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Der Mensch im Menschen ist ewig
Marginalien zum Bildnis des Juden in der modernen Kunst
Versuch einer Rückschau Teil 3

Claus STEPHANI

Jenseits des Vorstellbaren

Seit dem 20. Jahrhundert, genauer gesagt seit den Ereignissen zwischen 1933 und 1945, gibt es keinen Weg mehr, der vorbeiführt an der Kunst, die in Vernichtungslagern und Ghettos entstanden ist. Es ist eine Galerie von stummen Bildern verstummter Künstler, es sind Bilder, die ihre Schöpfer überlebt haben. Und sie scheinen aus einer anderen Welt zu stammen, aus einer Welt, die der Menschenverstand nicht erfassen und somit auch nicht begreifen kann. Man hat den Eindruck, die Opfer der Massenvernichtung „hätten auf einem anderen Planeten gelebt und wären dort umgekommen“, wie Nora Levin schreibt, auf dem „Planeten Auschwitz“ oder im „L’univers Concentration-naire“, wo alle Wertvorstellungen des Menschen bewußt zerstört und vernichtet wurden.

Erwin Schäfler: Landmann, ein Intellektueller aus Czernowitz (Bleistift auf grauem Papier), 1942 Auf der Zeichnung befindet sich folgende Inschrift des Künstlers in rumänischer Sprache: „Landmann, Intellektueller aus Czernowitz, 36 Jahre, starb an Hunger und Kälte auf der Landstraße zwischen Moghilev und Skasinetz, 4-I-1942“. (Moghilev und Skasinetz/Scazineþ waren zwei berüchtigte Arbeitslager in Transnistrien.)
 

