Gerhard (Gershom) Arthur Scholem wurde 1897 als Sohn einer
jüdischen Familie in Berlin geboren. Seine Familie war ein Musterbeispiel des
deutsch-assimilierten Judentums. Hier fand man die jüdische Tradition nur noch
rudimentär. Die abweisende Haltung zur jüdischen Tradition war für die Zeit kein
besonderer Einzelfall, wie wir bei den Erinnerungen von Schalom Ben-Chorin oder
Ernst Simon sehen können. Nach einer Statistik von 1927 lebten 1925 172.672
Juden in Berlin. Das waren 4,3 % der Gesamtbevölkerung. Die Mehrheit der Juden
Berlins gehörte der liberalen, „deutsch-gesinnten" Gruppierung an. Sie sollten
ihre schärfsten Gegner in den Zionisten finden, die die Juden als ein Volk, eine
Nation sahen. Der Zionismus mit seinem nationalen Ideal sah sich von Anfang an
in Deutschland im Kampf mit der sogenannten Assimilation. Das lag auch zum
großen Teil daran, dass die Emanzipation und die bürgerliche Gleichberechtigung
eher dem Wunschdenken, als der Wirklichkeit entsprach. Die Gleichberechtigung
mußte doch letztendlich immer wieder individuell errungen werden. So lesen wir
bei Jakob Wassermann oder Hermann Cohen, die beide bedeutende Vertreter und
Verteidiger der deutsch-jüdischen Kultur waren, wie schwer der tatsächliche
Alltag von Deutschtum und Judentum gewesen war. Große Teile der nicht-religiösen
Jugend spürten diese Doppelbödigkeit. So auch Scholem, der das „deutschtümelnde"
Verhalten der Generation seiner Eltern eine Selbsttäuschung nannte.
„Ich empfand die Atmosphäre in meinem Elternhaus, einem
jüdischen Bürgerhaus liberaler Färbung, in der das Jüdische eine untergeordnete
oder gar keine Rolle spielte - die empfand ich als inadäquat, und ich wehrte
mich dagegen und fand, dass meine Eltern in ihrem Anspruch auf das Deutsche sich
selber täuschten." („...und alles ist Kabbala", Gershom Scholem im Gespräch mit
Jörg Drews, München 1980, S.36.)
Der Zionismus setzte bei dieser Orientierungslosigkeit an und
leistete vor allem bei der Jugend entscheidende Hilfe bei der Findung ihrer
eigenen jüdischen Identität. Die aufgegebene jüdische Tradition wurde nun
ersetzt durch ein, oft inhaltsloses, Bekenntnis zum Zionismus. Antizionismus,
deutscher Patriotismus und Ablehnung des Rituals waren die Hauptnenner der
liberalen Schicht, der seine Eltern angehörten. Die Familie war aus einem
Städtchen Niederschlesiens nach Berlin zu Beginn des 19. Jahrhunderts
eingewandert. In diesem Zeitabschnitt von der Auswanderung aus Schlesien bis zur
Geburt Gershom Scholems in Berlin kann man auch den Weg von der Orthodoxie
(Großvater Solm) bis zu einer fast völlig substanzlosen Auffassung des Judentums
(Vater Arthur) verfolgen, den die Familie gegangen war.
„Der Übergang in unserer Familie von der Orthodoxie zu Beginn
des 19. Jahrhunderts zur bereits totalen Assimilation zu Beginn des 20.
Jahrhunderts war ein Zeitraum von drei Generationen - von meinem Großvater durch
meinen Vater zu meiner eigenen Generation. In der dritten Generation war die
Assimilation vollendet oder es schien zumindest so." (Scholem, Devarim be-go,
Band 1, Tel Aviv 1976 [hebräisch], S.11)
Die jüdischen Riten wurden in der Familie Scholems
verwässert, teilweise lächerlich gemacht und in ihr Gegenteil verkehrt.
„Bei uns zu Hause gab es nur wenige wahrnehmbare Relikte des
Jüdischen, so etwa im Gebrauch jüdischer Redewendungen, die mein Vater zwar
vermied und deren Gebrauch er uns verbot, meine Mutter aber gern verwandte(...)
