Das „Ritual des ersten Lernens" zu Schawuot
im Mittelalter
Martha KEIL
Der erste Unterricht eines jüdischen Knaben in hebräischer
Schrift und den Grundlagen der religiösen Bildung erfolgte im Mittelalter je
nach Gemeindebrauch zwischen drei und sechs Jahren.
Der Lernstoff bestand aus
den Büchern der Tora mit dem Bibelkommentar des Raschi (Rabbi Schlomo bar
Izchak von Troyes, 1040-1105), bei besonderer Begabung noch in der aramäischen
Toraübersetzung (Targum) des Onkelos. Den „Übergang" von Mutter zu Vater,
Haus zur Schule, vom Individuum zum Kollektivwesen und vom Unwissendem zu
Wissendem brachte ein Ritual zum Ausdruck, das in mehreren Erziehungstraktaten
des 12. und 13. Jahrhunderts überliefert ist. Über seine tatsächliche zeitliche
und geographische Verbreitung ist allerdings wenig bekannt. Illuminationen aus
einem Festtagsgebetbuch, dem Machsor Lipsiae aus dem süddeutschen Raum um
1320, stellen einzelne Phasen des Rituals dar, ob als Reminiszenz an einen
bereits nicht mehr praktizierten oder zur Illustration gelebter Praxis, lässt
sich nicht entscheiden (siehe Abbildung).1
Der berühmte Rabbiner, Mystiker und Dichter Eleasar von Worms (ca. 1165-1230)
beschrieb in seinem Sefer ha-Rokeach (wörtlich: Buch des Salbenmischers)
das Ritual in folgenden Einzelheiten:
Ritual des ersten Lernens; Machsor Lipsiae,
Südwestdeutschland um 1320, Teil 1, fol.131r, Universitätsbibliothek Leipzig MS.
V. 1102/1
„Ein Brauch unserer Väter, dass man die Kleinen zu
Schawuot zum [ersten] Lernen hinsetzt, denn da wurde die Tora gegeben. Ein
Hinweis dafür, dass man den Jungen verhüllt, damit er keinen Nichtjuden oder
Hund sieht am Tag, wo man ihn die heiligen Buchstaben lehrt: ,Und auch kein
Schaf und Rind lass weiden gegen diesen Berg hin.‘ (Ex. 43, 3).2
Zu Sonnenaufgang am Schlusstag bringe man die Kinder, deswegen: ,Als der Morgen
des dritten Tages anbrach, gab es Donnern und Blitzen.‘ Und man verhüllt ihn
unter einem Mantel, von seinem Haus bis zum Haus des Raw und man setzt ihn auf
den Schoß des Raw, den man als Lehrer eingesetzt hat, deswegen: ,Wie eine Amme
das Kind trägt‘ (Numeri 11, 12) und ,ich lehrte Efraim gehen und nahm ihn auf
meine Arme‘ (Hosea 11, 3).
Und man bringt die Tafel, auf der steht a-b-g-d, t-sch-r-k
[die ersten vier Buchstaben des hebräischen Alphabets und die letzten vier in
umgekehrter Reihenfolge], ,die Tora hat uns Mosche befohlen‘ (Deut. 33, 4), ,die
Tora sei mein Handwerk‘, ,und er rief den Mosche‘ (Lev. 1, 1). Und der Lehrer
liest Buchstabe für Buchstabe von a-b-g-d, und das Kind nach ihm, und jedes
Zeichen von t-sch-r-k und das Kind nach ihm, und so ,die Tora sei‘, und so ,und
er rief‘. Und er gibt ein wenig Honig auf die Tafel und der Bub leckt den Honig
mit seiner Zunge von den Buchstaben.
Dann bringt man den Kuchen, der mit Honig geknetet wurde und
auf dem geschrieben steht: ,Gott der Herr hat mir eine geübte Zunge [wörtlich:
eine Zunge von Schülern] gegeben, damit ich wisse, mit den Müden zur rechten
Zeit zu reden. Alle Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre wie die Schüler.
Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet. Ich bin nicht ungehorsam und weiche
nicht zurück.‘ (Jesaja 50, 4-5). Und es liest der Raw jedes Wort dieser Verse
und das Kind nach ihm. Und danach bringt man das gekochte Ei und man schält die
Schale ab, auf der steht: ,Und er sprach zu mir: Menschensohn! Du musst diese
Schriftrolle, die ich dir gebe, essen und in deinen Leib hineinfüllen. Da aß ich
sie und sie schmeckte in meinem Mund so süß wie Honig.‘ (Ezechiel 3, 3) Und der
Raw liest jedes Wort und der Knabe nach ihm und man gibt dem Knaben den Kuchen
und das Ei zu essen, denn es ist gut für die Öffnung des Herzens. Und der Mensch
soll den Brauch nicht ändern."3
Ob nun das Ritual entsprechend dieser Anweisung im Sefer
ha-Rokeach in allen Details geübt wurde, ist nicht von wesentlicher
Bedeutung. Dahinter steht eine Mentalität, die sich bei Juden wie bei Christen
feststellen lässt. Wie in anderen Übergangszeiten des menschlichen Lebens –
Niederkunft, die Nacht vor der Beschneidung und Namengebung, Hochzeit, Krankheit
und Totenbett – wähnte sich der mittelalterliche Mensch von Dämonen bedroht und
benötigte übernatürlichen Schutz. Daher wurde das Kind getragen und in einem
sakralen Kleidungsstück verborgen, welches außerdem Erwachsensein und
Torakenntnis symbolisiert. Die entsprechende Abbildung aus dem Machsor
Lipsiae zeigt das Kind auf dem Schoß des Lehrers sitzend, wie ein Kleinkind
auf dem Schoß der Mutter. Die Darstellung ist der ikonographischen Vorlage der
Madonna mit dem Jesuskind nachgebildet.4
Die Zeremonie bedeutete also nicht nur einen Übergang von der
Kinder- in die Erwachsenenwelt, sondern auch von der weiblichen in die
männliche, wo rauf auch die gewählten Bibelzitate von Moses als Amme anspielen.
Die süßen Speisen wie Honigkuchen und mit Honig beschmierte Buchstaben, die das
Kind nach dem Nachsprechen des Verses „Ich will mit meinen Lippen erzählen alle
Weisungen deines Mundes" (Psalm 119, 13) ableckte, symbolisierten nicht nur das
buchstäbliche „Einverleiben" der Weisheit, sondern auch die Speisen der Kindheit
und das Gefüttertwerden durch die Mutter. Das Ritual zeigt also den Wechsel der
Rollenfunktionen der Geschlechter sehr anschaulich auf, wobei Speisesymbolik
eine besondere Rolle spielte. Die bei diesem Ritual verzehrten Eier stehen für
verborgenes und lebensspendendes Wissen. Die Speisen des ersten Lernens sind
Symbol für die Tora, die wahre geistige Nahrung des Menschen, und für das Manna,
das Gott in der Exoduserzählung den Israeliten in der Wüste geschickt hatte und
an das das Schawuotfest ebenfalls erinnert. Eine ferne Reminiszenz an dieses und
ähnliche Rituale ist die heute wieder sehr beliebte Schultüte, die mit
Nascherein den ersten Schultag versüßen soll.
Der Machsor Vitry des Simcha von Speyer (um 1200)
berichtet in kleinen Varianten, dass der Knabe in einen Gebetsmantel eingehüllt
wird, Honigkuchen und Früchte erhält und somit sein erstes Lernen als süß und
angenehm erleben kann, was allerdings nicht von Dauer ist:
„Und wenn man beginnt, ihn zu unterrichten, lockt man ihn am
Anfang und am Ende landet der Riemen auf seinem Rücken. Und zu Beginn öffnet man
ihm die Tora der Priester (3. Buch Moses, Leviticus), und es ist üblich, seinen
Körper beim Lernen zu bewegen, bis er zu Chukat Olam (Lev. 3, 13), kommt,
das liest er in der Öffentlichkeit und man macht ein Festmahl für ihn."5
Das gesamte Ritual, vor allem in seiner Überlieferung im
Machsor Vitry, kann als Auslegung (Midrasch) zu Exodus 19, der
Übergabe der Tora am Sinai, gelesen werden. Wie weit die Ausdeutung in allen
Details tatsächlich in eine reale Zeremonie umgesetzt wurde, lässt sich nicht
entscheiden. Jedenfalls geben diese Texte einen Eindruck von der Einordnung des
Lernens in das göttliche Heilsgeschehen.
