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Martin Buber und Wien

Eleonore Lappin

In seiner Anfang 1930 erschienen Biographie über Martin Buber, die er in enger Zusammenarbeit mit diesem abgefasst hatte, schrieb Hans Kohn:
„Martin Buber, Österreicher, dem Wien auch in Lemberg Mittelpunkt war, hat in entscheidenden Jugendjahren den Einfluss dieser Kultur erfahren. Er hat sich wenig später mit Entschiedenheit von ihr gelöst, und sein geistiger Lebensweg, der ihn im ansteigenden Ringen zu Ernst, zur Verantwortung, zur Sachlichkeit und zur Wirklichkeit geführt hat, hat ihn zu immer schärferer Absage an die spielerische Romantik, alle bloße Stimmung und Schönheit, an jedes nicht mit dem vollen Ernst der Verantwortung gesprochene Wort geleitet. Aber die Absage war immer auch eine Absage an eine Gefahr in seinem eigenen Wesen, an eine Lockung in seiner Seele, zu der mancher natürlicher Hang ihn zog. Bei aller strengen Zucht des Geistes behielt Buber das Weiche und Frauenhafte der österreichischen Kultur, und seine Sprache hat in ihrer Bevorzugung gefühlsmäßiger Betonung vor logischer Schärfe lange die Spuren der jungen Wiener Schule getragen.“1
1930 war Martin Buber deutscher Staatsbürger und prominenter Vertreter des deutschen Judentums. In diesem Beitrag sollen sowohl die Einflüsse Wiens, als auch Bubers schrittweise Abkehr nachvollzogen werden, die mit Ende des Ersten Weltkriegs abgeschlossen war.

Habsburgische Herkunft
Mordechai Martin kam am 8. Februar 1878 als Sohn von Carl Buber und Elise, geborene Wurgast, in Wien zur Welt. Vater Carl war ein erfolgreicher, modern und pragmatisch denkender Geschäftsmann,2 der einer großbürgerlichen Lemberger Familie entstammte, die Mutter, deren Herkunft und Schicksal weitgehend unbekannt sind, kam aus Odessa. Die Erinnerung an den Donaukanal, den Martin von seinem Geburtshaus am Franz-Josefs-Kai sehen konnte, begleitete ihn bis ins Alter. In seinem dritten Lebensjahr verließ seine Mutter Elise die Familie3 und Martin übersiedelte zu seinen Großeltern Salomon und Adele Buber, die auf einem großen Gut in der Nähe von Lemberg (L’viv), lebten. Großmutter Adele führte die Geschäfte – die Bubers waren Großgrundbesitzer und Getreidehändler und besaßen Phosphatgruben –, in ihrer Freizeit las sie die klassische deutsche Literatur. Salomon Buber machte sich als Sammler und Herausgeber von Midraschim, lehr- und legendenhaften Deutungen der Bibel, einen bis heute geschätzten Namen und war im Vorstand der jüdischen Gemeinde. In der Widmung zu „Die Geschichten des Rabbi Nachman“4 bezeichnete ihn Martin als den „letzten Meister der alten Haskala“, der jüdischen Aufklärung. Die Umgangssprache der Bubers war Deutsch, doch schrieb Salomon die Briefe an seinen Enkel stets mit hebräischen Buchstaben.5 Er vermittelte Martin das jüdische Wissen der aufgeklärten Orthodoxie, während der Sommerfrischen besuchte er mit ihm auch die chassidischen Höfe in Sadagora und Czortkow.6 Adele Buber ließ den Enkel von Privatlehrern vor allem in Fremdsprachen und humanistischen Fächern unterrichten,7 bis er mit zehn Jahren in ein polnischsprachiges Gymnasium eintrat, wo er auch maturierte. Im 14. Lebensjahr zog Martin ins assimilierte Haus seines Vaters Carl, der neuerlich geheiratet hatte. Hier gab sich Martin „einem literarischen und ästhetischen Genuss der Kulturgüter hin, die ihm vor allem in ihrer österreichischen, und das heißt Wiener Form entgegentraten“.8