Vom jüdischen Ritual wurden bei uns nur die als Familienfeste geltenden
Freitagabende und der Sederabend eingehalten, wo alle Scholems bei der
Großmutter und später bei meinem Vater oder turnusmäßig bei einem seiner Brüder
zusammenkamen. Der Kiddusch, der hebräische Sabbatsegen, wurde dabei noch – nach
einer traditionellen Melodie aus dem Hause des Großvaters - gesungen, aber nur
noch halb verstanden. Das verhinderte auch nicht, dass man sich nachher an den
Sabbatlichtern eine Zigarette oder Zigarre anzündete. Da das Verbot, am Sabbat
zu rauchen, zu den weithin bekanntesten jüdischen Vorschriften gehörte, lag
darin etwas wie bewusste Mockerei. In der Pessachwoche lagen Brot und Mazze in
zwei Brotkörben nebeneinander (...). Auch an den Hohen Feiertagen und besonders
am höchsten jüdischen Feiertag, dem Versöhnungstag, der von der überwiegenden
Majorität noch als Fasttag eingehalten wurde, ging mein Vater ins Geschäft, und
von Fasten war keine Rede." (Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, erweiterte
Fassung, Frankfurt a. M. 1994, S.16-17.)
Dieses Durcheinander von Deutschtum und Judentum, welches
Scholems Eltern Arthur und Betty umgab, konnte ihn nur mit Argwohn erfüllen.
Solcherart vom Elternhaus in Bezug auf die jüdische Tradition irritiert und
verwirrt, begann er eine für seine Generation typische Suche nach der eigenen
Identität und Herkunft. Er verfolgte eine radikale Linie der persönlichen
Rückkehr zum Judentum, wobei er seinen Weg in einem Knäuel von innerjüdischen
Auseinandersetzungen und zunehmendem Antisemitismus von außen finden musste. Er
entwickelte dabei ein ganz spezifisches Zionismusverständnis, das neben der
Emigration nach Israel auch eine säkularisierte Rückkehr zu den jüdischen
Quellen beinhaltete. Ein Bruch mit der Welt seiner Eltern war dabei
unvermeidlich.
„Ein junger Jude am Anfang dieses Jahrhunderts stand, wenn er
nicht aus der streng gesetzestreuen Minorität stammte, einem Prozess
fortschreitender geistiger Zerfaserung des Judentums gegenüber. Es gab da etwas
Atmosphärisches, was aus der Umgebung eindrang; etwas Bewusstes, indem sich der
Wunsch nach Selbstaufgabe und zugleich doch nach menschlicher Würde und Treue zu
sich selbst dialektisch verschränkten; etwas von bewusstem Bruch mit der
jüdischen Tradition, von der verschiedenartigste und oft seltsame Stücke
atomisiert noch herumlagen, und von nicht immer bewusstem Hineinschleudern in
eine Welt, die an deren Stelle kommen sollte." (Von Berlin, S.30)
Scholem beschreibt in seiner Autobiographie auch die
Schicksale seiner drei Brüder, Reinhold, Erich und Werner. Der älteste Bruder
Reinhold stand politisch sehr rechts und wurde Mitglied der deutschen
Volkspartei. Er führte die Assimilation an das Deutsche noch weiter als der
Vater Arthur. So schrieb er in einem Brief seiner Mutter Betty an Gershom
Scholem folgenden Zusatz:
„Meinem jüdischen Bruder viele Grüße." (Betty Scholem,
Gershom Scholem, Mutter und Sohn im Briefwechsel, 1917 – 1946, München 1989,
S.49).
