„Wozu bleiben, wenn alle gehen?" –
Die Buchara-Juden von Samarkand
Edda SCHLAGER
Noch vor einhundert Jahren lebten
mehr als 20.000 Juden im usbekischen Samarkand. Ihr Stadtviertel, die Machallah
Wostok, war die größte Gemeinde der so genannten Buchara-Juden. Doch wo einst
Handel und Handwerk florierten, bleiben heute nur die Alten zurück. Fast alle
Juden haben die Stadt verlassen. Die Machallah wird derzeit von Tadschiken
bewohnt.
Samarkand Als sich Jessew Tinjajew und Isaac Perez im Hof
der Synagoge an der Khudjumskaya-Straße begegnen, verbergen sie ihre
gegenseitige Skepsis kaum. Tinjajew, 51 Jahre alt, hat eine Gartenschere in der
Hand, einen Eimer in der anderen. Der Wein, der sich zum Dach der Synagoge empor
rankt, ist reif und muss heute geerntet werden. Der junge Isaac trägt Bart und
Hut der Orthodoxen und ein Portrait von Menachem Mendel Schneerson an der Brust.
Der eine, Tinjajew, hat fahle Wangen und wirkt müde, der andere ist aus Haifa
gekommen, um Chabad Lubavitchs Lehre weiterzutragen. Tinjajew weiß, dass der
Junge kaum Zuhörer finden wird.
Unter der hellblauen Kuppel in der Gumbaz-Synagoge
Jessew Tinjajew ist Hauswart in der Gumbaz-Synagoge in
Samarkand. Er hat schon viele Gäste kommen sehen. Doch noch mehr seiner
Landsleute sah er gehen. Die alte Synagoge sei einst eine von vielen gewesen in
der Stadt, erzählt Tinjajew. Heute ist sie letzte Zeugin eines Exodus, der
zurück ins Heilige Land führt, in die neue Welt oder nach Europa, Hauptsache weg
von hier. Das sagt Tinjajew nicht. Doch dass es so ist, spürt man an jeder Ecke
des alten jüdischen Viertels in Samarkand, der Mahalla-i-Yahudion oder
Machallah Wostok wie die Einheimischen sagen.
Samarkand, das ist die mehr als 2.000 Jahre alte Perle" an
der Seidenstraße. Hier erzählte Scheherezade ihre Geschichten aus
tausendundeiner Nacht. Hier stehen noch immer die Medressen von Ulugkbek,
Shirdar und Tella Khari rund um den Registan. Vom schönsten Platz des alten
Samarkand ist es nur einen Steinwurf weit bis zur jüdischen Machallah. Wenige
der Touristen wissen, dass sie ihr Bed & Breakfast an einem traditionsreichen
Ort der jüdischen Diaspora gebucht haben.
Mit fast 20.000 Juden war Samarkand vor 150 Jahren die größte
jüdische Gemeinde der Region neben Buchara, das den Juden Zentralasiens ihren
Namen gab. Buchara-Juden, so nennen sich die meisten Juden Usbekistans und
Tadschikistans noch immer, Obwohl", so sagt Philologe Izohor Aminuw, viele von
uns Buchara nie im Leben gesehen haben".
Traditioneller Innenhof in der Machallah Wostok.
Wann genau die Vorfahren der heutigen Buchara-Juden nach
Zentralasien kamen, ist nicht ganz geklärt. Es heißt, dass sie aus der
babylonischen Gefangenschaft im achten Jahrhundert vor der Zeitenwende nicht
zurückkehrten. Stattdessen zogen sie über Persien nach Zentralasien, wo sie sich
im Gebiet zwischen dem heutigen Kasachstan und Tadschikistan niederließen. Den
Namen erhielten sie erst durch die Emire von Buchara, deren Reich um 1600
entstand und bis zur russischen Annexion vor knapp einhundert Jahren bestehen
blieb.
Die Buchara-Juden gelten als eine der ältesten ethnischen
Gruppen in Zentralasien. Mehr als 2.000 Jahre waren sie vom Rest der jüdischen
Welt nahezu abgeschnitten, den Einflüssen von Persern, Arabern oder Türken
ausgesetzt. Sie erlebten die Herrschaft von Alexander, dem Großen, Dschinghis
Khan und Timur, dem Lahmen, zeitweise verfolgt, seltener protegiert. Sie
entwickelten eine eigene Kultur, die durch das islamische Umfeld geprägt wurde
so wie das Leben in den Machallahs. Diese in Usbekistan im Mittelalter
entstandenen Viertel sind ein eigener Kosmos aus schmalen Gassen, kleinen,
schattigen Plätzen und hinter Mauern versteckten Innenhöfen. Sie sind auch eine
besondere Form der Nachbarschaft. Bis heute werden in den Machallahs offizielle
Vertreter gewählt, um das Leben in der Gemeinschaft zu organisieren.
