Tradition und Assimilation eines der klassischen Themen der
jüdischen Geschichte ist bereits so alt wie das Judentum selbst. Es zieht sich
von den biblischen Fleischtöpfen Ägyptens" über die Probleme von Deutschtum
und Judentum" der vorletzten Jahrhundertwende bis zur Gegenwart. Weniger bekannt
ist, dass es diese Auseinandersetzungen auch im italienischen Judentum der
Renaissance gegeben hatte. Wie reagierte das italienische Judentum auf die
aufblühende Kultur der Renaissance? Überhaupt nicht? Stellt sie die eigene
Tradition bis hin zur völligen Assimilierung in Frage oder kommt es zu einer
fruchtbaren Entwicklung wie im islamischen Spanien?
Das italienische Judentum ist uralt, es gibt Spuren bereits
seit der Römerzeit. Es gab immer wieder jüdische Ansiedlungen allerdings stets
kleine. Ab dem 13. und 14. Jahrhundert sollte das anders werden. Wie bekannt,
hatte die Kirche zu jener Zeit begonnen, Christen die Geldwirtschaft zu
verbieten. Juden war der Zutritt zu Handwerkszünften verwehrt und man überließ
ihnen den leidigen Geldverleih. So kam es, dass einzelne italienische
Stadtstaaten einzelne jüdische Geldverleiher einluden. Diese bekamen eine
bestimmte Aufenthaltsgenehmigung (condotta) und zogen andere Juden, teils aus
familiären Gründen, nach. So entstanden in Ancona, Urbino, Perugia, Padua,
Bologna oder Milano kleine jüdische Gemeinden, die von der Machtposition der
Geldverleiher am Hof abhingen. Diese Geldverleiher waren oft nicht nur
Finanzmenschen, sondern auch Gelehrte, Ärzte, Astrologen, Astronomen,
Philosophen oder Kabbalisten. Waren sie es nicht, wurden sie manchmal zu
Mäzenen, die Gelehrte finanziell unterstützten.
Die condotta war ein regelrechter Vertrag, durch den
sich der Geldverleiher zu gewissen Vorschriften verpflichtete, doch auch
wichtige Sonderrechte bekam, beispielsweise das Bürgerrecht, einen Wohnsitz und
Zollfreiheit. Dieselbe Condotta wurde zwar maximal für eine bis zwei Personen
erstellt, die als Inhaber der banchi fungierten, doch die Begünstigungen
erstreckten sich auch auf deren Familienmitglieder, Mitarbeiter und sonstige mit
dem jeweiligen banco und dessen Aktivität in Verbindung stehenden
Personen.
Viele waren es, die sich dem medizinischen Studium mit großem
Erfolg widmeten. Die Kenntnisse einiger der jüdischen Ärzte erstreckten sich
weit über die Medizin hinaus in Bereiche wie die Philosophie, die Dichtung, die
Literatur und die Sprachen. Sie könnten bereits als Vorreiter des für die
Renaissance so typischen "universalen Menschen" bezeichnet werden.
Ab dem 15. Jahrhundert begannen die Gemeinden trotz
kirchlicher antijüdischer Propaganda und Verfolgungen dennoch zu wachsen. Dies
hing natürlich auch mit der Vertreibung der Juden in Spanien zusammen. Aber die
Blüte des jüdisch-spanischen Mittelalters endete nicht mit der Vertreibung. Ihre
Erben waren die Vertreter der Kultur der italienischen Juden zur Zeit der
Renaissance, die sozusagen den Epilog dieser Epoche bildet. Was war die
Renaissance des 15. Jahrhunderts? Es war eine Wiedergeburt der Ideale der
Antike. Das Christentum schüttelte die Ketten der mittelalterlichen Askese und
Scholastik ab. Es befreite sich von der kirchlichen Überwachung, von den Idealen
der Sündlosigkeit und Heiligkeit, und schaute zurück auf die Kultur der Griechen
und Römer. Diese vorchristliche Welt sollte das Modell der Renaissance sein. Der
Renaissance-Mensch beginnt sein ich" zu entdecken, seine Freiheit und
Unabhängigkeit, seine Individualität, sein Selbstbewusstsein und seinen freien
Willen. Der Humanismus schaute auf den Menschen, nicht auf seine Herkunft, seine
Klasse. So hatten die Juden oft viel größere Freiheiten als anderswo. In den
italienischen Universitäten studierten Juden Naturwissenschaften, Astronomie und
Medizin. Unter Leo X. (Giovanni de Medici) als Papst, lebten die Juden Roms so
friedlich, dass sie nach Jerusalem schrieben, ob es schon Zeichen dafür gegeben
hätte, dass die messianische Ära bereits begonnen habe. Natürlich waren die
Bedingungen, unter denen Juden lebten, von Stadt zu Stadt verschieden. In der
Renaissance wurden die pantheistischen Ideale der Antike, die Vielzahl der
Götter und die Kraft und Schönheit der Körper wieder entdeckt. Wie wirkte wohl
die Sixtinische Kapelle des Michelangelo, wo Gott dargestellt ist, der Adam
schafft auf Juden? Attilio Milano spricht in seinem Buch Storia degli ebrei
in Italia vom "ebreo italiano del Rinascimento" (S.160-61) und meint damit
einen bestimmten italienischen Judentypus, dessen charakteristische Züge vor
allem die des Renaissance-Menschen waren.