Es ist daher nicht verwunderlich, dass Buber 1896 sein Studium in der Residenzhauptstadt Wien begann und dort auch 1904 promovierte. Ab dem zweiten Studienjahr absolvierte Buber jedoch mehrere Semester in Leipzig, Zürich und Berlin. Seine Wiener Universitätsstudien begann Buber mit Vorlesungen und Seminaren in Philosophie und Kunstgeschichte, wobei die Lehrveranstaltungen von Ernst Mach sein Interesse an naturwissenschaftlich orientierter Philosophie erweckten.9 Ebenso wie Buber besuchte Hugo von Hofmannsthal Machs Vorlesungen und diskutierte dessen Schriften im Freundeskreis, dem Arthur Schnitzler und Richard Beer-Hofmann angehörten und in den auch Buber aufgenommen wurde. An Ernst Mach faszinierte die Schriftsteller des „Jung-Wien“ seine wissenschaftliche Deutung des Verschwindens des Ich, das für sie von zentraler Bedeutung war. Die Theorie Machs rechtfertigte die Selbstreflexion, welche ihr Werk kennzeichnete, nicht nur als Suche nach, sondern – durch die ästhetische Verarbeitung ihrer Empfindungen – auch als Festhalten des flüchtigen Ich. Das künstlerische Werk gab ihren Empfindungen gesellschaftliche Relevanz und Dauer. Eine Einordnung des Künstlers ins reale Leben wird dadurch überflüssig: So setzte zum Beispiel Hugo von Hofmannsthal seinen ästhetischen Narzissmus mit der Liebe zum Leben oder zu Gott gleich.10

Hinwendung zum Zionismus
Obwohl auch der junge Student Buber sich zum Dichter berufen fühlte, war eine Verortung seines Ich im künstlerischen Schaffen mangels Werken noch nicht möglich. Der junge Galizier nahm in Wien die unterschiedlichsten geistigen Anregungen auf. Neben seiner Freundschaft zu den Schriftstellern des “Jung-Wien”, Studium und Theaterbesuchen unterhielt er auch Kontakte zu sozialistischen polnischen Studenten, von denen er einige noch aus seiner Gymnasialzeit kannte. Ein Foto zeigt ihn als Couleurstudent mit einem Schwert in der Hand im Kreis Wiener jüdischer Studenten. Ahron Eliasberg, der Buber im Wintersemester 1897/98 in Leipzig kennen lernte, beschrieb den Neunzehnjährigen als überaus gebildet und intelligent, aber auch als guten Tänzer und begeisterten Ballbesucher. Wie er kritisierte, war Buber damals von der assimilierten großbürgerlichen Salonkultur geprägt und stand dem Judentum erschreckend ablehnend gegenüber.11 Diese Einschätzung war wohl durch die kritische Haltung des aus dem russischen Pinsk stammenden Studenten Eliasberg gegenüber den assimilierten deutschen Juden, die er mit seinem Freund Chaim Weizmann teilte,12 geprägt. Es gelang Eliasberg rasch, durch die gemeinsame Lektüre der „Welt“ Bubers Interesse an zionistischen Fragen zu erwecken. Alleine entdeckte Buber in Leipzig wieder seine Liebe zu den chassidischen Stiblach der galizischen Juden.13 Endgültig zum Zionismus bekehrt wurde Buber im Sommer 1898, als er in Lemberg Nathan Birnbaums „Jüdische Moderne“ las, an der ihn, wie er 1945 rückblickend schrieb, die Synthese zwischen der nationalen und der sozialen Idee im Judentum begeisterte.14 Dass gerade Birnbaums Zionismus Buber ansprach, hatte aber auch andere Gründe. Birnbaum war in Wien als Sohn traditioneller galizischer Eltern geboren worden und hatte 1882 den Akademischen Verein „Kadimah“, den ersten nationaljüdischen Studentenverein im Westen, mitbegründet. Birnbaum bezeichnete die Assimilationsbemühungen der Juden als gescheitert und daher würdelos und plädierte für die Rückkehr der Juden nach Palästina. Gleichzeitig trat er für einen kulturell geprägten jüdischen Nationalismus in der Diaspora ein. Obwohl Birnbaum sich in der „Jüdischen Moderne“ als Sozialdemokrat bezeichnete, warf er seiner Partei vor, in ihrer Nationalitätentheorie die kulturschöpferische Kraft der Nation zu vernachlässigen. Denn aufgrund seiner kulturellen Schöpferkraft besitze das jüdische Volk ein Recht auf nationale Anerkennung. Auch Buber interessierten am Zionismus zunächst vor allem kulturelle und künstlerische Fragen.
1899 gründete Buber zusammen mit Eliasberg in Leipzig eine zionistische Ortsgruppe und einen jüdischen Studentenverein, dem er auch vorstand. Am 6. Jänner 1899 lud er Herzl zu einem Vortrag ein und betonte in seinem Schreiben, dass der hohe Anteil an nicht assimilierten russischen und galizischen Juden Leipzig zu einem viel versprechenden Agitationsfeld für den Zionismus mache.15 Dieser Brief zeigt die Distanz, die Buber zum westlich assimilierten Judentum gewonnen hatte.

Jüdische oder österreichische Renaissance?