Scholem erzählte über ihn eine sehr bezeichnende Geschichte:
„Er wollte mit Leib und Seele Deutscher sein, und nicht nur,
weil wir in diesem Land Bürgerrechte erhalten hatten. Später wurde er Mitglied
der Deutschen Volkspartei, die eine Partei der Mitte auf der Schwelle zum
Liberalismus und Konservatismus war. Vermutlich wäre er, wenn die
Deutschnationalen Juden als Mitglieder begrüßt hätten, dort eingetreten. Als wir
ihn, der 1938 nach Australien ausgewandert war, kurz nach seinem 80sten
Geburtstag in Zürich wiedersahen, fragte meine Frau, die sich in deutschen
Verhältnissen nicht auskannte, was er denn eigentlich sei. Er sagte, vielleicht
etwas überspitzt: Ich bin Deutschnationaler. Was, sagte sie, und das nach
Hitler? Ich werde mir doch meine Anschauungen nicht von Hitler vorschreiben
lassen, erwiderte er. Sie blieb sprachlos." (Von Berlin, S.47).
Erich folgte der politischen Richtung der Eltern. Er war
Mitglied des Demokratischen Klubs und übernahm mit Reinhold den Druckereibetrieb
ihres Vaters. Werner vervollständigte das bunte Bild der Brüder: er wurde 1924
Reichstagsabgeordneter der KPD. Er, den die „Rote Fahne" als ultralinken
Intellektuellen einstufte, schloss die KPD 1926 aus der Partei aus. 1933 wurde
er von den Nazis verhaftet und 1934 freigesprochen. Er blieb aber in Schutzhaft
und trat den Leidensweg durch mehrere Konzentrationslager an. 1940 wurde er in
Buchenwald erschossen. Betty, Reinhold und Erich konnten rechtzeitig Deutschland
verlassen. Betty schrieb 1931 rückblickend über ihren Sohn Gershom und seinen
Zionismus:
„Von diesem Zeitpunkt wohl interessierte er sich für
Hebräisch u. Zionismus, der damals ein Kampfschrei war u. viel Unfrieden in den
Familien verursachte. Denn die meisten Väter wollten nichts davon wissen u. auch
unser Vater war der Meinung, dass so betontes Nationaljudentum nur den
Antisemitismus verschärfen müsse, während doch der Zionismus ganz offensichtlich
nur dessen Folgeerscheinung war. Arthur reizte den Jungen fortgesetzt durch
Schimpfen auf die Zionisten (...). Gerhard wurde durch den Widerstand natürlich
keineswegs von seinen Ideen abgezogen, sondern begann einfach, die Türen zu
seinen Bezirken zu schließen. Er lernte Hebräisch u. las bei dem alten Rabbiner
Eschelbacher Talmud, ohne etwas davon verlauten zu lassen, sein Verkehr blieb
uns unbekannt." (Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.530-531).
Scholem lernte Hebräisch bei seinem Religionslehrer Barol und
übte mit verschiedenen Grammatiken und Übungsbüchern zuhause. Um „ein Jude zu
werden", wollte er Hebräisch lernen und die Tradition erfahren.
„Als ich nach Hause kam und sagte, ich denke, ich möchte ein
Jude werden, antwortete mir Papa mit der Maxime, die damals unter den Deutschen
Juden populär war: Juden sind nur gut, um in die Synagoge zu gehen (...). Ich
war nicht sicher, ob ich ein praktizierender Jude sein wollte. Aber ein Jude
wollte ich sein." (Devarim be-go I, S.14).
Von nun an begann er regelmäßig die liberalen und dann auch
die orthodoxen Gottesdienste in den Synagogen zu besuchen. Die jüdische Gemeinde
Berlin hatte vor dem Ersten Weltkrieg verboten, dass in den Religionsschulen
offiziell Talmud oder ähnliche Quellen gelernt werden. Dies wäre nicht in
Einklang mit ihrer liberalen Gesinnung. Eine Anzahl von traditionellen Lehrern
hatten Klassen auch ohne Bezahlung eröffnet. In solch einer Klasse wurde er von
dem orthodoxen Rabbiner Isaak Bleichrode unterrichtet. Das Lernen der jüdischen
Quellen war ein fester Bestandteil von Scholems Zionismus-, bzw.
Judentumsverständnis.
