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Karl Kraus und der Nationalsozialismus:
Dritte Walpurgisnacht

Irina DJASSEMY

Wenn von Karl Kraus’ Verhältnis zum Nationalsozialismus die Rede ist, wird in der Regel nur der Anfangssatz seiner einschlägigen, posthum veröffentlichten Schrift: Dritte Walpurgisnacht, zitiert: „Mir fällt zu Hitler nichts ein."1  Dass mit diesem Satz der längste Essay beginnt, den er je geschrieben hat, wird wohlweislich verschwiegen.

Solche Ignoranz dient einerseits der Abwehr der bis heute instruktiven Erkenntnisse, die die Dritte Walpurgisnacht über das „Dritte Reich" bietet, andererseits beruht sie auf dem Missverständnis, Kraus habe sich durch seine Unterstützung des Dollfuß-Regimes als Faschismuskritiker disqualifiziert. Dabei resultierte diese in der Tat fatale Entscheidung nicht nur aus einer Fehleinschätzung dieses Regimes als Bollwerk gegen den Anschluss, sondern gerade auch aus Einsichten, die er den meisten Zeitgenossen voraus hatte: nämlich aus den Einsichten in die historische Dimension des NS als Zivilisationsbruch und in die ebenso zentrale wie bedrohliche Rolle des Antisemitismus. So leitet Kraus schon 1933 aus den von ihm dokumentierten Vorgängen der Anfangsmonate die zentrale Erkenntnis ab, es lasse sich im Nationalsozialismus „das Leben des Staats, der Wirtschaft, der kulturellen Übung auf die einfachste Formel [bringen]: die der Vernichtung" (S.23). Während viele Zeitgenossen die Naziherrschaft für ein unerfreuliches Zwischenspiel hielten, das nach wenigen Monaten beendet sein würde, war aus seiner Sicht der historische Punkt erreicht, an dem eine seit je prekäre Zivilisation in Barbarei umschlägt: „Denn es ist ein Moment im Völkerleben, der insofern der Größe nicht entbehrt, als bei elektrischem Licht, ja mit allen Behelfen der Radiotechnik an den Urzustand angeknüpft wird und ein Umschwung in allen Lebensverhältnissen, nicht selten durch den Tod eintritt." (S.16) Diese „grundstürzende Veränderung" (S.17) erfasst die Beteiligten wie eine „epidemische Gehirnerschütterung", vor der sich, so Kraus, „der Abgewandte taktlos vorkommt wie nur einer, der beim Begräbnis der Menschheit den Hut nicht abnimmt." (S.18).

Gerade das historisch Neue: die „Gleichzeitigkeit von Elektrotechnik und Mythos, Atomzertrümmerung und Scheiterhaufen, von allem, was es schon und nicht mehr gibt" (S.33f.), verweist indessen auf die Dialektik von Kontinuität und Bruch im Verhältnis des NS zur liberalen Gesellschaft. Denn so monströs die Verbrechen auch sind, in denen die selbsternannten Millenarier sich ausrasen2 , so eklatant auch der intellektuelle Verfall und die Missachtung elementarer Rechtsbegriffe erscheinen, all dies stößt der Zwischenkriegsgesellschaft nicht unvermittelt von außen zu, sondern geht aus ihrer eigenen politischen, ökonomischen und kulturellen Dynamik hervor. Deshalb stand Karl Kraus als Kulturkritiker der Situation nicht derart hilflos gegenüber, wie es in jenem Anfangssatz den Anschein hat, sondern es ist ihm dann doch noch Erhellendes „eingefallen": nämlich zur Radikalisierung eines antizivilisatorischen Potentials, vor dem er schon lange gewarnt hatte und das sich nun seinen bisherigen satirischen Verfahren durch eben diese Radikalisierung entzieht.

Kraus diagnostiziert eine Staatswirklichkeit, die „bis zum Paragraphen aus dem Rausch geboren ward" (S.34). Tatsächlich wurden ja bereits in den ersten Monaten des Nazi-Regimes ca. 400 Gesetze und Verordnungen zur Legalisierung des Staatsterrors erlassen. Moderne Formen staatlicher Kontrolle sichern die Rückkehr zu mittelalterlichen Praktiken der Repression ab. An diversen Einzelfällen wird belegt, „wie der Wahn normenhaft waltet" (S.275), wie einander ausschließende Regelungen zur bedrohlichen Praxis der totalitären Ordnung sich vereinen. So steht die Parole „Juden raus!" zunächst im Widerspruch zu willkürlich verhängten Ausreiseverboten sowie zur Ausplünderung der Reisewilligen, und innerhalb einer Stadt werden Juden verprügelt, teils weil sie die Fahne gegrüßt und teils weil sie sie nicht gegrüßt haben. Wie diese Einheit von Ordnung und Chaos, von Staats- und Gangsterherrschaft schließlich im mörderischen System der Lager kulminiert, das zeigt die Dritte Walpurgisnacht in den allerersten Anfängen.3 

Auf der propagandistischen und psychologischen Ebene beschreibt Karl Kraus anhand von Einzelfällen bereits jene Mechanismen der Projektion eigener Deformationen, ökonomischer und politischer Gelüste auf die Opfer, die später von der kritischen Theorie der Frankfurter Schule wissenschaftlich analysiert werden sollten. Es handelt sich um Mechanismen, die mit der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt, vom bürgerlichen Recht aber in ihre Schranken gewiesen wurden, und die nun ungehemmt praktiziert werden können.