Obwohl Buber in den folgenden Jahren immer wieder in Wien lebte, fand er nie wirklich Anschluss an den Wiener Zionismus, der von Herzl dominiert streng „politisch“ ausgerichtet war. Buber und seine Freunde, der Russe Chaim Weizmann und der aus Mähren stammende Berthold Feiwel, strebten dem gegenüber eine jüdische Renaissance, also eine moderne zionistische Kulturbewegung, die es in Osteuropa bereits gab, auch für den Westen an. Trotz seiner ideologischen Wandlung war bei diesem zionistischem Engagement Bubers, das in den Jahren 1898–1904 einen erheblichen Teil seiner Kraft in Anspruch nahm, nach wie vor der Einfluss des Wiener Ästhetizismus wirksam. Bei seiner Rede vor dem Agitationsausschuss des 3. Zionistenkongresses 1899 forderte Buber:
„Die durch äußere Agitation Gewonnenen sollen nicht Zionisten sein, wie man konservativ oder liberal ist, sondern wie man Mensch oder wie man Künstler ist. Dies soll […] durch Pflege der jüdischen Kultur, durch Volkserziehung bewirkt werden.“16
Hans Kohn führt Bubers Vorstellung von der jüdischen Renaissance auf den Einfluss Nietzsches zurück, der „das Wesentliche der Kultur als einer allseitig zu lebenden und zu betätigenden Wirklichkeit erfasst“ habe.17 Bemerkenswert ist jedoch, dass sich zu dieser Zeit in Wien das große Projekt der kulturellen Erneuerung des Fin de Siècle entfaltete, dessen Erfolg Michael Pollack darauf zurückführt, dass es gesellschaftlich akzeptiert und staatlich als „Kulturpolitik“ gefördert wurde:
„Diese Konzentration künstlerischer Macht war Teil einer der letzten großen Bemühungen, das Reich vor allem durch eine aktive Kulturpolitik […] zu regenerieren. Diese Politik, die die Anlehnung der Künstler und Intellektuellen suchte, hatte ihren Beitrag zur Schaffung des legendären ,Wien 1900’ geleistet.“18
Den Schriftstellern sei dabei die Aufgabe zugefallen, „[d]urch die Erforschung der Psyche […] einen neuen Menschen zu schaffen und die österreichische Seele zu erfinden“.19 Im Sinn des vorherrschenden antirationalistischen Kulturpessimismus entdeckten sie den „österreichischen Geist“ im Barock, dem die deutsche Aufklärung künstlich übergestülpt worden sei. Dazu kamen literarische Vorbilder aus dem Vormärz, aber auch der Einfluss Nietzsches. Hermann Bahr, der Mentor des “Jung-Wien” sah Stifter „als den Schöpfer des neuen Menschen im ,Lodenstil’“. Denn: „Dank der völligen Beherrschung seiner Leidenschaften und Begierden verwirklichte der Idealmensch Stifter Nietzsches Ideal und überhebt sich jenseits von Gut und Böse über alle Gegensätze.“20 Der ideale Österreicher stand somit auch über den vorherrschenden sozialen und nationalen Konflikten, der „reine Ästhetizismus, der Ausdruck einer Formharmonie“ wurde „als Bedingung für das Überleben des multinationalen Österreich“ erkannt und löste gleichzeitig das Identitätsproblem der Künstler:
„Ohne die Dynamik des ,Jung-Wien’ in allen Bereichen der Kunst auf diesen Aspekt reduzieren zu können, kann man diese Bewegung auch als ein kollektives Unternehmen auffassen, das eine Identitätskrise durch die Wiederaufwertung des Status und des Prestiges des Künstlers zu überwinden erlaubt.“21
Auch die jüdischen Schriftsteller des “Jung-Wien” schlossen sich diesem kollektiven österreichpatriotischen, bzw. habsburgisch dynastischen, auf jeden Fall jedoch übernationalen Projekt der kulturellen Erneuerung an. Obwohl Richard Beer-Hoffmann ein praktizierender selbstbewusster Jude war und sich Arthur Schnitzler in Werken wie dem Roman „Der Weg ins Freie“ (1908) und der Komödie „Professor Bernhardi“ (1912) – die übrigens von der österreichischen Zensur verboten wurde und erst nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie in Österreich aufgeführt werden konnte – kritisch mit dem Antisemitismus befasste, war beider Bekenntnis zum Zionismus ambivalent. Denn die spielerische Selbstreflexion, der Ästhetizismus und das Bemühen um die kulturelle Regeneration der Schriftsteller des „Jung-Wien“ war vom Wissen des drohenden Zerfalls der Monarchie überschattet, eine Gefahr, die vor allem vom Nationalismus ausging.