Das aber, so David Rousset, kann oft nicht begriffen werden, weil „der Normalbürger nicht glauben kann, daß das alles möglich ist. Selbst wenn die Beweise seinen Verstand zwingen, dieses zuzugeben, weigern sich doch seine Muskeln... Die Insassen der Konzentrationslager aber wissen es... Sie sind vom Rest der Welt durch ein Erlebnis getrennt, über das zu sprechen unmöglich ist“, denn „die Welt von Auschwitz“, sagte einmal George Steiner, „liegt jenseits der Sprache, so wie sie jenseits des Vorstellbaren liegt“.
In einem Guide durch die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau heißt es über die künstlerischen Aussagen, die im Block 6, Raum 3 zu sehen sind: „Diese entsetzlichen Darstellungen stammen von Malern, von Männern und Frauen, die selbst Gefangene waren. Diese wahrheitsgetreu wiedergegebenen Szenen aus dem Lagerleben haben den Wert von Dokumenten und Beweisen.“ So erreicht uns heute die Botschaft einer ergreifenden Kunst, die Mary S. Constanza als „Bilder der Apokalypse“ bezeichnet. Doch es sind Werke, die man weder mit „herkömmlichen Maßstäben“ bewerten noch wie Exponate einer Galerie betrachten kann, denn es ist eine Kunst, „die unter Bedingungen geboren wurde, die noch nie ein Künstler zu ertragen hatte“, und so müssen diese Bilder „vor dem Hintergrund des Holocaust gesehen werden; sie können nicht beurteilt werden, ohne das Wissen um diese Tragödie und um das Wesen, aus dem sie hervorgegangen ist“. Daher bleiben diese Werke, wie auch das Verbrechen an ihren Schöpfern, einzigartig, denn es sind mahnende Zeugen, Bilder eines Alltags und Bildnisse von Menschen, die nach ihrer Vernichtung auferstanden sind und nun „auf dem Papier weiterleben“. Wir können sie sehen, erkennen und betrachten, doch wir können ihre grauenvolle Wirklichkeit, im Schatten des Todes und im Schein der Brennöfen, kaum begreifen.
Wie viele Künstler hat die enorme Maschinerie des Verbrechens ausgelöscht? Wie viele Künstler sehen uns heute aus jener irdischen Hölle mit verzweifelten und flehenden Blicken an? Denn aus ihren Gesichtern und Bildern spricht die ständige Angst – die Angst vor der täglichen „Endlösung“, und die Angst davor, daß die Welt jenseits der Lager möglicherweise niemals erfahren würde, was damals mit ihnen geschah.
Über die Zahl der während des Holocaust vernichteten Maler, Grafiker und Bildhauer gibt es verschiedene Schätzungen. Es wären über zweihundert konsekrierte Künstler gewesen, heißt es, oder auch mehr. Doch schon ein einziges Opfer wäre zuviel! Denn jedes Menschenleben ist eine Welt. Und so wollen wir hier keine Statistiken aufmarschieren lassen – das tun nämlich schon wieder jene, die den unbegreiflichen Mord begreiflich und erklärbar machen wollen, wenn auch gerade das unverständlich ist und unmöglich bleibt.
In der imaginären Galerie der Holocaust-Opfer und ihrer Kunst, wobei hier nicht unterschieden wird zwischen Toten und gekennzeichneten Überlebenden, stehen viele große Namen – Felix Nussbaum, Otto Freundlich, Bruno Schulz, Rudolf Levy, Adolf Außenberg, Leo Haas, Karl Schwesig, Roman Kramsztyk, Karel Fleischmann, Peter Löwenstein, Adolf Adler, Arnold Daghani (Korn), Leon Engelsberg, Aizig Feder, David Friedmann, Malvina Schalkova, Sara Glücksmann-Faitlowitz (Gliksman-Fajtlowicz), Boris Taslitzky u.a. Es sind Künstler, die bereits vor ihrer Verhaftung und Deportation bekannt waren. Sie kamen aus Deutschland (Außenberg, Nussbaum, Levy, Friedmann, Schwesig), Österreich-Ungarn (Fleischmann, Haas, Müller, Schalkova), Rumänien (Adler aus Sathmar/Satu Mare, damals Ungarn, Daghani aus Suczawa/Suceava, damals Österreich), Polen (Engelsberg, Schulz), Frankreich (Taslitzky), Holland (Asscher) oder Rußland (Feder, Gliksman-Fajtlowicz).