„Wenn ich mich frage, ob ich eigentlich je das hatte, was man
in meiner Beziehung zur Erfahrung des Jüdischen ein Erlebnis nennen dürfte, so
weiß ich nur eine Antwort. Das war die Erschütterung im Frühjahr 1913, als ich
an einem Aprilsonntag bei Bleichrode die erste Seite des Talmud im Original
lesen lernte (...). Es war meine erste traditionelle und direkte Begegnung nicht
mit der Bibel, sondern mit jüdischer Substanz in der Tradition. Jedenfalls hat
diese Begegnung meine Bewunderung für das Jüdische und meine Hinneigung dazu
mehr als jede andere, die ich dann später auf diesem Gebiet gehabt habe,
bestimmt." (Von Berlin, S.53).
Mit großer Intensität arbeitete sich Scholem in das Studium
der jüdischen Quellen ein. Er wurde 1913 Mitglied der 1912 in Kattowitz
gegründeten „Agudas Jisroel", einer orthodoxen Weltorganisation. Er trat dort
nicht ein, um ein praktizierender Jude zu werden. Er wollte das Wissen der
religiösen Schriften vertiefen.
„Mir gefiel auch die neue Formulierung der Aguda, da der
`Geist der Tora´ mir durchaus sympathisch war. Diese Formulierung war aber ein
Stück orthodoxer Diplomatie, denn sie meinte gar nicht den Geist der Tora,
sondern viel präziser den Buchstaben des Schulchan Aruch." (Von Berlin,
S.56-57).
Scholem war durch seine Erziehung viel zu weit von der
Orthopraxis entfernt, als dass diese eine große Anziehungskraft auf ihn haben
könnte. Das verdeutlicht sein Ausspruch zu den Speisegesetzen, der Kaschrut: „Kaschrut
zum Beispiel - Küchenjudentum - hatte wenig Attraktivität für mich."
Scholem verließ die „Agudas Jisroel" 1914. Er lernte aber bei
anderen Lehrern - wie bei dem Rabbiner Ehrentreu in München - und im
Selbststudium bis zu seiner Auswanderung nach Israel 1923. Die von Bleichrode
geweckte Faszination der alten Quellen sollte sich mit seinem Interesse für
Geschichte verbinden und einen Eckpfeiler für seine spätere Entwicklung bilden.
Seine Rückkehr zum Judentum führte ihn weder zur Orthodoxie, noch zum reinen
Nationalismus.
„Ich war nicht reif genug, um die Fronten und die unter so
vielen Formeln versteckten Alternativen deutlich zu erkennen und habe etwa zwei
Jahre gebraucht, um all diese Eindrücke aufzunehmen, und es brodelte vieles in
mir durcheinander. Bestimmend blieb aber der Wunsch, die Quellen der jüdischen
Tradition mir vertraut zu machen." (Von Berlin, S.62-63).
Bei Scholems Zionismus stand die geistig-kulturelle
Erneuerung im Vordergrund.
„In diesem Zusammenhang ist auch zu sagen, dass ich mich dem
Zionismus nicht zuwandte, weil mir die Errichtung eines jüdischen Staates (...)
als Hauptziel der Bewegung dringlich und durchaus einleuchtend war (...). Sehr
einflussreich waren dagegen Tendenzen, die die Besinnung der Juden auf sich
selbst, auf ihre Geschichte und eine mögliche Wiedergeburt geistiger und
kultureller, vor allem aber auch gesellschaftlicher Natur gerichtet waren. Wenn
irgendeine Aussicht auf eine wesentliche Erneuerung bestand, in der das Judentum
das ihm innewohnende Potential voll realisieren würde, so glaubten wir, könne
das nur dort drüben geschehen, wo der Jude sich selbst, seinem Volk und seinen
Wurzeln begegnen würde." (Von Berlin, S.61).
Scholem begann früh eine Richtung einzuschlagen, die sehr von
Rebellion bestimmt war, wie seine Opposition gegen seinen Vater Arthur und das
deutsch-assimilierte Judentum der Familie.