Eine ganz ähnliche Kulturpolitik versuchte Buber innerhalb der zionistischen Organisation durchzusetzen. Als ihm Herzl 1901 die Redaktion des zionistischen Zentralorgans „Die Welt“ übertrug, plante Buber, darin die Werke junger jüdischer Literaten zu publizieren, um diese für den Zionismus zu gewinnen, „Die Welt“ sollte, wie er Herzl schrieb, „das Organ und die Centrale der jungjüdischen Geistes- und Kunstbewegung“22 werden. Diese Idee wie auch die von Buber geplanten jungjüdischen Abende entsprachen durchaus auch Herzls künstlerischem Geschmack. Dennoch war Bubers Karriere als Redakteur der „Welt“ nur kurz. Denn zusammen mit Berthold Feiwel, Chaim Weizmann, Ahron Eliasberg und anderen jungen Zionisten gründete Buber im Vorfeld des Zionistenkongresses von 1901 die Demokratische Fraktion, die vehement die Förderung einer säkularen zionistischen Kulturarbeit forderte. War „säkulare Kultur“ ein Reizwort für die orthodoxen Zionisten, so erregte die militante Opposition der jungen Hitzköpfe nicht nur den Zorn Herzls, sondern auch der Mehrheit der Zionisten.23 Dennoch gelang es den jungen Männern, mit dem ebenfalls 1901 gegründeten „Jüdischen Verlag“ ein Zentrum zur Förderung jüdisch-nationaler Kunst und Literatur zu schaffen. Es war jedoch kein Zufall, dass der Verlag in Berlin und nicht in Wien, wo das Interesse an einer zionistisch geprägten jüdischen Renaissance gering war, gegründet wurde. Aber auch die zionistische Organisation hatte weder die Mittel noch den Wunsch, dem Beispiel des österreichischen Staats zu folgen und jüdische Identität durch Kulturpolitik zu fördern.
Buber hingegen ließ von der Idee der jüdischen Renaissance nicht ab. Ebenso wie die österreichischen Schriftsteller suchte er nach einem historischen Vorbild für eine radikale Erneuerung des Judentums, das vom „fremden“ Geist der Aufklärung frei war. Er fand es im Chassidismus, an dem ihn nicht nur die ekstatisch-mythische Religiosität, in der er ein verschüttetes Urjudentum erkannte, sondern auch der Gemeinschaftssinn faszinierte.

Abkehr vom Ästhetizismus
Bubers erste zwei Sammlungen chassidischer Legenden zeigen seine schrittweise Abkehr vom Ästhetizismus des „Jung-Wien“. Entscheidend für diese Entwicklung war die Bekanntschaft mit dem Philosophen Gustav Landauer, der bis zu seiner Ermordung 1919 sein engster Freund wurde. Zunächst verband die beiden Männer ihr Interesse für christliche Mystik, bald auch für die Frage der Verantwortung der „Geistigen“ für eine Erneuerung der menschlichen Gesellschaft. Ausgangspunkt war auch hier die Selbstreflexion, aus der jedoch im Gegensatz zum Ästhetizismus des „Jung-Wien“ eine neue sozial-ethische Gesinnung entwickelt werden sollte, die an der Wirklichkeit bewährt werden musste.24 Genau darin lag auch Bubers „Erweckungserlebnis“ beim Lesen des „Zewaat Ribesh“, des Testaments des Baalschem, des Gründers des Chassidismus, der, wie er schrieb, „im Dunkel des Exils […] die Gottesebenbildlichkeit des Menschen als Tat, als Werden, als Aufgabe“ erfasst hatte. Dies galt ihm als Kern nicht nur der jüdischen, sondern jeder menschlichen Religiosität, fortan betrachtete er es als seinen „Beruf“, diese religiöse Lehre „der Welt zu verkünden“.25
