Erzähltes Leben, erlebte Geschichte
Zur Eröffnung des »Ludwig Boltzmann Instituts für Theorie und Geschichte
der Biographie in Wien«
Susanne Swantje FALK
Wer
in den letzten Wochen dieses Jahres auf der Suche nach passenden
Geschenken durch die Buchhandlungen gestreift ist, der hat es sicher
längst bemerkt, ebenso diejenigen unter uns, die sich dem Talkshowgenre später
Freitagabende nicht entziehen konnten: Man schreibt (vorzugsweise über sich
selbst) oder zumindest lässt man schreiben.
Dem Biographien-Hype auf dem
deutschsprachigen Buchmarkt scheinen keine Grenzen mehr gesetzt zu sein. Die
Spiegel-Bestsellerliste der Woche 48 im Jahr 2005 verzeichnet nicht weniger als
acht von zwanzig Titeln in der Sparte Sachbuch mit biographischem Inhalt.
Denn:
Nahezu jeder Prominente jeden Alters schreibt heutzutage seine Autobiographie
oder, in Ermangelung von Talent und Zeit, er lässt eine Biographie über sich
schreiben. Von gut recherchierten Lebensgeschichten bedeutender KünstlerInnen
und ihrer Ehemänner bzw. -frauen (man denke da an das Ehepaar Inge und Walter
Jens, die sich der Frauen der Familie Mann intensiv angenommen haben) bis hin zu
Frauen ohne künstlerischen Anspruch aber dafür umso prominenterem Status (man
denke an Victoria Beckham) scheint neuerdings jedes Leben einer Dokumentation
würdig. Und mit Ausnahme von Victoria Beckham, die kürzlich gestand, niemals ein
Buch gelesen zu haben, schon gar nicht ihre eigene Biographie, scheinen sich die
biographischen Ergüsse und Lebensbeichten der Stars, Sternchen und des
nachfolgenden Schnuppenglitters einer großen Leserschaft zu erfreuen.
Doch was
macht die Faszination von Biographien tatsächlich aus? Es wäre vermessen zu
denken, das Leben der Menschen von heute wäre interessanter als das der Menschen
früherer Generationen, allerdings haben diese ihr Leben nicht massenweise in
Buchform festgehalten. Doch Gesellschaftsstrukturen ändern sich über die
Jahrzehnte und Jahrhunderte und stellen auch die Biographik vor neue
Herausforderungen. Haben wir es hier also mit einem aktuellen Trend zu tun, der
sich über die Grenzen des Buchmarkts hinweg in der Biographisierung von
Gesellschaft als Ausdruck einer Individualisierung von Gesellschaft zu erkennen
gibt?
Ernst Jandl bei einer Lesung
Biographien geben nicht nur Einzelschicksale
wieder, sie stehen im besten Fall auch über die Abbildung des Lebens von
Individuen hinaus für das Leben innerhalb einer ganzen Epoche. Biographien
helfen uns dabei, Epochengeschichte in der Geschichte des Einzelnen zu
visualisieren und greifbar zu machen. Dazu tragen nicht nur Biographien sondern
auch immer beliebter werdende TV-Porträts oder Spielfilme bei. Auch Museen
können in diesem Zusammenhang für den Besucher zu biographischen Erlebniswelten
werden - man denke da an das Anne Frank Haus in Amsterdam oder das
Buddenbrook-Haus in Lübeck. Dabei steht möglicherweise weniger das Interesse an
der dokumentierten Persönlichkeit im Vordergrund, ebenso wenig der Lerneffekt
bei Leser oder Zuseher durch Nachahmung oder Adaption biographischer
Gegebenheiten einer prominenten Persönlichkeit, sondern vielmehr das Begreifen
von Geschichte in und durch das Leben und Erleben eines Einzelnen. Dies könnte
auch den Boom an historisch-biographischer Literatur erklären, der im Rahmen der
Jahrestage zu den Ereignissen von 50 Jahre Staatsvertrag Österreich bzw. 60
Jahre Kriegsende die Buchhandlungen gefüllt hat. Besonders die Zeit des
Nationalsozialismus scheint in Buch- und Filmform noch einmal in ihrer
biographischen Darstellung von Tätern und Opfern einer dringenden Aufbereitung
zugeführt worden zu sein, die, so darf man hoffen, eine intensive
Auseinandersetzung mit Geschichte abseits von distanzierten Allgemeinplätzen
möglich machen wird. Täter wie Opfer bekommen damit ein Gesicht vielleicht die
effektivste Methode um ihre Geschichte vor dem Vergessen zu bewahren.