Hinter jedem Namen aber steht auch ein menschliches und künstlerisches Schicksal. Denn die meisten von ihnen starben in Arbeitslagern, Gaskammern, auf Todesmärschen und an jenen zahlreichen Stätten der organisierten Vernichtung.
Felix Nussbaum aus Osnabrück (1904-1944), international bekannt, mit erfolgreichen Ausstellungen in Hamburg, Berlin und Rom, hatte, nach seiner Ausbildung an der Hamburger Kunstgewerbeschule und an der Lewin-Funcke-Schule in Berlin (bei Willy Jaeckel), ab 1925 an der Hochschule der Berliner Akademie der Künste (bei Cesar Klein und Hans Meid) studiert. Nach seiner Flucht aus dem südfranzösischen Lager Saint-Cyprien hielt er sich „illegal“ in Brüssel auf, wo seine „symbolisch verschlüsselten“ Bilder, Selbstbildnisse und Porträts seiner Frau Felka Platek entstanden. Nach seiner Verhaftung, 1944, endete er namenlos in Auschwitz. Das letzte Gemälde, datiert 18. April 1944, trägt den Titel „Die Gerippe spielen zum Tanz“. Berühmt wurde sein ausdrucksvolles „Selbstbildnis mit Judenpaß“ (um 1943). Aus seinem Gesicht blickt die stetige Angst, die versinnbildlichte Tragödie des verfolgten Judentums; es ist ein Gemälde, das man nach dem ersten Betrachten nicht mehr vergessen kann, auch darum, weil es heute repräsentativ ist für viele Gesichter und Schicksale.
Rudolf Levy (1875-1943) stammte aus Stettin (heute Szczecin) und galt in der Weimarer Zeit „als der weise Gegenpol zum Expressionismus“. Er lebte seit 1907 in Berlin und Paris, war mit Henri Matisse befreundet und in dessen Atelier viele Jahre tätig. Im Pariser Café Dôme gehörte er, wie auch später in Berlin und Florenz, als „der witzige und geistig anregende Mittelpunkt“ einem Kreis von Künstlern an, in dem auch Oskar Kokoschka und Jules Pascin verkehrten. Im Jahr 1944 wurde er von zwei Gestapobeamten, die sich als „Kunsthändler“ ausgaben, in eine Falle gelockt und bald danach von der SS ermordet.
Die Reihe großer Namen, Maler, Bildhauer und Grafiker, die während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ausgelöscht wurde, ist schmerzlich lang.
Otto Freundlich (1878-1943), der „nach einer kosmischen Harmonie“ suchte, „dazu bestimmt, die Entfremdung zwischen der Natur und dem Menschen aufzuheben“, starb in Majdanek bei Lublin.
Adolf Außenberg (1917-1943) wurde bei Kriegsausbruch aus Deutschland nach Theresienstadt verschickt und kam wahrscheinlich 1943 in Auschwitz um.
Malvina Schalkova aus Prag (1882-1944) kam 1941 nach Theresienstadt. Drei Jahre durfte sie dort als Porträtzeichnerin der Nazi überleben, wobei sie auch im Geheimen Mitgefangene porträtierte. Sie starb im September 1944 in Auschwitz.
Karel Fleischmann, Arzt, Schriftsteller und Maler, wurde 1942 nach Theresienstadt verschickt, 1944 verliert sich seine Spur in Auschwitz.
Bedrich Fritta (Fritz Taussig) zeichnete in Theresienstadt Ghettoszenen, wurde von den Nazis erwischt und wegen „korruptiver Propaganda“ angeklagt. Er kam ins Lagergefängnis und von dort in die Todeskammern von Auschwitz.
Peter Ginz aus Prag (1928-1944) kam als vierzehnjähriger Junge ins Ghetto von Theresienstadt, wo er durch seine vielseitige und ungewöhnliche Begabung auffiel. Er zeichnete, schrieb und redigierte schließlich die Lagerzeitung „Vedem“. Sein kurzes Leben endete 1944 in Auschwitz.
Louis Asscher aus Amsterdam (1885-1945) wurde 1943 von den deutschen Besatzern ins holländische Lager Westerbork eingeliefert, kam im Januar 1944 nach Bergen Belsen, überlebte dort die Befreiung des Lagers durch die britische Armee am 15. April 1945 und starb wenige Tage später an Schwäche und Erschöpfung...
Diese Aufzählung könnte so über viele Seiten hinweggehen und würde schließlich ein eigenes umfangreiches geschriebenes Mahnmal ergeben.