Dennoch bearbeitete Buber zunächst „Die Geschichten des Rabbi Nachman“ und zeigte sich damit nach wie vor dem Ästhetizismus des Wiener Fin de Siècle verbunden. Dies zeigt deutlich der elegante neoromantische Stil, der viel zum großen Erfolg des Buchs beitrug. Aber auch Bubers Herangehensweise an das Legendenmaterial, die freie, spielerische Nachdichtung, zu der er sich als „Nachgeborener“ der Chassidim berechtigt, als Vermittler zwischen ihrem und dem Denken des modernen Europa berufen fühlte, weisen darauf hin. Darüber hinaus entspricht die Figur des Rabbi Nachman einem gängigen Topos der Literatur des “Jung-Wien”: Denn Rabbi Nachman ist ein Erzähler und damit ein Künstler. Er ist ein Künstler, der nach langem inneren Ringen eine erweckende Botschaft zu haben glaubt, mit der er den Chassidismus vor dem Niedergang bewahren will – und scheitert.26 Damit steht Buber ganz in der spielerischen Tradition des Wiener Ästhetizismus, hinter dem die Apokalypse lauert. Er drückte damit aber auch die Tragik der „Geistigen“ aus, deren Bemühen, die Welt zu verbessern, am Unverständnis und den sozialen Bedingungen ihrer Umwelt scheitert, ein Problem, das Gustav Landauer beschäftigte. Unter dem Einfluss Landauers wandelte sich Buber in den kommenden Jahren vom Wiener Ästheten zum Künder der Verpflichtung zur moralischen Tat in der widerstrebenden Wirklichkeit.27
In der „Legende des Baalschem“ (1908) bemühte sich Buber bereits um größere Quellentreue, ließ aber gleichzeitig persönliche ekstatische Erfahrungen einfließen. In einem Brief an Landauer zeigte er sich enttäuscht, „dass das Buch, in dem ein gutes Stück von meinem Leben steckt, viel weniger Verständnis gefunden zu haben scheint als der unvergleichlich literaturhaftere Nachman.“28 In späteren chassidischen Sammlungen, die erst nach dem Ersten Weltkrieg erschienen, fehlen die ekstatischen Elemente des „Baalschem“. Die Quellentreue ist größer, die Form knapper, nur der elegante Sprachstil ist erhalten.29

Zionistische Aktivitäten
In seiner Rede vor dem Zionistenkongress von 1899 forderte Buber unter anderem eine umfassende zionistische „Volkserziehung“, die neben Kultur und Wissenschaft Sport sowie berufliche Interessensvereine umfassen sollte. Buber und Feiwel prägten dafür 1901 den Begriff „Gegenwartsarbeit“.30 Diese war in der Weltorganisation nicht durchzusetzen. Daran war nicht in erster Linie das Konfliktpotential der Kulturdebatte schuld, sondern die programmatische Erweiterung zionistischer Agenden von reiner Palästinaarbeit auf die Lösung spezifischer Probleme der Diaspora. Viele Zionisten sahen darin eine Vergeudung wertvoller Kräfte und eine Verwässerung des Basler Programms, das die Rückkehr nach Palästina zum Ziel der zionistischen Organisation erklärt hatte.
Erfolgreicher waren Buber und Feiwel innerhalb des österreichischen Landesverbands. Die Österreicher standen vor dem Problem, ein Programm auszuarbeiten, das für die westösterreichischen, böhmischen und mährischen Zionisten ebenso akzeptabel war wie für die galizischen, unter denen Herzls rein politischer Zionismus und die damit verbundene Abkehr von Volkserziehung und Palästinakolonisation bereits zu Abspaltungen geführt hatte. Das von Buber und Feiwel ausgearbeitete Programm, das politischen Zionismus mit „Gegenwartsarbeit“ verband, ermöglichte die Einigung der österreichischen Zionisten.31
Größte Resonanz fand Bubers und Feiwels Kulturzionismus westlicher Prägung jedoch weder in Berlin noch in Wien, sondern in Prag. Nachdem Buber dort 1903 über „Die Jüdische Renaissance“ referiert hatte, wurde er zum Prager Delegierten beim Zionistenkongress nominiert.
1904 schloss Buber sein Doktorat ab, verließ endgültig Wien und zog sich von allen zionistischen Aktivitäten zurück. In den folgenden Jahren hielt Buber keine öffentlichen Reden, sondern widmete sich seiner Berufsarbeit als Verlagslektor,32 seinen Studien über mystische Strömungen und dem Schreiben. Mit den „Geschichten des Rabbi Nachman“ und der „Legende des Baalschem“ machte er sich bald einen Namen als Interpret des Judentums und als deutscher Literat.