Auch magisches Denken hatte dabei seinen Platz: Der Sefer
ha-Assufot aus dem 12. Jahrhundert überliefert eine Beschwörungsformel gegen
die Vergesslichkeit, nämlich eine magische Anrufung des „Potach, des Prinzen der
Vergesslichkeit" und einiger Engelsnamen:
„Zehn Mal soll er sagen NGF, SGF, AGF, ich beschwöre dich,
Potach, Prinz der Vergesslichkeit, dass du von mir ausreißt und wegnimmst das
Herz eines Dummen, Ich N. N., Sohn des N. N. und es auf einen hohen Berg wirfst,
im Namen der heiligen Namen von Arimas, Arimimas, Ansisiel und Petachel."6
Nach diesem ersten rituellen Unterricht führte man laut
Beschreibung den Knaben zu einem Fluss, er ging nun als Zeichen seiner neuen
Reife auf eigenen Füßen. Auch dieser Teil der Zeremonie ist im Leipziger
Machsor dargestellt. Am Ufer spricht der Lehrer mit dem Kind den Bibelvers
„Deine Quelle soll vorwärtsdrängen und deine Wasserbäche auf die Gassen" (Proverbia
5, 16). Das Wasser, als Symbol für Reinheit und Leben und damit für die Tora,
hat wieder einen Bezug zum Schawuotfest. Vermutlich wollten die
mittelalterlichen Juden mit diesem Brauch der christlichen Symbolik des
Taufwassers eine positiv jüdische entgegensetzen. Ivan Marcus liest das gesamte
Ritual in Auseinandersetzung mit der christlichen Umwelt als „inward
acculturation" von christlichen Symbolen und Inhalten an jüdische Werte.7
Vielleicht aufgrund der magischen Komponenten sprachen sich
einige Rabbiner gegen diesen Initiationsritus aus. Er geriet mehr und mehr in
Vergessenheit und wurde im ausgehenden Mittelalter durch die Bar Mizwa-Zeremonie
des im religiösen Sinn volljährigen Knaben am Schabbat nach dem 13. Geburtstag
ersetzt. Der feierliche erste Schulbesuch, versüßt mit Leckereien, fand aber in
vielen orthodoxen Gemeinden bis zur Shoa zu Schawuot statt. Auch die
Nacht vor dem Schawuot-Fest blieb als „Nacht des Lernens" in der
Tradition verankert, der Lern- und Diskussionsstoff kann neben ausgewählten
Stellen der Bibel und des Talmud auch in mystisch-kabbalistischen Texten des
Sohar bestehen.
1 Universitätsbibliothek Leipzig, Ms Vollers 1102, Teil 1,
fol.131r. Erhältlich auf CD-Rom im Verlag Deutsches Historisches Museum, 2004.
Zum Ritual: Ivan R. Marcus, Rituals of Childhood. Jewish Acculturation in
Medieval Europe. New Haven and London 1996; Ders., Honey Cakes and Torah: A
Jewish Boy Learns his Letters, in: Judaism in Practice. From the Middle Ages
through the Early Modern Period (hg. von Lawrence Fine, Princeton 2001) 115-130.
2 Wenn also nicht einmal reine Tiere wie Rind und Schaf der
Tora nahe sein dürfen, um wieviel mehr ein unreiner Hund und – hier kommt die
für das Mittelalter typische antichristliche Polemik zum Ausdruck – ein
Nichtjude.
3 Eleasar ben Juda von Worms, Sefer ha-Rokeach, Hilchot
Azeret 4, nr. 3, gedruckt in Simcha Assaf, Quellen zur Geschichte der Erziehung
in Israel. Vom Beginn des Mittelalters bis zur Aufklärung (hebr.). 2 Bände, Tel
Aviv 1954, neu aufgelegt und bearbeitet von Shemuel Glik, New York, Jerusalem
2002. S. 3 nr. 4, Übersetzung von mir. Das Ritual ist auch beschrieben bei Ernst
Roth, Die Geschichte der jüdischen Gemeinden am Rhein im Mittelalter, in:
Monumenta Judaica. 2000 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein, hg. von
Konrad Schilling. Handbuch (Köln 1963) 114-116.
4 Evelyn M. Cohen, The Teacher, The Father and the Virgin
Mary in the Leipzig Mahzor. In: Proceedings of the Tenth World Congress of
Jewish Studies, Div. D, Vol. 2. Jerusalem 1990, S. 71-76.
5 Machsor Vitry nr. 508, gedruckt in Assaf, Quellen,
S. 3 nr. 3.
6 Marcus, Rituals, S. 71
7 Marcus, Rituals, dagegen betonte Israel Ta-Shema, Review on Ivan Marcus,
in: Jewish Quaterly Review 87/1-2 (Jul.-Oct.1996) 233-236, die jüdische
Eigenständigkeit mancher Elemente.
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