Frühe Erforschungen der Juden in der Renaissance (wie Cecil
Roth) sind trotz ihres durchaus lesenswerten Stils als überholt zu betrachten -
neuere Erforschungen haben Robert Bonfil oder David Ruderman vorgelegt. Roth sah
in der jüdischen Renaissancekultur eine Imitation der christlichen Umwelt. Juden
schufen natürlich in Genren, die typisch für die Renaissance waren: Geschichte,
Rhetorik, Biographie und Poetik, und bisher im Judentum vorherrschende
literarische Gattungen, wie Auslegung, Predigt, Grammatik und Poetik wurden
humanistisch modifiziert. Roth schrieb, Wi es kristelt sich, azoi yidelt sich"-
so wie es der Nichtjude macht, so macht es der Jude nach. Das riecht ein wenig
nach frömmelnder Überheblichkeit. Die jüdische Kultur der Renaissance war ein
fruchtbares Aufnehmen von ganz bestimmten Werten unter einer bestimmten Auswahl.
Die Juden übernahmen nicht das humanistische Weisheitsideal der Griechen und
Römer. Ihnen wurde bewusst, als sie in ihre eigene Vergangenheit schauten, dass
sie selbst eine Weisheit, eine Sprache und Literatur besaßen, die älter als die
der Griechen und Römer war. Um gerade zu vermeiden, die fremden Völker
nachzuahmen, versuchten sie zu beweisen, dass in ihren Quellen bereist die
humanistischen Ideale und Weisheiten existierten und diese die Griechen und
Römer beeinflusst hatten. Sie schrieben Werke zu Grammatik, Rhetorik, Poetik,
Geschichte und politischer Philosophie auf hebräisch oder italienisch, indem sie
biblische Modelle anstatt der griechisch-römischen heranzogen. Es entstand eine
Öffnung zu einer Welt, die sich im Aufbruch befand - keine Assimilation. Es war
vielmehr eine Teilnahme an der Renaissance mit ihrer Betonung der freien
Forschung.
Der Arzt Mose di Rieti (1388-1460) schrieb eine Art
hebräische Divina Comedia" und Jehuda ben Issak Arbabanel (Leone ebreo,
1460-1523) schuf mit den Dialoghi di amore" ein wichtiges Stück
Renaissance-Philosophie. Es geht um die Liebe. Das Wichtigste ist nicht der
Besitz, sondern der Genuss des Schönen und Guten, was durch den Geliebten
verkörpert wird.
Yehuda Messer Leon (1420-1490), ein Arzt und Lehrer, der in
Padua, Mantua und Neapel lebte, hatte Rhetorik studiert und versuchte diese in
der Bibel zu entdecken. Er kam zum Schluss, dass alle Lehren der Rhetorik dort
zu finden sind, ja, dass diese die Quelle der Rhetorik sei. Früher hatte man im
Judentum das Studium der Geschichte als Zeitverschwendung betrachtet. Gleich ob
man Talmudist, Philosoph oder Kabbalist war - alle lehnten Geschichte ab. Nun
wurden allein im 16. Jahrhundert rund ein Dutzend historischer Arbeiten
verfasst. Dies zeigt eine bedeutende Veränderung an, die auf humanistisches
Gedankengut zurückgeht. Man sollte in die Geschichte zurückgehen, um auszuwählen
und zu studieren, um daraus für die Gegenwart zu lernen, wie es der erste
jüdische Historiker seit Flavius Josephus, Azariah de Rossi (1511-1578),
unternahm. Rossis Meor Enajim" (Erleuchtung der Augen) von 1573 handelt von
vielerlei Themen, wie von Philo oder der Septuaginta. Imrei Binah"
(Worte der Vernunft) war ein revolutionäres Werk, in der er u.a. die Bibel und
die jüdische Chronologie untersuchte. Er bewies, dass der antike" Jossipon ein
Werk des Mittelalters war. Auch zeigte er, dass die Zeitrechnung seit
Erschaffung der Welt" erst im Mittelalter eingeführt wurde und dass weder in
Bibel noch im Talmud ein Kalender seit Erschaffung der Welt" erwähnt wird.