Blick vom historischen Registan-Platz über die jüdische
Machallah Wostok
Philologe Aminuw wohnt am Rande der Machallah Wostok. Der
60jährige kennt jede Gasse des verwinkelten Viertels, in dem eilige Händler mit
ihren Karren den Staub aufwirbeln, wo rotznasige Kinder im Schatten der Mauern
spielen, wo man heute fast ausschließlich Tadschikisch spricht, und nur ganz
selten noch Buchari.
Buchari, das ist unsere Sprache. Wie Jiddisch dem Deutschen
ähnelt es dem Tadschikischen," erläutert Aminuw. Die Sprache der Buchara-Juden
entstand als ein Dialekt des Persischen und ermöglichte den Juden die
Kommunikation mit den Nachbarn, verbarg jedoch nie die hebräischen Wurzeln.
Dichter schrieben und Sänger sangen auf Buchari, in Synagogen und Schulen sprach
man es ohnehin.
Aber wer braucht die Sprache heute noch?", fragt Aminuw.
Nur 50 von uns sind hier geblieben." 50 von mehr als 10.000 Juden, die in
dieser einst größten jüdischen Machallah lebten, nirgendwo sonst in Zentralasien
gab es ein vergleichbares Stadtviertel. Heute gehört die Machallah den
Tadschiken. Selbst eine Minderheit in Usbekistan, übernahmen sie, was die
früheren Bewohner zurückließen.
Es sind immer die gleichen Motive, weshalb die Leute gehen,"
sagt Markiel Fasilow, schwierige ökonomische Verhältnisse und fehlende
Perspektiven." Fasilow ist Präsident der Buchara-Juden in Samarkand und
beobachtet das Schrumpfen der Gemeinde seit Jahren. Ganze 500 Juden, je zur
Hälfte bucharische und aschkenasische Juden, leben heute noch in der Stadt. Die
meisten waren nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ausgewandert. Mittlerweile hat
jede Familie Verwandte im Ausland und eine Möglichkeit hinterherzuziehen.
Dennoch gibt Fasilow seit 1992 die Zeitung Schofar"
(Rufhorn) heraus. Das monatlich erscheinende Blatt ist so etwas wie seine
persönliche Kampfansage gegen das Verschwinden der Juden aus der Stadt. Manchmal
füllen die Todesanzeigen eine ganze Seite. Und Fasilow ist stets informiert, wer
wieder ein Visum erhalten hat. Wir haben in Zentralasien das Patriarchat. Viele
Auswanderer unterschätzen die psychologischen Probleme, die sich in der neuen
Heimat daraus ergeben können," fasst der Journalist zusammen, was er von
ehemaligen Gemeindemitgliedern zu hören bekommt. Er selbst möchte in Samarkand
bleiben. Vorerst jedenfalls.
Izohor Aminuw dagegen will weg. Er ist in der Machallah
geboren, fand hier seine Frau, wurde Vater von acht Kindern. Trotzdem. Bis auf
die jüngste sind alle Töchter und Söhne längst in der Welt zerstreut Amerika,
Deutschland, Israel. Wozu bleiben, wenn alle gehen?", fragt Aminuw.
Detail an der Decke der Synagoge im Abramow-Haus.
In der Synagoge, sagt er, sei er noch oft. Doch selbst zu
Pessach und Jom Kippur werde sie nicht mehr voll. Einen Rabbi gibt es nicht. Er
wird selten gebraucht. Die Jungen finden niemanden zum Heiraten mehr," nennt
Aminuw einen wesentlichen Gründe der Abwanderung. Selten hat einer Glück wie
Jakow Chaimow. Er hat noch eine Frau gefunden. Die Hochzeit der beiden war die
letzte in der Machallah vor zweieinhalb Jahren. Auch die Chaimows, jetzt
Eltern einer kleinen Tochter, warten auf ihre Ausreise.
Das religiöse Leben hier unterscheide sich erheblich von dem
in Israel, räumt Präsident Fasilow ein. Nach 1989 kamen häufig Experten aus
Israel und Amerika, um uns zu zeigen, wie man ,jüdisch lebt." Viele sind wieder
gegangen, denn was scheinbar alle Buchara-Juden gemein haben, ist Pragmatismus.
Früher lebte man zu Hause jüdisch, aber in der Öffentlichkeit nicht. Heute ist
es genau umgekehrt", formuliert Fasilow, wie die Juden mit der
zentralasiatischen Realität umgehen. Der Schochet, beispielsweise, so Fasilow,
käme nur alle zwei Wochen aus Buchara, einen eigenen gäbe es in Samarkand nicht.
