Die Töne des Schofars sind das faszinierendste und zugleich
unheimlichste Element der „Hohen Feiertage". Selbst diejenigen unter den
Gottesdienstbesuchern, die eigentlich nur noch zum Smalltalk die Synagoge an den
Feiertagen aufsuchen, bleiben von diesen Klängen nicht unberührt. Wie heißt es
im Tanach:
„Oder wird in die Posaune gestoßen in der Stadt, und das Volk
sollte nicht erschrecken?" (Amos, 3,6).
Die Tora berichtet aber nicht nur vom Gebrauch des Schofars
an „Rosch Ha-Schana", dem „Tag des Posaunenschalls" (Numeri 29,1), sondern auch
von anderen Gelegenheiten, wie Prozessionen und Kriegssignalen. Auch bei der
Offenbarung am Sinai war „mächtig starker Posaunenschall" (kol schofar chazak)
zu hören. So wird ebenfalls in der Gegenwart das Schofar bei unterschiedlichsten
besonderen Anlässen geblasen, wie z. B. bei der Rückkehr nach Jerusalem im
„Sechs-Tage Krieg". Und im vergangen Jahr wurde Papst Benedikt VI beim Besuch
der Kölner Synagoge ein Schofar geschenkt, nachdem der dortige Oberrabbiner
Ehrenberg dem Papst zu Ehren das Horn geblasen hatte.
Der große jüdische Denker Sa’adja Gaon (882 – 942) nannte
zahlreiche Gründe für das Schofarblasen. Darunter ist auch der folgende:
„Der Schofar soll uns ‘aus dem Schlaf des Jahres wecken’ und
uns sagen: Ihr sündigen Menschen, die ihr so tief in die Unlauterkeiten
der Welt verstrickt seid, besinnt euch endlich! Im Himmel wird ja schon geprüft,
was ihr dies Jahr hindurch getan habt, es ist Zeit zur Umkehr!"
Der bedeutendste jüdische Religionsphilosoph des
Mittelalters, Moses Maimonides (1135-1204), führte diesen Aufruf zur Umkehr noch
weiter aus:
„Erwacht, ihr Schläfer, aus eurem Schlaf und ihr
Schlummernden, wacht auf aus eurem Schlummer! Und denkt über eure Taten nach;
gedenkt eures Schöpfers und kehrt zu ihm in Reue zurück. Seid nicht solche, die
die Wirklichkeit versäumen, weil sie Schatten nachjagen, und die ihre Jahre in
der Suche nach eitlen Dingen verschwenden, die nicht erlösen und keinen Gewinn
bringen. Sorgt euch um eure Seelen und achtet auf eure Handlungen; ein jeder
verlasse seine falschen Wege und seine unrechten Gedanken und kehre zurück zu
Gott, damit Er sich eurer erbarme." (Maimonides, Mischne Tora, Hilchot Tschuwa,
III, 4)
Wie wir alle wissen, sind die Tage zwischen Rosch Haschana
und Jom Kippur die „Tage der Umkehr". Eine Zeit der Selbstfindung,
Selbsterforschung vielleicht auch der Reue über Taten des vergangenen Jahres.
Was bedeutet Umkehr? Maimonides beleuchtet zunächst einmal
die Bereitschaft zur Umkehr:
„Was ist vollkommene Umkehr? Kommt für einen die Gelegenheit
wieder, bei der er einmal gesündigt hat, und es liegt nun bei ihm, die Sünde
wieder zu begehen, er begeht sie aber nicht um der Umkehr willen und nicht aus
Angst oder mangelnder Kraft, so ist der ein vollkommen Umkehrender." (Maimonides,
Mischne Tora, Hilchot Tschuwa, II,1) Maimonides erklärt den hohen Status des
Umkehrenden, wobei ihm das Bekenntnis der Schuld sehr wichtig ist:
„Wer hochmütig ist und seine Sünden nicht bekannt macht,
sondern sein Unrecht verhüllt, dessen Umkehr ist keine vollkommene." (Maimonides,
Mischne Tora, Hilchot Tschuwa, II,5) Umkehr und Reue sind natürlich auch Themen,
die im Christentum eine große Rolle spielen. Eine sehr schöne Kritik an der „last-minute-Reue"
nach einem sündigen Leben lässt Hugo von Hofmannsthal den Teufel in seinem
„Jedermann" sprechen:
„Sitzt einer hier unter euch allen,
Der ins Gesicht mir tät bestreiten,
Dass dieser Mensch mir ist verfallen!...
Wenn eins sein Leben brav sich regt
Und nur auf uns sein Tun anlegt,
Recht weislich, fest und wohlbedacht,
Recht Stein auf Stein und Tag auf Nacht,
Wird solch ein wohlbeständig Ding
In einem Augenzwinkern neu?...
Ich wollt, dass er im Feuer läg.
