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Schanghai als Fluchtburg während des Holocausts

Urs SCHOETTLI

Als Deng Xiaoping vor drei Jahrzehnten nach den Verheerungen der Kulturrevolution die ersten bescheidenen Wirtschaftsreformen anstieß, wusste er, dass die Modernisierung Chinas nur durch die Öffnung des Landes gegenüber der Außenwelt zu verwirklichen war. Das Reich der Mitte, das unter dem „Grossen Vorsitzenden" völlig verarmt war, benötigte ausländisches Kapital sowie ausländische Technologie und Expertise, um sich aus den Fesseln des Steinzeitkommunismus zu befreien. Auch gab es für die Güter, die in den wirtschaftlichen Sonderzonen hergestellt wurden, wegen mangelnder Kaufkraft keinen Absatz im Inland, sodass man auf Exportindustrie setzen musste. Inzwischen ist seit diesen bescheidenen Anfängen sehr viel geschehen und China ist zu einer der wichtigsten Handels- und Wirtschaftsmächte der Erde aufgestiegen.

Nichts ist wohl symbolischer für das moderne, aufstrebende China als die glitzernde Skyline von Pudong, dem riesigen neuen Geschäftsviertel mit seinen Hunderten von Wolkenkratzern, das jenseits von Schanghais Huangpu Fluss auf einem Terrain errichtet wurde, das noch vor zwei Jahrzehnten mehrheitlich aus Reisfeldern bestand. Die meisten kennen in der heutigen schnelllebigen Zeit Schanghai nur als mondänes Geschäftszentrum und potente Industriemetropole. Ältere Semester erinnern sich jedoch daran, dass die Stadt einst in der Zwischenkriegszeit eine sehr lebendige Weltstadt und Ostasiens Zentrum für legale wie zwielichtige Geschäfte gewesen war. Ermöglicht wurde dies durch ein besonderes Statut, durch welches die Stadt in mehrere ausländische Enklaven unterteilt war.

Als im 19. Jahrhundert die neuzeitliche Begegnung des Reichs der Mitte mit den europäischen Kolonialreichen begann, setzten diese anders etwa als im Falle Indiens, Indonesiens oder Indochinas nicht auf die großflächige Übernahme von Territorien. Vielmehr wurden Handelsaußenposten errichtet, für die mittels ungleicher Verträge die rechtliche Selbständigkeit von der chinesischen Obrigkeit erzwungen wurde. Diese auch mit den beiden Opiumkriegen untermauerte imperialistische Expansion hat tiefe Wunden in die chinesische Seele geschlagen. Im wesentlichen profitierten die auswärtigen Mächte, allen voran Großbritannien und Frankreich, sodann auch das Deutsche Reich, von der Ohnmacht der sich in der dekadenten Endphase befindlichen Ch’in-Dynastie, der letzten Kaiserdynastie, die über das Reich der Mitte herrschte. Die ausländischen Enklaven bestanden auch nach der Ausrufung der chinesischen Republik im Jahre 1911 fort. Unter anderem wurde durch die willkürliche Verfügung der Versailler Friedenskonferenz, 1919 die deutschen Besitzungen im östlichen China ohne Befragung der betroffenen Bevölkerung in japanischen Besitz zu übertragen, zum Anlass für die erste moderne, liberale Bewegung in China, die von Studenten getragene „Bewegung vom 4. Mai". Während des Bürgerkriegs und auch während des Zweiten Weltkriegs dauerte das Sonderstatut Schanghais fort. Dieses wurde de jure erst mit der Errichtung der Volksrepublik am 1. Oktober 1949 beseitigt.

Während die Extraterritorialität der Fremdherrschaft über Schanghai für die Chinesen eine nationale Erniedrigung war, sollte sie den jüdischen Flüchtlingen, die dem Holocaust zu entkommen suchten, die Rettung bedeuten. Zeitweilig war Schanghai die einzige Fluchtburg auf der weiten Welt, in der Juden ohne Visum aufgenommen wurden. Heute sind von dieser bewegten Zeit, als es in Schanghai ein eigentliches jüdisches Ghetto gab, nur noch wenige Bauzeugen vorhanden und direkte Nachkommen der nach Schanghai Geflüchteten gibt es keine mehr in der Metropole im Jangtse-Delta. Während der Herrschaft Maos wanderten die letzten Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Schanghai aus. Heute selbstverständlich gibt es wieder eine lebendige jüdische Gemeinschaft, die am neu aufgeblühten Handel und Wandel in Schanghai aktiv beteiligt ist. Auch finden sich unter den Besuchern Schanghais immer wieder Menschen, deren Vorfahren in Schanghai Zuflucht gefunden hatten. Marcia Reynders Ristaino hat mit dem Buch „Port of Last Resort. The Diaspora Communities of Shanghai", erschienen 2001 in der Stanford University Press, ein Standardwerk über das Leben der jüdischen Flüchtlinge und der jüdischen Gemeinden in Schanghai geschrieben.