1909 folgte Buber neuerlich einer Einladung nach Prag, wo er anlässlich des Festabends zum zehnjährigen Bestehen des „Vereins jüdischer Hochschüler Bar Kochba“ eine Rede zu dem Thema hielt: „Wie setzt sich selbst bei den Westjuden gerade der Rest des jüdischen Wesens in Eigenes um, wie gibt gerade diese Note dem jüdischen Dichter den eigenen Kulturwert?“33 Als zweiter Festredner war der Wiener Schriftsteller Felix Salten eingeladen worden, der „über die Wert- und Wurzellosigkeit der jüdischen Gesellschaft in der Großstadt“ sprach.34 Während Salten der jüdischen Gesellschaft im gängigen zionistischen Stil „Dekadence“ und „Unfruchtbarkeit“ vorwarf, erwarteten sich die Prager Studenten von Buber, wie es in ihrem Einladungsschreiben an ihn hieß, Erläuterungen über den „Sinn des Judentums“. Buber fand in den Prager zionistischen Studenten ein kongeniales Publikum. Mit seinen „Reden über das Judentum“, die er in den Jahren 1909–1913 in Prag hielt, kehrte Buber neuerlich in die zionistische Politik zurück, ohne erneut Mitglied der zionistischen Organisation zu werden. In den Vorträgen und im persönlichen Gespräch entwickelte Buber eine subjektivistisch-psychologisierende Deutung des Judentums sowie einen ethisch-menschheitlichen Auftrag für die Juden, welcher die Rückkehr nach Erez Israel rechtfertigte. In ihrer publizierten Form35 beeinflussten die „Reden“ eine Generation jüdischer Jugend Mitteleuropas.
Buber hielt seine Reden zum Teil auch in Wien, wo er auf wesentlich weniger Zustimmung stieß als in Prag. Denn die jüdischen Intellektuellen und Künstler, die am ehesten für seinen ethisch-psychologisierenden Kulturzionismus zu gewinnen gewesen wären, zogen ihre habsburgtreue, übernationale und staatstragende Synthese zwischen Judentum und österreichischer Kultur dem Zionismus vor. Die Prager Studenten hingegen fühlten sich zwischen dem deutsch-tschechischen Nationalitätenkonflikt zerrieben, der jüdische Nationalismus, noch dazu in der universalistischen Form Bubers, ermöglichte es ihnen, eine neutrale Position einzunehmen. Die Wiener Zionisten waren einerseits „politisch“ im Sinn Herzls, andererseits war ihr national-jüdisches Bekenntnis eine Antwort auf den virulenten Antisemitismus. Zionismus bedeutete für sie vor allem die Verteidigung der jüdischen Ehre, die unter den Studenten durchaus militante Formen annahm. So erreichte die zunächst als Kulturverein gegründete „Kadimah“ erst dann regen Zulauf, als sie eine schlagende Burschenschaft geworden war. Wie Arthur Schnitzlers Autobiographie „Jugend in Wien“ zeigt, war diese kämpferische Verteidigung der jüdischen Würde auch für nichtzionistische Studenten eine Selbstverständlichkeit.36 Für eine Suche nach dem „Sinn des Judentums“ oder eine universalistische Aufgabe der Juden zur Rechtfertigung des zionistischen Anspruchs auf Palästina bestand hier nur wenig Interesse.
Die Distanz zwischen Buber und den mit dem Zionismus kokettierenden Wiener Literaten vergrößerte sich, als Buber 1916–1924 die zionistische Kulturzeitschrift „Der Jude“ herausgab. In der Vorbereitungsphase wandte sich Buber an Richard Beer-Hofmann, Jakob Wassermann und Arthur Schnitzler mit dem Ersuchen um eine offene Sympathieerklärung für die polnischen und russischen Juden, die von den Kriegsereignissen schwer getroffen und als Flüchtlinge im Hinterland mit offenem Antisemitismus konfrontiert waren.37 Doch die Wiener Schriftsteller waren zu einer publizistischen Solidarisierung mit den Ostjuden nicht bereit. Stefan Zweig riet Buber stattdessen zu einer Enquete über die Einstellung der jüdischen Literaten zu ihrem Judentum, was diesem jedoch zu unverbindlich war.38 Auch eine Teilveröffentlichung von Zweigs Drama „Jeremias“ (1917) lehnte Buber ab. Denn Zweig pries hier – im Gegensatz zur zionistischen Ideologie – die pazifistische Diasporatradition und Leidensfähigkeit des jüdischen Volks sowie die übernationale Mission des Judentums. Doch auch der Zionist Richard-Beer Hofmann stieß mit seinem Drama „Jakobs Traum“ (1919) im „Juden“ auf Kritik. Hugo Bergmann bezeichnete seine Idealisierung der jüdischen Leidensfähigkeit als „paulinisches Gift“,39 Arnold Zweig erklärte sein stilistisches und inhaltliches Harmoniestreben für neoromantisch antiquiert.40 Dass Beer-Hofmann hier das österreichische Ideal des Ausgleichs der Gegensätze auf das Judentum übertragen hatte, entging seinen Kritikern.
