Erinnert man heute an die 68er-Bewegung, kommt die Sprache
schnell auf die Ereignisse des Pariser Mai, in dem die französischen Studenten
und Arbeiter das Land an den Rand einer revolutionären Situation brachten. Wenig
bekannt ist hingegen, wer die geistigen Wegbereiter dieser Ereignisse waren. An
zentraler Stelle sind hier Guy Debord und die „Situationistische Internationale"
(SI) zu nennen. Debord war Vordenker dieser Intellektuellengruppe, über die in
den letzten zehn Jahren auch einige Bücher auf Deutsch erschienen sind. In der
Regel beschränkt man sich auf ein Abfeiern Debords als autonomen Intellektuellen
und würdigt die sowohl kunst- als auch politavantgardistischen Leistungen der
SI. Ihre Einschätzungen zu Israels Existenz werden kaum zur Kenntnis genommen.
Der Zionismus und Israel waren weder für die SI noch für
Debord ein zentrales Thema. Dennoch gibt es einige Äußerungen dazu. Die
Unterschiedlichkeit dieser Äußerungen weist gewisse Parallelen zur Entwicklung
der deutschsprachigen Linken auf, die sich von einer prozionistischen
Nachkriegslinken hin zu einem antizionistischen Hetzkollektiv in den 1970er
Jahren transformierte. Die anfänglichen Äußerungen der SI zu Israel zeugen
keineswegs von einer hasserfüllten Ablehnung des zionistischen
Staatsgründungsprojekts, sondern setzen sich zum einen durchaus wohlwollend mit
der Kibbutz-Bewegung auseinander und versuchten zum anderen eine
linkskommunistische Kritik am damals in Israel bestimmenden sozialdemokratischen
und linkssozialistischen Arbeiterzionismus zu formulieren. Hier ist keineswegs
von einem antisemitisch konnotierten Antizionismus zu sprechen, sondern es
handelt sich sowohl um eine universalistische als auch eine innerisraelische
Kritik, da einige dieser frühen Ausführungen von einem israelischen Mitglied der
SI stammen: Jacques Ovadia, der Israel 1960 als „country in the making"
charakterisierte. Spätestens während des Sechs-Tage-Kriegs fand jedoch auch die
SI, zu der Ovadia auf Grund seines Austritts 1961 nicht mehr gehörte, zu jenem
unreflektierten Antizionismus, wie er seit dem für große Teile der Linken
charakteristisch ist.
Die Schrift, in der das am deutlichsten wird, unterscheidet
sich aber dennoch grundlegend vom ordinären Antiimperialismus der vermeintlich
radikalen wie der reformistischen Linken und insbesondere auch von Dieter
Kunzelmanns Nationalsituationis-mus mit seinem offen artikulierten
Antisemitismus. In „Zwei lokale Kriege", einem Text der im Oktober 1967 in der
11. Nummer des Organs der SI erschien und vermutlich von dem aus Tunesien
stammenden Mustapha Khayati verfasst wurde, werden der Vietnamkrieg und der
Sechs-Tage-Krieg untersucht. Auch in diesem Text ist linkskommunistische Kritik
am sozialdemokratischen und linkssozialistischen Arbeiterzionismus mit seinen
realsozialistischen Erscheinungsformen wie etwa der Einheitsgewerkschaft
Histadrut zentrales Anliegen. Er beginnt mit einer Kritik am
antiimperialistischen Bedürfnis, das über jede Regung im Trikont entzückt ist,
und sich für jede Form bewaffneter Auflehnung begeistert, so die
Antiimperialisten in Europa sie nur nicht selbst betreiben müssen. Khayati macht
sich über das manichäische Denken des europäischen Antiimperialismus lustig,
liefert eine knappe Kritik der leider bis heute hoch im Kurs stehenden
Lenin´schen Imperialismusvorstellung und formuliert seine Kritik an der
US-Außenpolitik nicht, wie man das gegenwärtig kennt, aus einem
antiamerikanischen Ressentiment heraus.
Auch die Äußerungen in Bezug auf Israel unterscheiden sich
deutlich von jenen offen antisemitischen Pamphleten, wie sie kurz darauf in der
deutschsprachigen Linken Mode werden sollten. Dennoch: Man merkt schon an der
Sprache, dass es hier nicht mehr um eine wohlwollende Kritik an
Fehlentwicklungen in einer Gesellschaft geht. So ist in „Zwei lokale Kriege"
beispielsweise nicht von notwendigen Maßnahmen der Israelis zum Zwecke des
Selbstschutzes die Rede, sondern von der israelischen „imperialis-tischen
Expansion". Aus der Diskriminierung der arabischen Israelis wird flugs eine
„rassistische Verfolgung" und die Proklamation des jüdischen Staates, die
immerhin nach einem UNO-Beschluss und in Übereinkunft mit der
institutionalisierten Weltgemeinschaft erfolgte, wird zum „willkürlichen" Akt
umgelogen.