Alter Ritov: Selbstbildnis im Ghetto Riga (Kohle), 1943


Ein letzter Wille

Hier sollte aber noch auf einen anderen charakteristischen Aspekt der Vernichtung hingewiesen werden: auf das beiläufige und alltägliche Töten der Nazis, je nach Stimmung, Lust und Laune – denn ein Menschenleben zählte bei jenen professionellen Henkern nichts.
Zum Beispiel Bruno Schulz (1892-1942) – ein Schriftsteller, Maler und Zeichner, der aus Drohobytsch (Drohobycz), der verschwundenen, verlorenen, vergessenen ostjüdischen Welt Galiziens kam und heute weltbekannt ist –; er wurde erschossen, so en passant, der Tod kam im Vorübergehen.
Als die deutsche Wehrmacht im Sommer 1941 zum zweitenmal in seine Heimatstadt einmarschierte, begann schon im Herbst die Errichtung eines Ghettos. Die ersten Monate überlebte Schulz dank seiner zeichnerischen Begabung: auf Befehl eines Gestapo-Offiziers mußte er die Räume des neuen Kasinos, das in der k.u.k. Reitschule eingerichtet wurde, mit großen Wandgemälden ausschmücken. Diese Arbeiten schützten den preisgekrönten Künstler und Schriftsteller einige Zeit vor dem Abtransport in eines der Vernichtungslager.
Am 19. November 1942 ging Bruno Schulz wie immer zum sogenannten Judenrat, um seine bescheidene Tagesration Brot abzuholen. Da machten die deutschen Besatzer plötzlich Jagd auf die Ghettobewohner und erschossen wahllos Menschen, die sich zufällig auf der Straße befanden. Auch Bruno Schulz blieb tot am Bürgersteig liegen, und der Schütze, ein Scharführer, ging weiter, so, als wäre nichts geschehen...
Es mag ungewöhnlich sein, daß man in essayistische Marginalien zum Kunstgeschehen des 20. Jhs. solche Szenen miteinbeziehen muß, doch an diesen Ereignissen führt heute – wie eingangs erwähnt – kein Weg mehr vorbei, und auch keine Gedanken und kein Gedenken. Und so muß hier auch noch hinzugefügt werden, das, was heute bereits vergessen ist, weil es zur Banalität des damaligen Alltags gehörte.
Doch es gibt auch Künstler, die den Holocaust in Ghettos und Lagern überlebt haben, die im braunen Nacht- und Nebelreich ihre vielen kleinen und großartigen Kunstwerke schufen und nach der Befreiung versuchten, mit ihren Erinnerungen weiterzuleben – Künstler, die nicht vergessen konnten und daher auch in den Jahren danach kreativ tätig waren. Zu ihnen gehören Adolf Adler – er entkam 1944 aus einem Arbeitslager in der Ukraine und wanderte 1963 nach Israel aus –, Leo Haas – er lebte nach der Befreiung von Auschwitz in Prag und Ostberlin (DDR) –, Sara Glücksmann-Faitlowitz arbeitete während des Krieges im Ghetto von Lodz (damals zeitweilig Litzmannstadt) als Zeichnerin und Grafikerin im Büro für Einwohnerkontrolle und Statistik und zog nach der Befreiung nach Israel –, Esther Lurie aus dem lettischen Liepaja, erhielt 1938 den Dizengoff-Preis, kam 1941 ins Ghetto Kaunas (Kowno), danach in die Konzentrationslager Stutthof, Neuen, Merzen und Leibisch, 1945 kehrte sie in ihr Land zurück; 1946 wurde ihr zum zweitenmal der Dizengoff-Preis verliehen.
Unter den Künstlern waren dann auch einige, die gegen die deutschen Okkupanten aktiv gekämpft haben, so als Soldaten in der Roten Armee – wie der in Wien geborene Erwin Schäfler (1937-1965) und der aus Szczerzec bei Lemberg (Lwów) stammende Grafiker Marek Oberländer (1922-1978), der sich nach dem Krieg in Schweden und Frankreich aufhielt –, in der polnischen Armee – wie Leon Engelsberg aus Warschau –, oder in der Résistance – wie der Maler Boris Taslitzky, ein Schüler von Jacques Lipchitz, der nach seiner Verhaftung im Lager Buchenwald überlebte und