„Mein Herr Sohn betreibt lauter brotlose Künste. Mein Herr
Sohn interessiert sich für Mathematik, für reine Mathematik. Ich sage zu meinem
Herrn Sohn: Was willst du? Als Jude hast du keine Chance auf eine
Universitätslaufbahn. Du kannst keine bedeutende Stellung bekommen. Werde
Ingenieur und geh auf die Technische Hochschule, da kannst du soviel Mathematik
in deinen Mußestunden machen, wie es dir passt. Nein, mein Herr Sohn will nicht
Ingenieur werden, nur reine Mathematik. Mein Herr Sohn interessiert sich für
Jüdischkeit. Ich sage zu meinem Herrn Sohn: Bitte, werde Rabbiner, da kannst du
soviel Jüdischkeit haben wie du willst. Nein, mein Herr Sohn will auf gar keine
Weise Rabbiner werden. Brotlose Künste." (Von Berlin, S.71).
Arthur fühlte sich als „deutscher Patriot". Er lehnte die
kommunistischen Aktivitäten seines Sohnes Werner ebenso als „Landesverrat" ab,
wie die späteren zionistischen seines Sohnes Gershom, der ihn mit
Hebräisch-lernen, Talmud-lesen und Emigration konfrontierte. Arthur griff die
Ideen von Werner und Gershom vehement an. Für ihn bedeutete Kommunismus und
Zionismus eine Kampfansage an die politischen Denkweisen seiner Schicht und der
Untergang des deutsch-assimilierten Judentums. Eine sehr bezeichnende Stelle
findet sich in einem Brief von ihm an Gerhard von 1917:
„Solltest Du aber Deiner antideutschen Gesinnung irgendwie
erkennbaren Ausdruck geben, so würde ich das Tischtuch zwischen uns ebenso
zerschneiden, wie ich es mit Werner - leider zu spät - getan habe." (Mutter und
Sohn im Briefwechsel, S.14).
Diese harten Worte schrieb er zu einer Zeit, in der ihre
Beziehung bereits hoffnungslos zerrüttet war.
„Zwei weitere Tage später erhielt mein Vater die offizielle
Mitteilung der Behörde, dass sein Sohn [gemeint ist der Bruder Werner] verhaftet
und wegen Landesverrat vor ein Kriegsgericht kommen würde. Es gab eine
fürchterliche Szene am Mittagstisch. Als ich gegen eine seiner Behauptungen
leisen Einspruch erhob, bekam er einen Wutanfall. Er hätte nun genug von uns
beiden. Sozialdemokratie und Zionismus - alles dasselbe, kriegsgegnerische und
deutschfeindliche Umtriebe, die er in seinem Haus nicht weiter dulden würde. Er
wolle mich nicht weiter sehen."(Von Berlin, S.92-93).
Wie ernst der Vater diesen heftigen Vorwurf gemeint hatte,
zeigt die Tatsache, dass er seinem Sohn einen Tag später einen eingeschriebenen
Brief schickt:
„Ich habe mich entschlossen, für Dich nicht mehr zu sorgen
(...). Du hast bis zum 1.März meine Wohnung zu verlassen und wirst sie ohne
meine Erlaubnis nicht mehr betreten." (Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.13).