Rossi arbeitete als historisch-kritischer Denker und verglich rabbinische
Traditionen mit profaner Literatur als Kontrollinstanz. Sein Werk wurde
natürlich heftig bekämpft, Josef Karo erließ sogar ein Dekret, dass man das Buch
verbrennen müsse Karo starb jedoch vorher. So wurde beschlossen, dass man es
erst ab 25 lesen durfte. Die Haskala entdeckte es zum Glück wieder und ließ es
1794 neu drucken.
Erst die Renaissance, die den Menschen ins Zentrum rückte,
machte eine literarische Gattung wie die Biographie möglich. Leone (Jehuda Arie)
Modena (1571-1648) aus Venedig war Dichter, Prediger, Musiker, Astrologe,
Alchemist und Spieler. Zu seinen Lebzeiten sank der Zenit der Renaissance und
der jüdischen Kultur in Italien und die Zeit des Ghettos begann (bis 1800).
Während der Gegenreformation wird die völlige Trennung der Christen von anderen
schädlichen" religiösen Einflüssen gefordert. 1516 wird das Ghetto von Venedig
errichtet.
Sein Chajje Jehuda" (Das Leben Jehudas) ist eine offene
Autobiographie über gescheiterte Liebe und gescheiterte Berufe,
Spielleidenschaft etc. Er sagte darin von sich, dass er nicht zu den Gefärbten
und Zweideutigen gehörte, und dass er nie anders dachte, als er sprach."
1593 begann seine berühmte Karriere als Prediger in der
Deutschen Schul" des Ghettos. Sein charismatischer Stil und seine
Redegewandtheit bewirkten, dass auch venezianische Adlige, Botschafter, Priester
und Mönche kamen, um ihn zu hören. Auf der einen Seite machte er eine geachtete
Karriere und wurde Leiter der Jeschiwa - auf der anderen Seite verfiel er
zunehmend der Spielsucht. Den Fehler suchte er aber nicht nur bei sich, sondern
auch in den Planetenkonstellationen bei seiner Geburt. Sein Sohn Marco
(Mordechai) hatte zusammen mit seinem Vater 1615 ein alchemistisches
Laboratorium eingerichtet, in dem sie versuchten, aus neun Unzen Blei und einer
Unze Silber, zehn Unzen Silber herzustellen. Bedingt durch den ungeschickten
Umgang mit Arsen und anderen Materialien, erkrankte Marco und starb zwei Jahre
später mit 26. Sein anderer Sohn Marino (Sebulon) wurde das Opfer seines etwas
zwielichtigen Umgangs. Widersacher lockten ihn 1622 in einen Hinterhalt und
ermordeten ihn. Modenas Frau starb 1641 im Wahnsinn. Er nannte die Ehe einen
Mühlstein, der dem Menschen um den Hals gehängt wird, um ihn nieder zu reißen.
Was ist der Sinn des Lebens nach Modena? Um dem Schöpfer Scherz und Kurzweil zu
bescheren. Modena verfiel übrigens nicht der damals sehr in Mode gekommenen
Kabbala, wie seine Schrift Ari Nohem" (Brüllen des Löwen) zeigt. Es ist eine
anti-kabbalistische Schrift, in der er zeigt, dass der Sohar" aus dem 13.
Jahrhundert stammt. Noch vor der modernen Kabbalaerforschung war Modena der
Erste, der das bereits bewiesen hatte. Auch schrieb er in Ben David" gegen die
Seelenwanderung. Daneben war Modena ständig in Spielschulden verstrickt. Während
der triumphale Prediger Modena die Zuhörer bewegte und abends am Spieltisch saß,
hatte die jüdische Gemeinde 1629 eine Bannschrift gegen das Spielen entworfen.
Modena war sichtlich getroffen. Er stellte in Frage, dass 71 Ratsmitglieder das
Recht hätten, 2000 Menschen mit dem Bann zu bedrohen. Mit dieser Polemik gegen
den Bann wird er zum Vorläufer Moses Mendelssohns. Modena verfasste auch eine
Sammlung von jüdischen Riten und Gebräuchen auf Wunsch des englischen
Botschafters Sir Heny Wotton. Diese Historia de Riti Hebraici" (1617)
wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Als der talentierte Gelehrte schwer
erkrankte, verfasste er nicht nur seinen letzten Willen, sondern auch gleich
einen schlichten Vers für seinen eigenen Grabstein. Er starb im März 1648. Eine
Liste seiner Besitztümer überlebte die Jahrhunderte und wurde veröffentlicht.
Sie zeigt die Vielseitigkeit Modenas, unter dessen Büchern wir zahlreiche
rabbinische und kabbalistische Texte finden, aber auch Boccaccios Decameron.
Erst 150 Jahre später, im Berlin der Haskala, sollte es eine ähnlich fruchtbare
Verbindung zwischen Aufklärung und Tradition wieder geben.