Die einzigartige Anlage des Währinger jüdischen Friedhofes
eröffnet Einblicke in einen dynamischen, vielfältigen und spannungsreichen
jüdischen Aspekt der Vergangenheit Wiens.
Zwischen 1784 und 1890 wurden auf dem Währinger jüdischen
Friedhof rund 9.000 Personen bestattet. Sie repräsentieren den überwiegenden
Teil der jüdischen Bevölkerung Wiens bis in die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts
hinein. So weisen sie mit ihren biografischen Merkmalen auf die Entstehung und
Entwicklung der Wiener jüdischen Gemeinde in dieser Zeit, aber auch auf die
gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen dieser
Entwicklung hin. Der Währinger jüdische Friedhof stellt damit eine bedeutende
Quelle der Wiener Stadtgeschichte, mit seinen bemerkenswerten Details aber auch
ein Zeugnis der rasanten Veränderungen der gesamten Epoche in der
Habsburgermonarchie dar.
Bereits die räumliche Einteilung des Areals verweist auf die
eminente Bedeutung des Währinger jüdischen Friedhofes als Spiegel
wirtschaftlicher und sozialer, kulturhistorischer, religionsgeschichtlicher
sowie architektonischer Entwicklungen. Neben dem ältesten Teil der Anlage mit
den architektonisch bedeutendsten Grabstätten bestehen die Hauptallee mit den
Gräbern für Angehörige der Priesterfamilien, die Grüfte der assimilierten
Unternehmer- und Industriellenfamilien entlang der Einfriedungsmauern, eine
eigene, höchst bedeutende Gruppe sephardischer Gräber, Gruppen mit Kinder- und
Frauengräbern sowie Bereiche für Armengräber. Die Familiengrüfte wurden von
Repräsentanten der Ringstrassenzeit errichtet, die an der Industrialisierung der
Habsburgermonarchie massgeblich mitwirkten. Diese ersten modernen Unternehmer
gründeten heute noch genutzte Infrastruktureinrichtungen wie Eisenbahnlinien,
Versicherungsgesellschaften, Nahrungsmittel-, Konsumgüter- und Textilindustrie.
Die im Zuge des 19. Jahrhunderts auch in den habsburgischen
Ländern durchgesetzte Modernisierung der Gesellschaft findet ihren Niederschlag
einerseits in der sich wandelnden architektonischen Gestaltung der Grabstätten
selbst, andererseits aber auch in der Verwendung aussergewöhnlicher
Baumaterialien, die für deren Gestaltung gewählt wurden.
Das elegante Grabmal des Siegfried Philipp Wertheimber – er
zählte zu den „tolerierten" Grosshändlern in Wien zu Beginn des 19. Jahrhunderts
- ist ein schönes Beispiel für den damals beliebten, im Vergleich zu späteren
Formen noch sehr traditionellen „ägyptischen" Gestaltungsstil. Gusseiserne
Grabdenkmäler erinnern an den Boom dieses Baumaterials in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts und wecken Assoziationen zu Weltausstellungen und berühmten
Bauwerken in ganz Europa. Der Friedhof bietet in seiner Vielfältigkeit ein
Abbild des breiten, sich wandelnden religiösen Spektrums zwischen
Traditionalismus und Aufklärung. Hinweise darauf finden sich in allererster
Linie in der Auswahl der Grabinschriften und in deren Gestaltung, aber auch ganz
wesentlich in der ornamentalen Gestaltung der Grabsteine. Auch die räumliche
Orientierung der Grabstellen lässt Rückschlüsse auf den Grad der Anpassung an
christliche Beerdigungstraditionen zu. Auf dem Währinger jüdischen Friedhof sind
noch mehr als 90% der Grabstellen „geostet", also entlang der Ost-West-Achse
orientiert; lediglich die Familiengrüfte entlang der Umfassungsmauern folgen
nicht mehr diesem Gesetz. Die sephardische Abteilung auf dem Währinger jüdischen
Friedhof stellt eine eigene riesige Gruppe dar. Die Vielzahl stehender
Grabstelen ist im europäischen Vergleich eine absolute Besonderheit - die
sephardischen Grabstellen sind für gewöhnlich mit pultartig liegenden
Grabplatten versehen, wie etwa in Hamburg und Amsterdam. Stelen und Häuschen
erinnern in der Gestaltung und Ornamentik stark an orientalische
Bestattungstraditionen. Im Wien des frühen 19. Jahrhunderts hatte sich aufgrund
besonderer Einwanderungsbedingungen eine grosse sephardische Gemeinde gebildet;
die Stadt war damals ein Zentrum des europäischen Orienthandels.
Familiengrüfte entlang der Friedhofsmauern repräsentieren die
wirtschaftlich erfolgreichen sozialen Aufsteiger unter den jüdischen
Einwanderern nach Wien, die diesem Umstand auch gesellschaftlich Ausdruck zu
verleihen bestrebt waren. Sie waren in der Mehrzahl Verfechter einer
weitgehenden Assimilation an die umgebenden Gesellschaft, denn nur diese
garantierte ihnen sozialen Status und wirtschaftlichen Erfolg. Schliesslich
bildet der Friedhof auch die Geschichte der Wiener Kultusgemeinde in jener Zeit
ab, von deren Vorstadien unter schwierigsten Bedingungen bis hin zu ihrer
endgültigen Etablierung. Sämtliche Gründungsmitglieder sind auf dem Währinger
jüdischen Friedhof beerdigt. Das Spannungsfeld zwischen Aufklärung und
Assimilation auf jüdischer Seite und gesetzlichen, sozialen und ökonomischen
Schranken der umgebenden nichtjüdischen Gesellschaft, die trotz all dieser
Bemühungen von den meisten jüdischen Bewohnern Wiens nicht überwunden werden
konnten, läßt sich an der Vielfalt der Grabstätten in eindrucksvoller Weise
ablesen.