Hier wo wir jetzt stehen war der jüdische Friedhof." erklärt
mit Ahmed1 mit einer ausladenden
Handbewegung die auf ein trockenes Stück Land mit faustgroßen Steinen verweist,
das auf einer leichten Anhöhe neben der Altstadt liegt. Du wirst hier aber
nichts mehr finden. Wir haben zwar noch die Erinnerung an den Friedhof bewahrt,
aber niemand hat sich um die Grabsteine gekümmert."
Kifri, eine alte Handelsstadt im Nordirak, hatte einst eine
große jüdische Gemeinde. Neben der kurdischen und turkmenischen Bevölkerung
bildeten die Juden mit rund einem Viertel der Bevölkerung die dritte
Bevölkerungsgruppe der Stadt. Die Juden von Kifri fühlten sich als
gleichberechtigte Bürger ihrer Stadt und pflegten freundschaftliche Beziehungen
zu Kurden und Turkmenen. Sie sprachen Kurdisch, Arabisch und Turkmenisch, wie
die Kurden und Turkmenen der Stadt auch. Kifri ist eine tolerante Stadt. An der
Kreuzung alter Karawanenwege zwischen Iran, Kurdistan und Bagdad gelegen, war
die Bevölkerung immer mit neuen Ideen und Entwicklungen konfrontiert. Zwar
wusste jeder zu welcher Bevölkerungsgruppe er gehört, konnte aber jeweils auch
die Sprache des anderen. Das ist auch heute noch so. In Kifri ist bis heute
nicht wie etwa in Kirkuk - der Wettbewerb ethno-nationalistischer Gruppen
ausgebrochen. Man kennt und respektiert sich in der Kleinstadt. Zwar wird unter
sich geheiratet, aber man trifft sich im Suq oder in der Bar auf ein Bier.
Auch in den Fünfzigerjahren war Kifri eine tolerante Stadt.
Juden und Muslime lebten gemeinsam in den alten Mauern der Stadt, die umgeben
von Dattelpalmen in einer Talmulde liegt. Die Familie des lokalen Mullah, dessen
Sohn später lokaler Parteichef der Kommunistischen Partei wurde, lebte mit einem
jüdischen Ehepaar unter einem Dach. Der Arabische Nationalismus erreichte die
Stadt ebenso wenig, wie die Farhud, der Pogrom an den irakischen Juden in
Bagdad, den prodeutsche arabische Nationalisten 1941 vom Zaum brachen. Die Juden
von Kifri hörten 1948 zwar von der Gründung Israels, dachten jedoch keinen
Augenblick daran dort hinzugehen. Israel war für sie ebenso weit, wie der
Zionismus oder der arabische Nationalismus.
Doch dann kamen an einem Tag des Jahres 1951 LKWs der
irakischen Armee vorgefahren. Ahmed kann sich noch genau an den Tag erinnern:
Ich war damals noch ein Kind, aber ich kann mich noch genau daran erinnern, wie
sie plötzlich die Juden zusammengetrieben und auf die LKWs verladen haben. Es
wurde ihnen nicht einmal eine Stunde Zeit gelassen ihre Sachen zu packen." Ein
kleiner jüdischer Junge, der gerade außerhalb der Stadt die Ziegen hütete, kam
am Abend zurück in die Stadt und musste feststellen, dass seine ganze Familie
und all sine Verwandten deportiert worden waren. Dieser Junge" erzählt Ahmed,
hat nie wieder etwas von seinen Eltern gehört. Er wurde dann von einer
islamischen Familie aufgenommen und nahm einen islamischen Namen an. Er fragt
sich heute noch, was aus seiner Familie geworden ist."
Insgesamt wurden 1950/51 130.000 irakische Jüdinnen und Juden
im Rahmen der Operation Ali Baba über Zypern nach Israel ausgeflogen. Während
nach der Farhud und den antisemitischen Angriffen nach der Gründung Israels
viele Juden aus Bagdad dies als Befreiung empfanden, kam die Ausweisung für
andere Jüdinnen und Juden in den irakischen Kleinstädten aus heiterem Himmel.
Damit hatten zwar die meisten, jedoch nicht alle irakischen
Juden das Land verlassen. In den Synagogen Bagdads, Basras und Mossuls wurden
auch nach dem Putsch Abd al-Karim Qasims 1958 Gottesdienste abgehalten und
jüdische Feiertage begangen.
Die Konflikte zwischen der irakischen Linken einerseits und
den arabischen NationalistInnen andererseits und die daraus resultierende
Abfolge von Revolten, Straßenkämpfen, militärischen Umstürzen und
Ausschreitungen der Baathisten und anderer Nationalisten gegen die Linke führten
jedoch auch unter der jüdischen Bevölkerung zu wachsender Unsicherheit und
beschleunigten deren Auswanderung. Zu einer weitern Auswanderungswelle tausender
verbliebener Jüdinnen und Juden sollte es jedoch erst nach der arabischen
Niederlage im Sechstagekrieg und der endgültigen Machtergreifung der
Baath-Partei 1968 kommen.