Außer Adolf Böhm gehörten die Wiener Mitarbeiter des „Juden“ weder zum jüdischen noch zum zionistischen Establishment. Der Pädagoge und Analytiker Siegfried Bernfeld hatte sich überhaupt erst während des Ersten Weltkriegs dem Zionismus und insbesondere der jüdischen Sozialhilfe für Kriegsflüchtlinge aus Galizien und der Bukowina zugewandt. Bald wurde Bernfeld auch der Mentor der Wiener zionistischen Jugendbewegung und insbesondere des von galizischen Jugendlichen nach Wien gebrachten, links-zionistischen „Haschomer Hazair“,41 der bald zur größten Jugendgruppe avancierte. Die Verelendung und der Verlust des traditionellen Umfelds führte bei den Jugendlichen häufig zu einer Entfremdung von der Familie, welche die zum Teil schon in der Heimat begonnene Rebellion gegen das gesetzestreue Judentum verstärkte. Der Antisemitismus in der Schule und auf der Straße machte die Jugendbewegung zum einzigen Ort der Geborgenheit.42 Die „Schomrim“ waren intellektuell orientiert,43 weshalb der von Buber beeinflusste Zionismus Bernfelds bei ihnen zunächst großen Anklang fand. Mit der Balfour-Deklaration (1917) und dem absehbaren Kriegsende setzte jedoch gerade unter den jugendlichen Kriegsflüchtlingen ein Umdenken ein. Die Rückkehr nach Palästina und damit die Befreiung aus dem Wiener Elend waren in greifbare Nähe gerückt. Ihr Interesse an jüdischer Kulturarbeit nahm dramatisch ab, an ihre Stelle trat die Hebraisierung und die berufliche Umschichtung, also die praktische Vorbereitung auf ein Pionierleben in Palästina.
Das geistige Abrücken von ihren Mentoren Buber und Bernfeld kam am Ersten österreichischen Jugendtag, der zwischen dem 18. und dem 20. Mai 1918 in Wien stattfand, klar zum Ausdruck. Buber warnte die Jugendlichen, dass eine Rückkehr nach Erez Israel im richtigen Geist, also gemäß einer Sozialutopie, die er in der Lehre der Propheten und im Chassidismus erkannt hatte, erfolgen müsse, sonst sei sie zum Scheitern verurteilt, da die Pioniere nicht ihrer jüdischen Mission gerecht würden.44 Die Reaktion der Jugendlichen zeigte jedoch, dass ihnen ethische und philosophische Reflexion verbunden mit jüdischem Lernen nicht mehr als passende Vorbereitung für ein Pionierleben in Palästina erschienen.
Die Stärke des „Haschomer Hazair“ darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Wiener Zionismus von Robert Stricker dominiert war und mehrheitlich rechts vom zionistischen Mainstream stand. Für Anhänger Bubers war hier kein Platz. Der Buber ideologisch nahe stehende Prager Zionist Robert Weltsch versuchte nach dem Ersten Weltkrieg, in Wien Fuß zu fassen, und scheiterte an den Interventionen Strickers.45 Weltsch übernahm 1919 die Redaktion der „Jüdischen Rundschau“, des Zentralorgans der ZVfD, das er bis 1938 leitete und zu einer führenden deutsch-jüdischen Publikation machte. Auch Siegfried Bernfelds Versuch, ein reformpädagogisches Heim für ostjüdische Kriegswaisen in Wien zu etablieren, scheiterte nach wenigen Monaten an Konflikten zwischen den Erzieher/innen und der bürgerlich-zionistischen Administration.46 Bernfeld zog sich nach einem Intermezzo als Sekretär Bubers in Heppenheim 1922 vom aktiven Zionismus zurück und widmete sich der Psychoanalyse, der psychoanalytischen Pädagogik und dem Marxismus.
Der erfolgreichste Buberianer in Wien war Viktor Kellner, ehemals einer der führenden Köpfe des Bar Kochba. Er leitete das 1919 vom Jüdischen Nationalrat in Wien mit der Unterstützung des Wiener Oberrabbiners Zwi Perez Chajes gegründete jüdische Realgymnasium.
Nach dem Ersten Weltkrieg wandte sich Buber endgültig dem deutschen Judentum und dessen kultureller Renaissance zu und wurde deutscher Staatsbürger.

1 Hans Kohn, Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte Mitteleuropas 1880–1930, 4. um ein Vorwort erweiterte Auflage, Wiesbaden 1979, S. 20.
2 Vorwort. In: Grete Schaeder (Hg.), Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, 3 Bde., Heidelberg 1973, 1. Bd., S. 28.