Wenn das koschere Fleisch aufgebraucht ist, essen wir eben keines."
Ihre Synagogen waren aber auch den Buchara-Juden immer
heilig. Um die Jahrhundertwende gab es in Samarkand mehr als 30 allein in der
Machallah, sechs, oder sieben außerhalb. Unter Stalin wurden fast alle
geschlossen und manche zerstört. Neben der neuen Synagoge, die erst nach Stalin
entstand und nun auch den aschkenasischen Juden dient, ist den Buchara-Juden nur
die eine in der Machallah geblieben Kaniso-i Gumbaz, die Kuppel"-Synagoge.
Fast alle anderen Synagogen stehen leer und verfallen.
Kaniso-i Kalon, die Große Synagoge in der Talmassova-Straße, wurde zwischen
1870 und 1900 gebaut. Sechs große Gebetshallen umschlossen damals den mit Bäumen
bestandenen Innenhof. Drei der Hallen sind mittlerweile zerstört. Die restlichen
Räume haben eine Musikschule und eine Bibliothek bezogen.
Raja Babachanowa wäre froh, wenn die Synagoge noch als solche
genutzt würde sie wohnt direkt gegenüber. Zur Gumbaz-Synagoge kommt sie nur
selten, der Weg dahin ist ihr oft zu beschwerlich. Die 72jährige lebt allein,
seit ihr Mann vor zwei Jahren starb. 47 Jahre waren sie verheiratet. Mit ihrem
Mann schwand auch Rajas Lebensmut.
Zwei Töchter hat sie nach Israel ziehen lassen, die beiden
Söhne sind noch in Samarkand. Nur ich kann nicht mehr weg", sagt Raja. Was
werden soll, wenn auch die Söhne das Land verlassen, möchte sie sich nicht
vorstellen. Schon jetzt ist sie auf fremde Hilfe angewiesen. 18.000 Sum, etwa 15
Euro, Rente bekommt sie monatlich. Dabei kostet schon ein Kilo Fleisch 3.000
Sum." Die Gemeinde unterstützt sie und bringt ihr monatlich kostenlos Milch,
Zucker, Öl, Nudeln oder Tee vorbei.
Das Problem sei nicht nur das Geld, sagt Raja. Es gäbe keine
jüdischen Geschäfte mehr. Der Basar der Machallah liegt nur einhundert Meter von
Rajas Haus entfernt. Doch kein Händler bietet hier noch Granatäpfel, Trauben,
Nüsse oder Chalwa an. Das einstige Zentrum des Viertels ist seit Jahren
geschlossen, der Ort verlassen. Nur ein paar Kinder spielen auf dem Tresen unter
dem Dach der Markthalle.
Händler waren es, die die Machallah gründeten. Bis zur Mitte
des 19. Jahrhunderts hatten die Juden von Samarkand kein eigenes Viertel und
wohnten überall in der Stadt. Im Jahr 1843 jedoch bot sich die Gelegenheit, vom
Emir ein Stück Land zu erwerben. 32 Juden unterschrieben schließlich den
Kaufvertrag.
Eine der Familien, die den Kauf des Landes finanzierten,
waren die Kalontarows. Der Name geht auf das Amt des Kalontars zurück, den
Vorstand aller bucharischen Juden einer Stadt, der von den männlichen
Mitgliedern der Gemeinde gewählt wurde. Er präsentierte die Gemeinde gegenüber
dem Emirat und war verantwortlich dafür, dass die Jizya, die Kopfsteuer für alle
Nichtmuslime, bezahlt wurde.
Die Kalontarows holten russische Architekten nach Samarkand
und ließen große Bürgerhäuser und Fabriken bauen. Färbereien, Stickereien oder
Webereien waren das Gewerbe, das die Juden von Samarkand beherrschten. Die
meisten der russischen Häuser stehen heute leer, die nachziehenden Tadschiken
haben keine Verwendung dafür.
Auch die Gumbaz-Synagoge wurde durch die Kalontarows
finanziert. Zwischen 1882 und 1891 erbaut, ist sie der Frau des Bauherren,
Tzporo Kalontarowa, gewidmet. Mit den zwei Gebetshallen, die durch einen
hölzernen Iwan verbunden sind, ist die Synagoge ein typisches Beispiel
persischer Baukunst. Ihren Namen verdankt sie dem größeren der beiden Säle, über
den sich eine mit Stuck verzierte, strahlendblaue Kuppel wölbt.
Ein Stück Himmel" sagt Jessew Tinjajew. Glücklich sieht der
Hauswart der Gumbaz-Synagoge dabei nicht aus. Tinjajew hütet das alte Gebäude
wie sein eigenes Heim. Doch er ahnt, dass ihm bald keiner mehr dafür danken
wird.
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