Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 findet in
Kernländern der Europäischen Union verstärkt eine Abgrenzung gegenüber den USA
statt. Europa versucht sich die Identität einer Friedensmacht zu geben, entwirft
ein Bild von den USA als Anti-Europa und kaschiert so in klassisch ideologischer
Manier das eigene Bestreben nach Herrschaft, Ausbeutung und Einflußnahme. Dieses
Bild von den USA hat mit dem Agieren US-amerikanischer Politik nur sehr
vermittelt etwas zu tun. So wie sich Antisemitismus, dessen Verwandtschaft mit
dem Antiamerikanismus in letzter Zeit mehrfach herausgearbeitet wurde, nicht aus
dem Verhalten von Juden und Jüdinnen oder des jüdischen Staates erklären läßt,
so läßt sich auch der Antiamerikanismus nicht aus der realen Politik der
Vereinigten Staaten erklären. So wie eine Kritik des Antisemitismus sich mit den
Antisemiten auseinandersetzen muß, nicht mit den Juden, so muß sich eine Kritik
des europäischen Antiamerikanismus über die Motive der Antiamerikaner klar
werden, anstatt sich auf die Suche nach Gründen für einen Antiamerikanismus zu
begeben, die im Handeln der Objekte dieser Ideologie liegen würden. Bei beiden
Ideologien handelt es sich nicht einfach um eine etwas verzerrte Wahrnehmung der
Realität, sondern um Wahn. In dem, was real passiert, findet dieser Wahn immer
nur neues Material zu seiner eigenen Bebilderung. Der Grund für diesen Wahn
liegt in den psychischen und politischen Bedürfnissen der Amerika-, Israel- oder
Judenhasser. Mit einer Kritik an der Rolle der USA im Prozeß von ökonomischer
Ausbeutung und politischer Herrschaft haben die antiamerikanischen Ressentiments
nichts zu schaffen.
Der Hamburger Sänger Mellow Mark war mit seinem Lied
„Weltweit" im Frühjahr 2003 sowohl in Österreich als auch in Deutschland
außerordentlich erfolgreich. Die Gesellschaftskritik dieses Liedes ist in der
Textzeile zusammengefasst „Die Reichen werden reicher, die Armen werden ärmer."
Es ist dies eine Feststellung, der nicht zu widersprechen ist. Doch woran liegt
das? Folgt man Mellow Mark, ist der Grund darin zu suchen, daß es eine weltweite
US-amerikanische Dominanz gibt, nämlich „weltweit US-amerikanisches fast food,
weltweit US-amerikanisches Gedankengut, US-amerikanische Sprachflut",
„US-amerikanisches Fernsehen, US-amerikanische Armee" und – besonders
hervorzuheben – „US-amerikanische Dekadenz". Nicht das weltweit durchgesetzte
Kapitalverhältnis samt seinen staatlichen Organisatoren ist demnach für die
Zustände auf dem Planeten verantwortlich, sondern der offensichtlich als
illegitim empfundene Konkurrenzvorsprung der führenden Industrienation. Es wird
das Elend in der Welt zitiert und auf ökologische Probleme hingewiesen („die
Armen werden ärmer und die Welt wird wärmer"), aber der Texter kommt nicht
einmal auf die Idee, daß diese kritisierten Mißstände von der eigenen, in Europa
beheimateten Regierung mit verursacht sein könnten. Wenn aber die USA als
alleiniger Verantwortlicher für globale gesellschaftliche Miß- und Zustände
ausgemacht werden, so ist das keine Kritik, sondern die Artikulation eines
antiamerikanischen Ressentiments, in dem sich ein nonkonformistisch auftretendes
Einverständnis mit Herrschaft und Ausbeutung artikuliert.
In seiner Grundstruktur ist dieses Ressentiment keineswegs
neu, sondern existiert bereits seit der Gründung der USA. Auch wäre es falsch
anzunehmen, daß erst durch das forsche Auftreten der gegenwärtigen
Bush-Administration eine vorurteilsbehaftete Amerikakritik eingesetzt hätte, mit
der ein idealisiertes Bild Europas transportiert wird. Lange vor der
Präsidentschaft von George W. Bush haben europäische Spitzenpolitiker ein
„nichtamerikanisches Europa" gegen die oft als „Hypermacht" wahrgenommenen USA
in Anschlag gebracht.