Und kommt in einem weißen Hemd
Erzheuchlerisch und ganz verschämt." (Hugo von Hofmannsthal,
Dramen 3, Frankfurt a. M. 1979, S.68-71)
Aber was bedeutet heute überhaupt „Umkehr"? Sind die
hochfliegenden Gedanken eines Maimonides außerhalb des traditionellen Judentums
und der 613 Gebote überhaupt noch ansprechend? Viele werden über ihn nur lächeln
und sich mit intellektuellen Phrasen in den spöttisch-kritischen Tempel der
Distanzierung zurückziehen.
Daneben sind wir überall konfrontiert mit religiösem
Fanatismus, Atheismus und sagenhaft hohler „Spiritualität". Menschen entfliehen
scharenweise den Kirchen und Synagogen. Sie suchen geistige Nähe bei „moderner
Kabbala für Jedermann" oder bei anderen Heilsbringern, die die verschiedenen
Religionen und Mystiklehren oft wie einen Supermarkt plündern. Heute legen wir
Runen und morgen befragen wir die Tarot-Karten. Zeitgenössische Sackgassen.
Natürlich kann man sagen: Was ist das Gute an den Sackgassen? Sie zwingen zur
Umkehr.
Bereits 1943 bezeichnete Martin Buber diese aktuelle
Orientierungslosigkeit sehr treffend als „Gottesfinsternis".
„ ‚Aber scheint es Euch nicht seltsam, dass es Zeiten gibt,
wo es aussieht, als ließe uns Gott immer tiefer in den Dreck geraten und dächte
nicht daran uns herauszuholen?’ ‚Die Zeiten der großen Probe’, erwiderte der
‚Jude’, ‚sind die der Gottesfinsternis. Wie wenn die Sonne sich verfinstert, und
wüsste man nicht, dass sie da ist, würde man meinen, es gäbe sie nicht mehr, so
ist es in solchen Zeiten. Das Antlitz Gottes ist uns verstellt, und es ist, als
müsste die Welt erkalten, der es nicht mehr leuchtet. Aber die Wahrheit ist,
dass gerade erst dann die große Umkehr möglich wird, die Gott von uns erwartet,
damit die Erlösung, die er uns zudenkt, unsre eigene Erlösung werde. Wir nehmen
ihn nicht mehr wahr, es ist finster und kalt, als ob es ihn nicht gäbe, es
erscheint sinnlos, zu ihm umzukehren, der doch, wenn er da ist, sich gewiss
nicht mit uns abgeben wird, es erscheint hoffnungslos, zu ihm durchdringen zu
wollen. Ungeheures muss in uns geschehen, damit wir die Bewegung vollziehen.
Aber wenn das Ungeheure geschieht, ist es die große Umkehr, die Gott erwartet.
Die Verzweiflung sprengt das Verlies der heimischen Kräfte."(Martin Buber,
Zwischen Zeit und Ewigkeit, Gog und Magog, eine chassidische Chronik, Heidelberg
1978, S.150-151)
In noch ergreifenderen Bildern schilderte Buber in seinem
Vortrag „Dialog zwischen Himmel und Erde" die Zeit der Gottesfinsternis.
„Es ist, als entziehe er sich gänzlich der Erde, als nehme er
an ihrem Dasein nicht mehr teil. Wie kann man da leben! … In dieser Zeit wird
gefragt und gefragt: Wie ist nach Auschwitz ein jüdisches Leben möglich? Ich
möchte diese Frage richtiger fassen: Wie ist in einer Zeit, in der es Auschwitz
gibt, noch ein Leben mit Gott möglich? Die Unheimlichkeit ist zu grausam, die
Verborgenheit zu tief geworden. ‚Glauben’ kann man an den Gott noch, der
zugelassen hat, was geschehen ist, aber kann man noch zu ihm sprechen? Kann man
ihn noch anrufen? Wagen wir es, den Überlebenden von Auschwitz, dem Hiob der
Gaskammern, zu empfehlen: ‚Rufet ihn an, denn er ist gütig, denn ewig währt
seine Gnade?’… Wir rechten auch jetzt noch, auch wir noch, mit Gott, eben mit
ihm, den wir einst, wir hier, ihn, den Herrn des Seins, zu unserm Herrn erwählt
haben." (Martin Buber, An der Wende, Reden über das Judentum, Köln 1953,
S.104-106)
Sehr schön hat der chassidische Rabbi Nachman die Problematik
des Menschen in einem Satz zusammen gefasst, der in einen noch heute beliebten „Niggun"
der Breslover Chassidim vertont wurde: „Die ganze Welt ist eine sehr schmale
Brücke - und die Hauptsache ist: gar keine Angst zu haben! (Kol haolam kulo,
gesher tsar me’od, v’haikkar lo lefached klal)".
(Likutey Moharan, Band 5, Lektion 48, Jerusalem 1997)