Die Arabische Sozialistische Baath-Partei hatte nie ein Hehl
aus ihrer antisemitischen Gesinnung gemacht und begann neben der blutigen
Bekämpfung der kommunistischen und kurdischen Opposition mit einer Kampagne
gegen vermeintliche zionistische Agenten", die bereits ein halbes Jahr nach
ihrer Machtergreifung, im Januar 1969 mit einem im Fernsehen übertragenen
Schauprozess gegen 14 Personen, darunter neun Juden wegen Spionage für Israel"
und der folgenden öffentlichen Hinrichtung der Beschuldigten ihren ersten
Höhepunkt erfuhr. Mit der gezielten Repression gegen die kleinste und
wehrloseste Minderheit des Irak begann ein Regime, das das Land schrittweise in
eine Republik der Angst" (Kanan Makiya) verwandelte. Weitere Schauprozesse und
eine verschärfte antisemitische Propaganda führten zu einer Massenflucht des
Großteils der verbliebenen jüdischen Bevölkerung. Es verblieb nur eine kleine
jüdische Gemeinde in Bagdad mit einer noch funktionierenden Synagoge, der 1942
errichteten Meir Taweig-Synagoge. Die verbliebenen Juden Bagdads versteckten
nach außen oft ihre religiöse Zugehörigkeit und versuchten, sich ihrer
muslimischen Umgebung anzupassen.
Während die Jungen oft auf abenteuerlichen Wegen versuchten,
das Land zu verlassen, blieb eine Handvoll alter Leute zurück. Der letzte
Rabbiner Bagdads verstarb Mitte der 90er Jahre. Nachdem der Baathismus fast alle
irakischen Jüdinnen und Juden vertrieben und ermordet hatte, stellte er die
Überlebenden unter seinen Schutz. Die Regierung förderte den Erhalt der Synagoge
und führte die Existenz einer jüdischen Gemeinde immer wieder als Beweis für
ihre Toleranz gegenüber guten", das heißt antizionistischen Juden an. Die
eingeschüchterten Reste des irakischen Judentums wurden nicht zuletzt
internationalen Journalisten vorgeführt um den Vorwurf des Antisemitismus zu
entkräften und die Toleranz" des Regimes unter Beweis zu stellen. Rüdiger Göbel
von der antiimperialistischen Tageszeitung Junge Welt" interviewte etwa noch im
April 2002, also ein Jahr vor dem Sturz Saddam Husseins, den damals fast
Siebzigjährigen Leiter der jüdischen Gemeinde in Bagdad Naji Gabriel Jacob, der
vor dem deutschen Journalisten beteuern durfte, dass es keinen Unterschied
zwischen den Religionen. Juden, Christen, Schiiten, Sunniten" gebe und sie ihre
religiösen Freiheiten im Irak" hätten.
Trotz dieses Schutzes kam es am 4. Oktober 1998 noch zu einem
weiteren Anschlag eines agyptische Terroristen palästinensischer Herkunft auf
die letzte Synagoge Bagdads, bei dem zwei Juden und zwei Muslime starben.
Die verbliebenen 30 bis 40 Jüdinnen und Juden Bagdads waren
nach dem Sturz Saddam Husseins im April 2003 alle über 60, die meisten über 80
Jahre alt. Einige der ältesten pflegebedürftigen Gemeindemitglieder wurden
bereits 2003 zu ihren Verwandten nach Israel ausgeflogen. Hoffnungen irakischer
Juden in Israel oder den USA bald zumindest als Touristen wieder in den Irak
zurückkehren zu können, erwiesen sich jedoch als verfrüht. Wenige Monate nach
dem Ende des Regimes begannen alte Anhänger Saddam Husseins gemeinsam mit
radikalislamistischen Terroristen, die teilweise Beziehungen zu al-Qaida
unterhalten, das Land erneut mit Terror zu überziehen. Neben dem Sunnitischen
Dreieck zwischen Bagdad, Mossul und der syrischen Grenze wurde die Hauptstadt
selbst, in der die verbliebenen irakischen Jüdinnen und Juden leben, zum Zentrum
des neuen Terrors. Die verbliebenen alten Leute wagen es seither kaum mehr das
Synagogengelände zu verlassen und werden dort von muslimischen Wächtern vor
Terroranschlägen bewacht. An eine Wiederaufnahme der Beziehungen irakischer
Jüdinnen und Juden zu ihrer alten Heimat, ist damit vorerst nicht mehr zu
denken.
Unter dem Druck der Islamisten verstärkten sich zudem auch
die antiisraelischen Positionen der neuen irakischen Regierung. Während manch
irakischer Politiker selbst aus gemäßigt-schiitisch-islamistischen Parteien
unter vier Augen über eine Normalisierung des Verhältnisses zu Israel nachdenkt,
wagt heute kaum mehr ein irakischer Politiker dies auch öffentlich zu sagen.
Nachdem Mithal al-Alusi, der Parteichef der Nationaldemokratischen Partei des
Irak 2004 Israel besucht hatte, wurde nicht nur seine Partei aus dem Irakischen
Nationalkongress Ahmed Chalabis geworfen. Terroristen ermordeten im Februar 2005
seine beiden Söhne.
Für viele in Israel lebende Irakis, die oft immer noch starke
emotionale Bindungen an ihre alte Heimat haben, war somit auch die neue
irakische Verfassung ein Schlag ins Gesicht. Doppelstaatsbürgerschaften von
Exilirakerinnen und Exilirakern werden darin ausdrücklich zugelassen, allerdings
mit einer Ausnahme: Israel.
In Kifri pflegen einige ältere Leute trotzdem noch die
Erinnerung an ihre einstigen jüdischen Mitbürger. Wir würden uns freuen, wenn
wir eines Tages wieder von ihnen hören würden." sagt Ahmed. Ein Freund fügt
hinzu: Damals als sie die Juden abholten, haben einige wenige Muslime gelacht
und sich über die Juden lustig gemacht. Ich habe ihnen damals gesagt, dass dies
erst der Anfang ist und sie eines Tages nicht mehr über die Juden lachen werden.
So ist es dann auch gekommen. Unter den Baathisten wurden schließlich auch wir,
die Kurden, verfolgt. Heute lacht hier niemand mehr über die Leiden der Juden,
denn wir haben nun mit eigener Haut erlebt was es heißt verfolgt zu werden."