Bemerkenswert ist zunächst, dass die Japaner, obschon sie mit Nazideutschland verbündet waren, nach dem Fall Schanghais unter ihre Herrschaft die Fluchtburg nicht beseitigten. Berlin, das in Schanghai selbst über ein großes Kontingent an Spionen und NSDAP-Kadern verfügte, drängte die Japaner zwar dazu, die jüdischen Flüchtlinge auszuweisen oder gar zu ermorden, doch Tokyo ging auf diese Forderung nicht ein. Es gibt für dieses Verhalten eine Reihe von Erklärungen. Eine These geht davon aus, dass die Japaner für den Aufbau ihres wirtschaftlich ambitiösen Imperiums in Ostasien auf jüdisches Kapital und jüdische Expertise hofften, wobei allerdings der Angriff auf Pearl Harbour zumindest, was die jüdische Gemeinschaft in den USA betraf, einen Strich durch die Rechnung machte. Plausibler ist die Vermutung, dass Tokyo mit Hitlers Judenverfolgung nichts anfangen konnte. Zwar begingen die Japaner vor allem auch in China Kriegsverbrechen, die an Grausamkeit mit den Verbrechen der SS und der Wehrmacht zu vergleichen waren. Zwar waren auch die Japaner von einem Rassenwahn besessen wie die Deutschen, ein Rassenwahn, der übrigens auch in den beiderseitigen japanisch-deutschen Beziehungen eine unterschwellige Rolle gespielt haben dürfte, konnten doch die Japaner als auserwähltes Volk in den Deutschen nichts anderes als minderwertige Barbaren sehen. Ungeachtet all dieser fatalen Gemeinsamkeiten kam es den Japanern indessen nie in den Sinn, eine Todesmaschinerie von der physischen Barbarei und der bürokratischen Perfektion zu errichten, wie sie Hitler und seine Millionen von Mittätern und Mitläufern beim Vorhaben der Judenausrottung in die Wirklichkeit umgesetzt hatten.

Aus der Rückschau betrachtet hatten die jüdischen Flüchtlinge, die in Schanghai unterkommen konnten, das große Los gezogen. Unmittelbar im Geschehen selbst war indessen das Schicksal der Menschen, die jenseits ihrer abgestammten Umgebung in einer völlig neuen Kultur Unterschlupf fanden, ein hartes. Einmal abgesehen von der allgemeinen langjährigen Ungewissheit, ob letztendlich nicht die Achsenmächte doch noch das Völkerringen für sich entscheiden würden, ging es auch um tagtägliche Herausforderungen, die zuweilen existenzbedrohende Ausmaße annehmen konnten. Die Menschen landeten in Schanghai oft nur mit dem Nötigsten und sehr geringen finanziellen Mitteln und mussten sich in einer Stadt, die ihre gloriosen Zeiten längst gesehen hatte, die vom Bürgerkrieg und Zweiten Weltkrieg umzingelt war, in der sich die Flüchtlinge drängten, erst einmal eine kümmerliche Existenz aufbauen. Dass dies den meisten schlecht und recht gelang, ist nicht nur ein Tribut an den Überlebenswillen und die Heroik der einzelnen Menschen, sondern es reflektiert auch die außergewöhnliche Solidarität, zu welcher die jüdische Gemeinschaft in Schanghai und darüber hinaus fähig war.

Liest man Augenzeugenberichte aus der Zeit des jüdischen Exils in Schanghai, so fällt auch auf, wie unter all der Ungewissheit die Menschen sich ein einigermaßen normales Leben haben einrichten können. Zum eindrücklichsten gehört das kulturelle Leben, das sich sozusagen in der Schanghaier Diaspora entwickeln konnte. Die jüdischen Flüchtlinge, die aus Deutschland, Österreich, Polen und Russland nach Schanghai kamen, brachten aus ihrer Heimat ihre Traditionen und ihre kulturellen Affinitäten mit. Zahlreiche Clubs wurden gegründet, es gab in Schanghai Zeitungen in deutscher und jiddischer Sprache, Wiener Cafes und russische Musiker und Tänzer. Angesichts der schwierigen materiellen Rahmenbedingungen ist dieses rege gemeinschaftliche Leben zu bewundern. Obschon in den rund sechs Jahrzehnten, die seit dem Kriegsende vergangen sind, viel verloren gegangen ist und auch die schwere Not, die China unter Mao zu erleiden hatte, weiteres Unheil anrichtete, so muss es in privaten Haushalten wohl noch reiches Material über die jüdische Diaspora in Schanghai geben.

Die ersten Juden, die in Schanghai Wohnsitz nahmen und es zu großem Wohlstand brachten, waren Abkömmlinge von Bagdader Juden, die im frühen 19. Jahrhundert nach dem Fernen Osten aufgebrochen waren und sich in Bombay, später Hongkong und Schanghai ansiedelten. Namen wie Kadoori oder Sassoon sind noch heute in all diesen drei Orten ein Begriff. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts flohen Tausende vor den Pogromen in Russland erst in die Mandschurei, von wo sie nach der Annexion ans japanische Imperium nach Schanghai weiter zogen. Schließlich trafen zwischen 1937 und 1939 20 000 Juden aus Europa in Schanghai ein. Einige gingen nach Palästina, Australien oder Amerika, doch rund 90 Prozent verblieben in Schanghai, wo sie als staatenlose Flüchtlinge in einem Ghetto, Hongkou, untergebracht wurden. Die Lebensverhältnisse waren alles andere als ideal, boten aber im Vergleich zu Europa, wo stets die Deportation ins Konzentrationslager drohte, Sicherheit.

Nach dem Krieg ging die Zahl der Juden in Schanghai rasch zurück. Die meisten wanderten nach Palästina oder in die USA ab, wo sich ihnen eine bessere Zukunft bot als in China, das nach dem Kriegsende noch vier Jahre blutigen Bürgerkrieg zu erdulden hatte. Zudem waren die Flüchtlinge in der chinesischen Umgebung aus nahe liegenden Gründen stets Fremdlinge geblieben. Die Austerity und die totalitäre Planwirtschaft, welche die ersten drei Jahrzehnte der Volksrepublik prägten, trugen dazu bei, dass Schanghai, die einstige kosmopolitische Metropole, in Armut und kommunistischer Eintönigkeit versank, aus der sie sich endlich erst in den letzten zwei Jahrzehnten hat befreien können.

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