In Wien gibt es nun eine neue Anlaufstelle der Biographieforschung, die sich
unter anderem auch mit den genannten Fragestellungen zukünftig befassen wird. Im
April dieses Jahres wurde auf Betreiben von Dr. Wilhelm Hemecker und Dr.
Bernhard Fetz das »Institut für Theorie und Geschichte der Biographie« im Rahmen
der Ludwig Boltzmann Gesellschaft ins Leben gerufen und beschäftigt derzeit ein
internationales Team von zehn Mitarbei-terInnen, das in den kommenden sieben
Jahren ein neues Zentrum der Biographieforschung in Österreich bilden wird. Die
feierliche Eröffnung fand am 20. Oktober dieses Jahres in der Nationalbibliothek
bei regem Besucherandrang statt.
Turnunterricht auf dem Dach der
Schwarzwaldschule
In den zwei großen Forschungszweigen des
Instituts, der Theorie und der Geschichte der Biographie, werden nicht nur neue
methodische Ansätze in der Biographik sowie gattungstheoretische Aspekte zur
Biographie erarbeitet, sondern auch an Hand von vier ausgewählten Beispielen
konkrete Biographieforschung am Objekt betrieben. Zu den hier ausgewählten
Persönlichkeiten der österreichischen Literatur und Gesellschaft der Moderne
zählen Hugo von Hofmannsthal, Thomas Bernhard, Ernst Jandl und Eugenie
Schwarzwald. Daneben sind auch Symposien zu den unterschiedlichsten
Themengebieten der Biographieforschung in Planung, so z. B. im April 2006 zum
Thema »Spiegel oder Maske? Konstruktion biographischer Wahrheit«, in dem man u.
a. der Widersprüchlichkeit zwischen subjektiver Wahrheit und Fiktionalität in
der Biographie nachspüren wird. Weiters sind bereits jetzt mehrere Ausstellungen
in Planung (in Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum Wien), so etwa eine im
Jahr 2009 zu Hugo von Hofmannsthal und eine darauf folgende über Jüdische
Schriftstellerinnen. Gleichfalls geplant sind Vortragsreihen zu
forschungsrelevanten Themen wie »Biographie und Religion«, in der der Frage
nachgegangen wird, »welche Funktion Lebensmodelle von Religionsgründern und
charismatischen religiösen Figuren für das Selbstverständnis von Weltreligionen
haben«.
Das neue Institut der Ludwig Boltzmann Gesellschaft tritt in Kooperation mit der
Österreichischen Nationalbibliothek, dem Institut für Germanistik der
Universität Wien, dem Jüdischen Museum Wien und der Thomas Bernhard
Privatstiftung auf. Die Ausrichtung des Instituts ist interdisziplinär und
siedelt sich im Spannungsfeld zwischen Literaturwissenschaften, Zeitgeschichte
und Kulturwissenschaften an, mit dem erklärten Ziel die Biographie endlich in
den Mittelpunkt einer wissenschaftlichen Diskussion zu rücken. Anders als im
englischsprachigen Raum, in dem die Biographik nicht mehr vom
Wissenschaftsbetrieb ausgeklammert wird, fehlt eine derartige Auseinandersetzung
im deutschsprachigen Raum bis heute. Dem neuen Institut und seinen
MitarbeiterInnen sei bei ihrer Erarbeitung eines aktuellen und spannenden
Forschungsfeldes viel Erfolg und vor allem die Aufmerksamkeit gewünscht, welche
der Biographieforschung im deutschsprachigen Raum längst hätte zukommen sollen.
Nähere Informationen finden Sie auf der Homepage des »Institus für Theorie und
Geschichte der Biographie«: http://gtb.lbg.ac.at
Fotonachweis: Reimund von Hofmannsthal,
Matthias Creutziger, Stadtarchiv der Stadt Wien
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