Der Sänger Mellow Mark steht exemplarisch für Entwicklungen
in der deutschsprachigen Kulturszene. Vertreter der Hochkultur wie Peter Zadek
oder Claus Peymann bekennen sich ebenso offenherzig zu ihrer Amerika-Feindschaft
wie Vertreter der Populärkultur. Die Band die ärzte zeigt im Video zu
ihrem Song „Die klügsten Männer der Welt" amerikanische Panzer, die das
Brandenburger Tor in Berlin niederwalzen, einen dumpfen Cowboy und eine
Bush-Regierung, welche die ganze Welt in Flammen setzt. Die Gruppe Ramstein
weiß in ihrem Lied „America" davon zu berichten, wie die USA die kulturelle
Vielfalt in der Welt zerstören. Und selbst Punks zollen in Deutschland „ihrem"
Bundeskanzler mittlerweile Anerkennung, wenn es um die Auseinandersetzung mit
den USA geht.
Die pop- wie hochkulturelle Aversion gegen die ehemalige
Siegermacht im Zweiten Weltkrieg wurde und wird durch politische Attacken
komplettiert. Die positive Bezugnahme aller europäischen Linksparteien auf die
Anti-Kriegsdemonstrationen 2003 wurde in dem Text „Nach dem Krieg: Die
Wiedergeburt Europas", den Jacques Derrida und Jürgen Habermas am 31. Mai 2003
unter anderem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung publiziert haben,
aufgegriffen. Sie feiern die Massenaufmärsche vom 15. Februar 2003 als „Signal
für die Geburt einer europäischen Öffentlichkeit." Um sich zu vergegenwärtigen,
um was für eine Art von „Europa" es hier geht, muß man sich den Charakter der
„Antikriegsdemonstrationen" vor Augen führen.
In Österreich und Deutschland, wo die Bevölkerung erst durch
das Eingreifen der Alliierten vom Judenmord und vom Vernichtungskrieg gegen die
halbe Welt abgehalten werden konnte, verkündeten Kriegsgegner von links bis
rechts, Krieg habe noch nie ein Problem gelöst oder eine Verbesserung der Lage
gebracht. Was in allen europäischen Staaten ein Ausdruck von
Geschichtsvergessenheit darstellte, war in den Nachfolgegesellschaften des
Nationalsozialismus ein Ausdruck von Geschichtsrevisionismus. Es war dies, ob
beabsichtigt oder nicht, die nachträgliche Delegitimation der Befreiung von
Auschwitz. Gerade die Friedensbewegung, die sich für den Krieg der irakischen
Baathisten gegen ihre eigene Bevölkerung und für Saddam Husseins Unterstützung
für den Terror gegen Israel nicht interessiert hat, hat mit ihren Ressentiments
gegen Amerika einen wesentlichen Beitrag zur Konstruktion Europas gegen die USA
geleistet .
Die von Derrida und Habermas begrüßte „europäische
Öffentlichkeit" soll sich positiv auf Demonstrationen beziehen, die nicht
unwesentlich von Islamisten von der Hamas und der Hisbollah sowie ihren
Verbündeten in der europäischen Linken geprägt waren. Implizit, nicht selten
aber auch ganz explizit wird so in der Konstruktion Europas die islamistische
Propaganda von den USA und Israel als „großer und kleiner Satan" übernommen.
Um ein schlagkräftiges Bündnis gegen die USA zustande zu
bringen, fordert Egon Bahr als europäisch-sozialdemokratischer Vordenker eine
„Entspannungspolitik gegenüber den islamischen Staaten. [...] Europa sollte eine
erkennbare Alternative in seinem Gesellschaftsmodell [...] entwickeln, damit die
islamische Welt nicht nur die eine geschlossene westliche Welt wahrnimmt." In
diesen Äußerungen Bahrs, die weniger eine Empfehlung als eine Beschreibung der
realen Politik Kerneuropas gegenüber den arabischen und islamischen Staaten
darstellen, wird eine kerneuropäische Bündnispolitik sichtbar, die sich den
Anschein des Pazifismus gibt.