Die beginnende Ausgrenzung der Juden aus dem Arbeits- und Geschäftsleben ermöglicht es, primitive Impulse der Habgier und des Neides unter dem Vorwand eines Kampfes gegen deren imaginierte Übermacht ungehindert auszuleben. In seiner Zeitschrift Die Fackel thematisierte Karl Kraus freilich schon seit der Jahrhundertwende, und zwar explizit als pathologisches Problem, dass die paranoide Diffamierung der Juden die zentrale Funktion besaß, eigene Aneignungswünsche zu legitimieren.4  Indem er diesen Aspekt hervorhebt, trifft er ins Zentrum der antisemitischen Gesellschaftskritik, deren depravierten Antikapitalismus er dann in der Dritten Walpurgisnacht als Privilegierung der Eigengruppe durch die gewaltsame Ausschaltung jüdischer Konkurrenten kennzeichnen konnte. Beispielsweise zitiert er die schamlose Anpreisung einer guten „Niederlassungsmöglichkeit für deutschen Arzt" durch „das Ausscheiden jüdischer Ärzte" (S.284) sowie den Fall eines Apothekers, der ermordet wurde, weil er sich weigerte, sein Geschäft zugunsten eines nichtjüdischen Konkurrenten aufzugeben (S.73).

Ähnlich verhält es sich mit den Projektionen im politischen Bereich. Die skrupellose Ausübung von Gewalt gegen andere, meist Wehrlose, bei gleichzeitiger Selbstdarstellung als unschuldiges Opfer wurde von Karl Kraus seit dem ersten Weltkrieg als Taktik der „verfolgenden Unschuld" charakterisiert, was sich zunächst auf nationalistische Politik und Propaganda im allgemeinen, schon 1920 aber auch auf die Umtriebe antisemitischer Gruppierungen im besonderen bezieht. In der Nazi-Propaganda und insbesondere in der antisemitischen Psychologie ist diese Form der Gewissensausschaltung zentral, ermöglicht sie doch die Rechtfertigung jeglicher Untaten auf relativ simple Weise. 1933 dient sie einer Abwehr der sog. Greuelpropaganda, indem die Publikation von Leidensberichten als Verleumdung dargestellt wird; die Täter erscheinen dann als beleidigte Opfer (S.28f.). Auch außenpolitisch kommt die „verfolgende Unschuld" zur Geltung, etwa in Konflikten mit der Heimwehr (S.186f.). Deutlich wird dabei der grausige Kontrast einer psychischen Regression auf infantile Rechtfertigungsmuster zum mit modernsten Instrumenten verübten politischen Terror.5 

All dies zeigt, dass aufmerksamen Beobachtern ein intransigentes Urteil über den NS von Anbeginn möglich war. Die Aktualität der Krausschen Einsichten ist ungebrochen, sind sie doch noch heute geeignet, z.B. revisionistische Legitimationen der angeblich vorbildlichen NS-„Ordnung" oder des Überfalls auf osteuropäische Länder, aber auch die Diffamierung von Restitutionswünschen kritisch zu analysieren. Denn sogar die Problematik des sekundären Antisemitismus ahnte Kraus voraus, ohne sich freilich der Tragweite seines Aperçus bewusst zu sein, als er in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg einmal, von Tiroler Antisemiten aus Innsbruck vertrieben und nach Wien zurückgekehrt, rechtsradikalen Plänen entgegentrat, „die Schändlichkeit, die dort an mir begangen wurde, hier an mir zu rächen".6 

Anm.: Dieser Text ging aus einem wesentlich umfangreicheren Vortrag hervor, den die Verfasserin am 24.11.2005 auf Einladung der Gruppe Café Critique und der Basisgruppe Politkwissenschaft an der Universität Wien gehalten hat.

Von Irina Djassemy ist die folgende Studie zum Thema erschienen:

Der „Productivgehalt kritischer Zerstörerarbeit". Kulturkritik bei Karl Kraus und Theodor W. Adorno. Würzburg: Königshausen und Neumann, 2002

 1 Karl Kraus: Dritte Walpurgisnacht (geschrieben 1933), Frankfurt am Main 1989, S.12. Alle folgenden Zitate entstammen, soweit nicht anders angegeben, diesem Text.

 2 Die monströsen Dimensionen des Geschehens werden schon im Titel implizit angesprochen, indem Kraus die finstere NS-Zeit den beiden Walpurgisnächten in Goethes Faust, in denen allerlei widerwärtige Mythengestalten ihr Unwesen treiben, folgen lässt.

 3 Mit der dialektischen Einsicht in die Funktionsweise des Nationalsozialismus ist Kraus mancher dogmatischen Diskussion zwischen Funktionalisten und Intentionalisten überlegen. Seine Deutung weist in dieser Frage eine Affinität zu der politikwissenschaftlichen Konzeption von Franz Neumanns Behemoth auf, in deren Zentrum der Widerspruch zwischen den totalitären und den desintegrativen Tendenzen des faschistischen Staates steht. Vgl. Franz Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944 [1944], Frankfurt/M. 1984

 4 Um so irritierender ist es, dass Kraus in der Fackel selbst antisemitische Clichés reproduzierte. Dies sollte aber nicht den Blick auf seine kritischen Erkenntnisse verstellen.

 5 Inwiefern manches davon auch auf islamistische Gruppierungen zutrifft, wäre durchaus einer Untersuchung wert.

 6 Die Fackel, H.531, S.182

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