später in Paris arbeitete. Auch Paul Ullman, 1906 als Sohn amerikanischer Eltern in Paris geboren, kämpfte als aktives Mitglied im französischen Untergrund. Er wurde von den deutschen Besatzern gefangen genommen und am 24. August 1944 erschossen. Ein anderer Künstler und Widerstandskämpfer, Jules Gordon, der aus Sibirien stammte, starb bei einem Gefecht an der schweizerisch-französischen Grenze, als er half, jüdische Kinder vor dem Zugriff der Nazis zu retten. Izak Kreczanowski, 1910 im litauischen Dobrzyn geboren, wurde 1941, zusammen mit anderen jüdischen Partisanen, in einem Wäldchen bei Bialystok von der SS hingerichtet.
Nur wenige Künstler brachten nach dem Holocaust noch die Kraft auf, ein Studium zu beginnen und sich weiter zu bilden. Einer von ihnen ist György Hegye (Georg Scheinberger) aus Budapest, der den Weltkrieg in einem Arbeitsbataillon der ungarischen Armee überlebt hatte und später an den Kunstakademien von Cluj (Klausenburg) und Budapest studierte. Ebenfalls aus Budapest stammt auch Esther Schönfeld. Nach ihrer Deportation in die Lager Janowka-Lemberg, Auschwitz und Bergen Belsen, wo sie 1945 von den Britten befreit wurde, widmete sie sich ganz dem künstlerischen Schaffen und begann ihre Kriegs- und Lagererlebnisse zeichnerisch zu verarbeiten.
Viele von den Holocaustüberlebenden wanderten in den Jahren nach Kriegsende in Israel ein. Die meisten von ihnen stammten aus Polen (Asriel Awret, Szymon Balicki, Chaim Bargal, Leon Engelsberg, Chaim Goldberg, Henryk Hechtkopf, Osias Hofstätter, Mosche Kupfermann, Arie Merzer, Halina Olomoucki), Litauen (Aharon April, Samuel Bak, Alexander Bogen, David Labkowski, Alter Ritov), Rumänien (Adolf Adler, Arnold Daghani, Marcel Janco), Weißrußland (Josef Kuzkowski, Mark Zitznitzki), Lettland (Abel Pan) und Österreich (Erwin Schäfler, der aus Wien 1937 nach Rumänien fuhr, von dort 1940 in die Ukraine floh, 1946 nach Siebenbürgen/Transsylvanien kam und dann 1958 nach Israel zog). Die meisten dieser Einwanderer stammten aus Osteuropa, wo die kurze Naziherrschaft Tausende von zerstörten jüdischen Gemeinden, zahlreiche Vernichtungslager und Millionen Menschenopfer hinterlassen hatte. In Israel versuchten sie einen kreativen Neubeginn und leisteten in den Jahren danach einen prägenden Beitrag zum modernen Kunstgeschehen ihres Landes.
„Was ist die Aufgabe eines Künstlers in einer Zeit sittlicher und gesellschaftlicher Krise? Was ist der Unterschied zwischen Mensch und Tier, wenn nicht aufbauendes, schöpferisches Tun; denn nur schöpferisches Tun sichert die Zukunft der Menschheit und ihre Entwicklung. Nur aufbauendes, positives Tun schafft eine Zukunft. Und nur, wenn eine Zukunft vor ihm liegt, ist der Mensch fähig, Kulturwerke zu schaffen“ schrieb der aus Stolp (heute S³upsk) in Pommern stammende Maler und Bildhauer Otto Freundlich, bevor er im März 1943 in Majdanek starb. Sechs Jahre vorher war seine bekannte Skulptur „L’homme nouveau“ auf dem Umschlag des Katalogs der Münchener Ausstellung „Entartete Kunst“ abgebildet worden, wonach für ihn der letzte Leidensweg begann.
Das schöpferische Tun dieser vielen ungewöhnlichen Künstler offenbart eine erstaunliche Kraft, eine einmalige Leistung. Ihr Werk aus Alltagsszenen, Momentaufnahmen und Bildnissen entstand oft kurz vor dem Tod und wehrte sich so gegen das Vergessen. Es erreicht uns heute aus einer Zeit, in der es für die meisten von ihnen keine Zukunft mehr gab, und es steht nun vor uns wie ein unbegreifliches Wunder, ein unaufhörlich erzählendes Mahnmal – wie ein letzter Wille in Bildern.