3 Maurice Friedman, Martin Buber’s Life and Work. The Early Years 1878–1923, London und Turnbridge Wells 1982, S. 3 f.
4 Leipzig 1906.
5 Schaeder, Vorwort. In: Buber, Briefwechsel 1, S. 27 f.
6 Kohn, Leben und Werk, S. 17.
7 Friedman, Early Years, S. 6 f.
8 Kohn, Leben und Werk, S. 18.
9 Friedmann, Early, Years, S. 22.
10 Michael Pollack, Wien 1900. Eine verletzte Identität, Konstanz 1997, S. 179–185.
11 Friedmann, Early Years, S. 14, S. 24, S. 37.
12 Chaim Weizmann, Memoiren. Das Werden des Staates Israel, London 1951, S. 54.
13 Friedman, Early Years, S. 37.
14 Zitiert in: ebenda, S. 37 f.
15 Brief Martin Bubers an Theodor Herzl, 6. 1. 1899. In: Buber, Briefwechsel 1, S. 146.
16 Kohn, Leben und Werk, S. 27.
17 Kohn, Leben und Werk, S. 27 f.
18 Pollack. Wien 1900, S 191.
19 Ebenda, S. 193.
20 Ebenda, S. 195.
21 Ebenda, S. 198.
22 Brief Martin Bubers an Theodor Herzl, 11. 8. 1901. In: Buber, Briefwechsel 1, S. 161.
23 Michael Berkowitz, Zionist Culture and West European Jewry before the First Worl War, Cambridge 1993, S. 91 f.
24 Mendes-Flohr Paul, Nationalism as a Spiritual Sensibility: The Philosophical Suppositions of Buber’s Hebrew Humanism. In: The Journal of Religion, 69. Bd., Nr. 2 (April 1989), S. 155–168.
25 Martin Buber, Mein Weg zum Chassidismus, Frankfurt/Main 1917, S. 18 f.
26 Martin Buber. Rabbi Nachman von Bratzlaw. In Die Geschichten des Rabbi Nachman, Leipzig 1906, S. 20–32.
27 Vgl.: Paul Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog. Martin Bubers Entwicklung bis hin zu „Ich und Du“, Königsstein/Ts 1979, S. 13–14 sowie S. 135–164.
28 Brief Martin Bubers an Gustav Landauer, 11. 9. 1908. In: Buber, Briefwechsel 1, S. 265.
29 Der heilige Weg, Frankfurt/Main 1919; Der große Maggid und seine Nachfolge, Frankfurt/Main 1922.
30 Adolf Böhm, Die zionistische Bewegung, Bd. 1, Tel Aviv 1935, S. 204.
31 Adolf Gaisbauer, Davidstern und Doppeladler. Zionismus und jüdischer Nationalismus in Österreich 1882–1918, Wien 1988, S. 98.
32 Von 1906–1915 gab Buber für den Verlag Rütten & Loening die sozialpsychologische Schriftenreihe „Die Gesellschaft“ heraus.
33 Brief Leo Herrmanns an Martin Buber, 14. 11. 1908. In: Buber, Briefwechsel 1, S. 268 f.
34 Ebenda., S. 269.
35 Martin Buber, Die frühen Reden (1909–1919). In: Martin Buber, Der Jude und sein Judentum, Köln 1963, S. 4–143.
36 Arthur Schnitzler, Jugend in Wien. Eine Autobiographie, Wien, München, Zürich 1968, S. 154–156.
37 Briefe Martin Bubers an Richard Beer-Hofmann, 8. 11. 1915; Jakob Wassermann, 8. 11. 1915; Arthur Schnitzler, 11.11.1915; alle: Zionistisches Zentralarchiv, Jerusalem, Z3/1137.
38 Brief Stefan Zweigs an Martin Buber, 8. 5. 1916. In: Buber, Briefwechsel 1, S. 430 f.
39 Hugo Bergmann, Jaakobs Traum. In: Der Jude 1919/1920, S. 418–419.
40 Arnold Zweig, Zu Jaakobs Traum. In: Ebenda, S. 420–425.
41 Hebr.: der junge Wächter.
42 Vgl. Manés Sperber, Die Wasserträger Gottes, München 1978.
43 Angelika Jensen, Sei stark und Mutig! Chasak we’emaz! 40 Jahre jüdische Jugendbewegung am Beispiel der Bewegung Haschomer Hazair 1903–1943, Wien 1995, S. 73.
44 Martin Buber, Zion und die Jugend. In: Der Jude 1918/19, S. 99–106.
45 David Rechter, The Jews of Vienna and the First World War, London und Portland, Orgeon, 2001, S. 171 f.
46 Siegfried Bernfeld, Kinderheim Baumgarten. Bericht über einen ernsthaften Versuch mit neuer Erziehung, Berlin 1921; Willi Hoffer, Siegfried Bernfeld and „Jerubbaal“. An Episode in the Jewish Youth Movement, Leo Baeck Institute Year Book X (1965), S. 162–167.

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