzigartiges Baudenkmal zeugt die Roßmühle bis heute von der kulturellen
Blüte des österreichischen Judentums im 14. Jahrhundert.
1 Vgl. Paulus, Simon: Die Architektur der aschkenasischen Synagoge im
Mittelalter, Dissertation TU Braunschweig, 2005.
2 Vgl. die Artikel zu den Synagogen in Bruck/Leitha und Tulln in DAVID, Ausgaben
Nr. 58 (September 2003) und Nr. 63, Dezember 2004.
3 Vielleicht fanden die Ereignisse bereits einige Jahre früher statt. Die
Angaben über die Zahl der hingerichteten Juden sind widersprüchlich, andere
Quellen sprechen von zehn Personen. Germania Judaica (GJ) II/1, S. 450.
4 GJ III/1, S. 673f.
5 GJ III/1, S. 674.
6 Moses Baubeschreibung entbehrt allerdings jeglicher ernstzunehmender
Grundlage, da er die verschiedenen späteren Umbauten nur unzureichend von dem
Kernbau unterscheiden kann. Moses, Leopold: Synagogenbauten und deren Reste in
Niederösterreich, in: Unsere Heimat 5, Wien 1932, S. 301f.
7 Genée, Pierre: Synagogen in Österreich, Wien 1992, S. 26f; Krinsky, Carol
Herselle: Europas Synagogen, Stuttgart 1988, S. 130; David, Ferenc: Über die
Synagoge in Korneuburg, unveröffentlichtes Manuskript im Stadtmuseum Korneuburg,
1982; Adalbert Klaar führt es im Baualtersplan auf; Klaar, Adalbert:
Baualterplan von Korneuburg, 1951; Magnus, Neama: Der letzte Rest
österreichischer Geschichte des mittelalterlichen Judentums, in: Die Gemeinde,
IKH Wien, Dezember 1982, S. 35; Starzer, Albert: Geschichte der
landesfürstlichen Stadt Korneuburg, 1899, Auszug zitiert bei: Gold, Hugo:
Geschichte der Juden in Österreich, Tel Aviv 1971, S. 45.
8 Sonnleitner, Andrea: Mittelalterliche Synagogen im ehemaligen Herzogtum
Österreich, unveröffentlichte Magisterarbeit, Universität Wien 1998, S. 41-78.
Siehe auch Besprechung von Pierre Genée in DAVID, Dezember 1998.
9 Gedankt sei an dieser Stelle den Eigentümern für die Bereitschaft, das Gebäude
zu vermessen und zu dokumentieren.
10 Nordwand: 13,05 m, Südwand: 13,22 m.
11 Innenmaße: Nordwand: 11,27 m; Südwand: 11,46 m; Ostwand: 8,78 m; Westwand:
8,63 m.
12 Zur Zeit der Dokumentation lag dieser Bereich noch weitestgehend unter einer
neuzeitlichen Putzschicht, so daß eine endgültige Klärung nur durch eine
genauere Untersuchung erzielt werden kann.
13 David vermutet anhand versetzter Steinblöcke neben dem Portal, daß hier
nachträglich abgearbeitete Fialen aufgesessen hätten. Sonnleitner (1998), S. 58.
14 Sonnleitner meint hier unterhalb des Okulus noch einen Teil eines
Fenstergewändes zu erkennen. Sonnleitner (1998), S. 58.
15 13,20 m/ 4,40 m/ 13,90 m/ 2,50 m. Maßangaben nach Sonnleitner (1998), S. 59.
Es ist anzunehmen, daß der Raum nicht die ganze Breite erreichte, wie sie die
heutige Grundstückgrenze vorgibt.
16 Noyon (nach 1170), Sens (1168), Paris, Notre-Dame (Langhaus 1175-1196), Laon
(um 1200).
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