Schlussbemerkungen

 Es ist eine imaginäre Galerie mit unterschiedlichen Bildnissen – Gemälden, Grafiken und Zeichnungen –, eine lange Bildersuite von Gesichtern verschiedener Menschen und Individualitäten, deren körperliche und seelische Erscheinung so nun sichtbar wird. Denn wir haben versucht, das menschliche Antlitz physiognomisch zu differenzieren, um das vieldeutige Bild des Juden in der modernen Kunst erkennbar zu machen.
Die jüdische Porträtistik erreicht erst mit Moritz Daniel Oppenheim und Isidor Kaufmann im 19. Jh. und danach im 20. Jh. mit Moritz Gottlieb, István Beregi, Hermann Struck, Marc Chagall, Jankel Adler, Reuven Rubin u.a. ihre beeindruckende Ausprägung. Das Individualbildnis und die Einzelpersönlichkeit wird somit als eine vom Leben – von Erlebnissen und Erfahrungen – geformte und dadurch wirklichkeitsnahe Erscheinung dargestellt. Und das sowohl auf Oppenheims frühen Genrebildern aus der traditionsgeprägten jüdischen Lebenswelt als auch später auf den Bildnissen aus den Todeslagern des 20. Jhs., die während der Vernichtung dieser Welt entstanden sind.
Dabei wurde das jüdische Antlitz mit seinem individuellen Ausdruck auch in den vielgestaltigen Bildkonzeptionen der Neuzeit, von den traditionellen bis zu den avantgardistischen Darstellungsweisen, berücksichtigt. Im 19. Jh. erreichten übrigens jüdische Künstler mit ihren Bildern und Milieuschilderungen schließlich auch in weiten nichtjüdischen Kreisen große Anerkennung. So porträtierte z.B. Moritz Daniel Oppenheim, 1832, Goethe in Weimar und von Isidor Kaufmann, der aus Arad im heutigen Rumänien stammte, erwarb sogar der österreichische Kaiser Franz Josef das Gemälde „Der Besuch des Rabbi“, wonach auch der russische Zar und der deutsche Kaiser von ihm Werke ankauften.
Die hier präsentierten jüdischen Künstler der Moderne gehören, wie zuvor angedeutet, verschiedenen Strömungen und Gruppierungen an: Ausgehend vom Naturalismus und Realismus – mit Oppenheim, Gottlieb, Kaufmann, Beregi – bis zu den „Entdeckern“ der jüdischen Volkskunst – Lissitzky, Ryback –, den phantastischen Welten eines Marc Chagall, dem tiefgründigen Surrealismus von Victor Brauner und dem romantischen Nationalismus des Reuven Rubin, der 1916-1919 Szenen aus dem jüdischen Volksleben in seiner rumänischen Heimat und später Menschen in den galiläischen Landschaften malte. Es ist ein weitgespanntes, farbiges und lebendiges Panorama von Bildnissen, die aus einer gemeinsamen Erfahrung heraus entstanden.
Einige Künstler schufen auch Bilder mit Jesus als erkennbaren Juden, wie Mark Antokolsky („Christus vor seinen Richtern“, 1874), Moritz Gottlieb („Christus vor Pilatus“, 1877, „Christus im Tempel“, 1879), Max Liebermann („Zwölfjähriger Jesus im Tempel“, 1879), ein Gemälde, das in München Anstoß erregte, weil er einigen antisemitischen Kritikern „zu jüdisch“ aussah, und Reuven Rubin („Jesus und der Jude“, 1919). Schließlich gestaltete Marc Chagall in seinem beeindruckenden Werk „Die weiße Kreuzigung“, 1938, das Martyrium des Judentums, das, so Sydney Alexander, auch das Leiden des Künstlers darstellen sollte (Baal-Teshuva, 2003: 142) und ebenfalls auf Kritik stoß.
Es ist eines der bedeutendsten Gemälde Chagalls, und es gehört wohl in die erste Reihe der Bildnisse zum Judentum. Ein mit dem Tallith umschürzter Jude hängt am Kreuz. Über seinem Kopf ist eine hebräische Inschrift zu erkennen: „Jesus von Nazareth König der Juden. Auf dem Bild sieht man außerdem einen fünfarmigen Leuchter, einen Juden mit einer Thorarolle und eine brennende Synagoge. Der Thoraschrein steht offen, und die heiligen Schriften liegen verstreut auf dem Boden, überall verängstigte Menschen. Das Gemälde entstand, wie Chagall Jahre später sagte, als Antwort auf die Verfolgungen durch die Nationalsozialisten – doch das Ausmaß und Ende jener Zeiten konnte der Künstler damals noch nicht ahnen.
So blickt das Bild des Juden uns nun an aus einer großen imaginären Galerie, die hier zusammengetragen wurde; und die Zahl der Gesichter in dieser Kunstschau scheint endlos zu sein. Es sind biblische Propheten und Könige, Minnesänger, Gelehrte, Künstler, Rabbiner und Chassidim, einfache jüdische Menschen aus Osteuropa und auch Juden, deren stummer Ruf vor ihrem Ende uns heute immer noch erreicht. Jedes Bildnis verweist aber auf eine eigene Geschichte, auf einen langen beschwerlichen Lebensweg. Und entlang dieses Weges stehen der Sänger Süßkind von Trimberg, der „Anwalt“ Josel von Rosheim, Rabbi Ticktin und der Rebbe von Kotzk und dann die vielen Gesichter auf den Bildern von Oppenheim, Kaufmann, Struck, Kaplan, Chagall und anderen Malern, darunter aber auch das Selbstbildnis von Felix Nußbaum mit dem Judenpaß und die kleine Zeichnung von Erwin Schäfler, die einen Mann zeigt, der eines Tages auf einer Landstraße in Transnistrien zu Tode kam.
Es ist die ewige Welt des Judentums, die alle Zeiten, auch die der Kriege, Pogrome und Vernichtung, überlebt hat – wie in der Wirklichkeit, so auch in der Erinnerung und im Bild.


 

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