Allein Scholems Mutter sorgte dafür, dass auch weiterhin der
Sohn finanziell und materiell unterstützt wurde. Scholem, der Mathematik und
Philosophie studierte, hatte in den Jahren 1915-1919 zaghaft begonnen, auch
kabbalistische Texte zu studieren. Dann ging er nach München, um in der dortigen
Handschriftenabteilung ein intensives Quellenstudium zu betreiben. Sein
Interesse für Kabbala war durch Einfluss ostjüdischer Gelehrter, wie Salman
Rubaschow, aber auch Walter Benjamin und Martin Buber entstanden. Ein
bedeutender Ort für Scholem war hierbei die Berliner Pension Struck, in der er
seit seinem Auszug aus dem Elternhause wohnte. In Gesprächen mit Menschen wie
Salman Rubaschoff, Samuel Josef Agnon und Micha Berdichevsky entdeckte Scholem
Juden, die, anders als die deutschen Zionisten, sich trotz aller Abkehr von der
Orthodoxie, als Juden, als Volk, betrachteten und tief im Inneren mit dem
Judentum verbunden waren. Als er sich zu einer Dissertation über Kabbala
entschloß, übernahm er von der „Wissenschaft des Judentums" das Werkzeug, eine
streng rationalistische Philologie, eventuell von Benjamin das Problem der
Sprachtheorie und angeregt von Buber und den ostjüdischen Beziehungen den Stoff:
die Kabbala. Als er einige der kabbalistischen Meditationen auch versuchte
praktisch auszuprobieren, musste er allerdings feststellen, dass sie „geistesverwüstend"
seien. Daher blieb er zeitlebens bei der rein theoretischen Beschäftigung mit
der faszinierenden Materie. Scholem sah in der verschütteten und vielfach
geschmähten Kabbala einen Teil der jüdischen Geistesgeschichte, der
revolutionäre und anarchistische Utopien aufwies. Er stellte sich die Frage, ob
nicht dieses „unterirdische" Judentum das „eigentliche" sei. Scholem suchte die
jüdische Totalität, die er in seiner persönlichen Umgebung vermisste. Er
fahndete nach Wegen zum echten Kern des Judentums. Das Judentum bestand für ihn
aus einer pluralistischen Vielfalt von Möglichkeiten, Wahrheiten zu finden. So
ist es verständlich, dass er jede Form einer dogmatischen Theologie verachtete.
Judentum konnte für ihn nicht eindeutig definiert werden. Es war für ihn nicht
allein säkularer Zionismus oder religiöse Tradition. Judentum bedeutet eine
geschichtliche Aufgabe, die sich immer wieder neu stellt, solange es Juden gibt.
Er wollte kein versponnenes romantisches Fabulieren über die Zukunft des
Judentums, sondern das in die Krise geratene jüdische Selbstverständnis durch
das Versenken in die Vergangenheit modernisieren. Dieses neue jüdische
Geschichtsbewusstsein war ohne die Verknüpfung mit der Auswanderung nach Israel
und dem Erlernen der Hebräischen Sprache nicht denkbar. So verwundert es nicht,
dass er bereits 1923, nach Abschluss der Promotion, nach Israel einwanderte. Er
wurde Bibliothekar an der hebräischen Abteilung der Nationalbibliothek in
Jerusalem. Zwei Jahre später erfolgte seine Berufung als Dozent an die neu
gegründete „Hebräische Universität".
„Jedenfalls wurde ich wenige Monate nach der mit großer
Feierlichkeit erfolgten Eröffnung der Universität (Anfang April 1925) als Dozent
für das bis dahin wissenschaftlich so gut wie unerforschte Gebiet der jüdischen
Mystik berufen und konnte meine ganze Arbeitskraft von meinem 28. Jahr an der
Forschungsrichtung zuwenden, die mein kurz vorher verstorbener Vater als
brotlose Künste beklagt hatte." (Walter Benjamin, S.162-163).
Er blieb Erforscher der Kabbala und wurde selbst nie
Kabbalist. Seine Frau Fania erzählte später:
„1940 kamen die sieben größten praktizierenden Kabbalisten
der Welt zu uns nach Jerusalem in die Abarbanelstraße an unseren Küchentisch und
wollten das eine Wort von Gerhard haben, das einzige Wort, das Hitler tötet… Die
sieben größten praktizierenden Kabbalisten der Welt… saßen um unsern
Küchentisch, saßen vom Abendstern zum Morgenstern, beschworen Gerhard des
einzigen Wortes wegen… Und als der Morgenstern untergegangen war…standen die
sieben größten Kabbalisten auf vom Tisch und gingen fort, denn Gerhard… er hat
es ihnen nicht gesagt, das Wort… Natürlich gibt’s das Wort…natürlich hat er es
gekannt… (er hat es nicht gesagt), weil er gewusst hat… dass er nicht eingreifen
darf in den Ablauf der Geschichte." (Ulla Berkowicz, Vielleicht werden wir ja
verrückt, eine Orientierung im vergleichenden Fanatismus, Frankfurt a. M. 2002,
S.74-75) Scholem blieb auch zeitlebens Zionist und gab seine Hoffnung auf eine
geistige Renaissance des Judentums durch und in Israel nie auf. Er starb 1982 in
Jerusalem.