Zwischen Assimilation, Multikulturalität und Religion:
Jüdisches Leben in Graz heute
Karen ENGEL
Seit dem ich in Österreich wohne, wurde mir viel
klarer was es eigentlich bedeutet in der Diaspora zu leben. Auf der einen Seite
droht die Assimilation, auf der anderen Seite können Juden in der Diaspora zu
einer immerwährenden Erneuerung des Judentums beitragen, da sie sich dauernd
definieren müssen gegenüber einer dominanten nicht-jüdischen Gesellschaft. Ich
muß mich immer wieder fragen in wie weit ich mich und meine Kinder an diese
Gesellschaft anpassen soll und in wie weit wir bereit sind, anders zu sein.
Diese Überlegungen haben auch die Grazer Jüdische Gemeinde seit Anfang an
geprägt. Die Gemeinde war zu klein um in Eigenständigkeit und Abgrenzung
bestehen zu können. Die Grazer Juden waren in der Mehrzahl nie sehr orthodox.
Bei der Gründung der ersten Israelitischen Kultusgemeinde Graz in 1869 war die
Integration in und die Anpassung an die bürgerliche Gesellschaft von großer
Bedeutung.1 Umso größer war die Enttäuschung, Fassungslosigkeit und Erbitterung
unter den Grazer Juden als sie mit wachsenden antisemitischen Attacken, verbalen
wie auch physischen, mit dem aufkeimenden Nationalsozialismus konfrontiert
wurden.
Antisemitismus war auch noch lange präsent in Graz nach dem Krieg. Erst in den
80iger Jahren begann sich die Stimmung in Graz langsam zu ändern. Es war
bezeichnend, daß alle politischen Parteien in der Stadt Graz und im Land
Steiermark einstimmig für den Bau der neuen Grazer Synagoge stimmten und die
Kosten von Stadt, Land und Bund getragen wurden. Als ich 1997 nach Graz kam war
die jüdische Gemeinde eine in sich sehr verschlossene Gruppe. Dies änderte sich
allmählich mit der Wiedererrichtung der Grazer Synagoge und der Gründung des
Jüdischen Kulturzentrums. Seit 2001 organisieren wir öffentlich zugängliche
Veranstaltungen über jüdische Kultur, Religion und Geschichte in der Synagoge
und im Kulturzentrum. Die meisten Besucher sind nicht jüdisch. Bei einer
Kulturveranstaltung hat mir eines unseren Mitglieder, das als Kind aus
Österreich flüchten musste, gesagt: Wie schön, dass die Leute zu UNS kommen!
Wer hätte das gedacht?!
Ein Ziel des Jüdischen Kulturzentrums Graz ist nicht nur eine zukunftsbezogene
Auseinandersetzung mit den Folgen des Nationalsozialismus und der Shoah zu
ermöglichen, sondern auch ein Dialog in einer freundlichen, entspannten
Atmosphäre zu fördern. Unsere Veranstaltungen werden mit sehr viel Interesse und
Neugier begangen. In den letzten fünf Jahren habe ich gelernt, wie wenig die
meisten Steirer über ihre ehemaligen jüdischen Nachbarn und Verwandten wissen,
wie tief und schmerzhaft die Wunden sind, und wie belastend noch das
Unausgesprochene in steirerischen Familien weiterwirkt. Deshalb bemühen wir uns
auch, mit nichtjüdischen Kulturschaffenden, Schulen und Bildungsinstituten
zusammenzuarbeiten, die sich mit jüdischen, interkulturellen und interreligiösen
Themen beschäftigen.
Ich habe aber auch gelernt, daß Kulturveranstaltungen alleine nicht eine
jüdische Identität schaffen können.. Gerade in der Diaspora spielt die religiöse
Praxis eine wichtige Rolle für den Zusammenhalt der jüdischen Gemeinde. Es
genügt nicht, bloß ein schönes Gebäude zu errichten. Man kann nicht erwarten,
daß eine Synagoge gebaut wird und dass jüdische Leben automatisch wieder
aufblüht. Die spirituelle Erneuerung geht nur von dem Menschen aus.
Viele Mitglieder der Grazer Gemeinde sind so assimiliert, auch ich komme auch
aus einer assimilierten Familie. Als ich mich mehr mit religiösen Studien
auseinandersetzte, entdeckte ich zu meiner eigenen Überraschung, daß ich mit
vielen jüdischen Traditionen übereinstimme wie zum Beispiel dem Einhalten des
Shabbat. Es ist wichtig, einmal in der Woche Halt zu machen, Zeit für sich und
seine Familie zu nehmen , aus dem Alltag zu steigen und zu reflektieren, wie wir
besser und gerechter miteinander leben können. Das ist schwierig genug in
unserer gestressten und karriereorientierten Gesellschaft. Beim Anzünden der
Shabbatkerzen tragen Frauen traditionellerweise Kopftücher und ich stelle voll
mütterlichem Stolz fest, dass meine Kinder die Shabbatgebete perfekt auf
Hebräisch rezitieren können, Gebete die ich selbst erst viel später lernte. Nun
lernen sie auch Hebräisch schreiben und lesen, sie haben ein fundiertes
jüdisches Bewusstsein.
Die neue Synagoge hat das jüdische Leben postiiv verändert. Es wird aber noch
einige Zeit dauern bis sich die Gemeinde religiös erneuern kann und die Synagoge
ihre Funktion als spirituelles Zentrum voll und ganz erfüllen kann.
Karen Engel
Leiterin des Jüdischen Kulturzentrums Graz
Weiterführende Literatur: Gerald Lamprecht, Das Werden der Gemeinde. Von ersten
jüdischen Händlern in der Steiermark bis zur Gründung der Israelitischen
Kultusgemeinde Graz 1869 in: Gerald Lamprecht (Hrsg.) Jüdisches Leben in der
Steiermark. © 2004, StudienVerlag Innsbruck, 127-169.
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