Dieses Programm eines kriegslüsternen Pazifismus wird
insbesondere von der europäischen Linken betrieben. Wie sehr diese Konzeption
eines sich auch in sozialpolitischer Hinsicht gegenüber den USA abgrenzenden
Europas von Erfahrungen geprägt ist, welche im Faschismus und
Nationalsozialismus gemacht wurden, während diese speziellen Formen des
Autoritarismus sich in den USA auch in Zeiten ökonomischer und politischer
Krisen nie durchsetzen konnten, muß daher verschwiegen werden.
Während die europäische Linke Faschismus und
Nationalsozialismus als Geburtshelfer einer gegen die USA gerichteten
europäischen Identität hinsichtlich der gesellschaftlichen Organisation des
Klassenkonfliktes vergessen machen möchte, beziehen sich jene rechtsradikalen
Kräfte, welche die Herausbildung einer eigenständigen europäischen Identität
begrüßen, ganz offen auf die Europakonzeptionen des Nationalsozialismus. Wie eng
verwandt Antisemitismus und der Antiamerikanismus sind, braucht bei diesen
Vertretern europäischer Identität nicht mehr mittels Ideologiekritik
herausgearbeitet zu werden. Der Wiener FPÖ-Politiker Heinz-Christian Strache
meint etwa in der Zeitschrift Zur Zeit, daß „wir unsere Energie darauf
konzentrieren sollten, eine gemeinsame Außenpolitik zu betreiben, welche nur die
europäischen Interessen und nicht die der Wall Street vertritt." Der
freiheitliche Abgeordnete im europäischen Parlament Andreas Mölzer lobt das
„Friedensprojekt" Europa dafür, daß es frei sei vom „krassen Materialismus" und
anders als in den USA, wo „mächtige Lobbys im Hintergrund die wahre Macht
ausüben", nicht „nur zwei von undurchsichtigen Mächten kontrollierte Parteien"
zur Auswahl stünden.
Seit dem Angriff auf das World Trade Center probt die
deutsch-europäische Außenpolitik den Aufstand gegen die USA vor dem Hintergrund
einer globalen Mobilmachung gegen den ‚Dollarimperialismus’ und seinen
‚zionistischen Schützling’. Der „neunte September" wirkte offensichtlich wie ein
Treibsatz für das europäische Selbstbewußtsein. Im Nahen Osten wird sich die
Positionierung Europas als „Friedensmacht" auch unter der neuen deutschen
Bundesregierung als außerordentlich hilfreich erweisen. Gerade das Auftreten als
fremde Kulturen respektierender, ehrlicher Makler befördert die Einflußnahme des
deutsch dominierten Europas im arabischen Raum und im Iran. Die Verteufelung der
angeblichen US-amerikanischen Arroganz gegenüber den Arabern entpuppt sich vor
diesem Hintergrund als ein Appeasement gegenüber dem Islamismus und der
panarabisch-nationalistischen Mobilmachung, die sich ganz offen auf
nationalsozialistische und faschistische Traditionen bezieht. Im Gefolge dieser
Appeasementpolitik wird versucht, die ökonomische Zusammenarbeit in der Region
auf Kosten der USA auszubauen und zugleich jenem Furor teutonicus zu frönen, der
jenseits aller rationalen Interessen weiterbesteht und die vergleichsweise
zwecksrationale Form US-amerikanischer Kriegseinsätze schon aus Prinzip ablehnt.
„Friedensmacht Europa" ist der moralische Titel, unter dem die Konkurrenz mit
den USA betrieben wird. Die Konstruktion einer europäischen Identität als
„Friedensmacht" entpuppt sich als ideologischer Schleier und materielle Realität
in einem, die nichts Positives beinhalten.
Eine Langfassung dieses Textes erscheint in dem Band Jeff
Bernard et al. (eds.): Europe - Image & Concept in Cultural Change. Vienna 2006
Stephan Grigat ist Lehrbeauftragter am Wiener Institut für
Politikwissenschaft, Forschungsstipendiat in Tel Aviv und Herausgeber des Bandes
„Feindaufklärung und Reeducation. Kritische Theorie gegen Postnazismus und
Islamismus", der im ça ira-Verlag erschienen ist.