Die SI spricht dem Zionismus jedes revolutionäre Potential
ab. Der bürgerlich-revolutionäre Charakter Israels, der gerade in seinem
zionistischen Charakter begründet liegt, wird bei ihnen ebenso wenig
thematisiert wie die zwar ungewollte, aber doch offensichtliche Nähe des
Zionismus zu Walter Benjamins Vorstellungen einer negativen
Geschichtsphilosophie und der Revolution als Akt einer „rächenden Klasse". Diese
Ignoranz ist nur möglich durch die völlige Ausblendung der Shoah. Der
Vernichtungsantisemitismus verschwindet bei der SI hinter allgemein reaktionären
Entwicklungen, wenn sie schreiben: „Gewiß hat ihm (dem Zionismus, S. G.) die
konterrevolutionäre Entwicklung im letzten halben Jahrhundert recht gegeben,
aber auf dieselbe Art wie die Entwicklung des europäischen Kapitalismus
Bernsteins reformistischen Thesen recht gab."
Wenn man unter einer revolutionären Lösung die Etablierung
der staaten- und klassenlosen Weltgesellschaft versteht, hat die SI im gewissen
Sinne recht, wenn sie schreibt, dass die zionistische Bewegung von Anfang an
„das Gegenteil einer revolutionären Lösung dessen (war), was man die
Judenfrage nannte." Nur stand genau solch eine revolutionäre Lösung 1945
nicht auf der Tagesordnung, schon gar nicht im arabischen Raum, in dem sich die
klerikalfaschistischen, monarchistischen und pan-arabistisch sozialistischen
Regimes und Gruppierungen vielmehr anschickten, den nationalsozialistischen
Antisemitismus samt seines Vernichtungsprojektes unter veränderten Bedingungen
fortzuführen.
Zu welchen fatalen Konsequenzen die Ignoranz gegenüber der
antisemitischen Ideologie führt, wird deutlich, wenn man jene Passagen aus „Zwei
lokale Kriege" liest, die sich mit der Situation im palästinensischen
Mandatsgebiet vor der israelischen Staatsgründung befassen. Die pogromartigen
Ausschreitungen der arabischen gegen die jüdische Bevölkerung in den 1930er
Jahren fungiert bei ihnen als „bewaffneter Aufstand", der glücklicherweise gegen
das anfängliche Zögern der arabisch-nationalistischen Führer angezettelt worden
sei. Das Scheitern dieses zugleich antikolonialen wie antisemitischen
Aufstandes, der, wäre er erfolgreich gewesen, vermutlich die Vernichtung der
europäischen Juden um die Ermordung jener im Nahen Osten ergänzt hätte, und der
zudem eine frühere Gründung eines jüdischen Staates in Palästina, als dieser
noch Millionen von Menschen das Leben hätte retten können, maßgeblich behindert
hat, das Scheitern dieses Aufstandes also bezeichnet die SI als –
„Katas-trophe". So ist es auch kein Wunder, dass sich die SI 1967, knapp sechs
Jahre vor einer Situation in der die Israelis eine abermalige Massenvernichtung
im Jom Kipur-Krieg nur noch durch massive US-amerikanische Militärhilfe abwenden
können, dafür ausspricht, den israelischen Staat von einer „revolutionären
arabischen Bewegung" „auflösen" zu lassen, also wohlgemerkt nicht von einer
jüdisch-revolutionären oder wenigstens einer jüdisch-arabisch revolutionären.
(Gerhard Hahnloser unterschlägt all dies bei seiner Diskussion von „Zwei lokale
Kriege" und attestiert der SI im „Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte"
„die genaue und schonungslose Kritik des despotischen, antiemanzipativen
Charakters der propagierten ‚arabischen Einheit’" sowie eine „geschichtsbewußte
Kritik des Zionismus.")
In diesen Punkten kann heutige Gesellschaftskritik von Debord
und der SI nichts lernen, an nichts anknüpfen; da gibt es nichts zu retten. Der
Antisemitismus tritt als eine allumfassende Welterklärung auf. Er ist die
denkbar barbarischste Reaktionsweise auf den Zwang zu Kapitalproduktivität und
Staatsloyalität und zugleich die weitestgehende Einverständniserklärung mit
diesem Zwang. Der Antisemitismus, auch in seiner geopolitischen Reproduktion als
Antizionismus, ist der Todfeind der Emanzipation. Ob eine Beschäftigung mit der
situationistischen Kritik zu seiner Bekämpfung wird beitragen können, ist
ausgesprochen fraglich. Vor allem deswegen, – und das markiert einen deutlichen
Unterschied zur Kritischen Theorie von Autoren wie Adorno und Horkheimer – da
bei den Situationisten jene Fragen, die in heutigen Auseinandersetzungen zentral
sind, wie das Verhältnis von Zivilisation und Barbarei, die Bedeutung des
Nationalsozialismus für die Kritik der postnazistischen Welt, die Rolle des
arabischen und islamischen Antisemitismus, gar keine Rolle gespielt haben.
In "Zwei lokale Kriege" schreibt die SI im Hinblick auf den
arabisch-israelischen Konflikt: "Wie immer kann der Krieg – wenn er kein
Bürgerkrieg ist – den Prozeß der sozialen Revolution nur einfrieren." Mit der
Rede vom "Einfrieren der Revolution" hat die SI natürlich Recht, und sie
unterscheidet sich auch in diesem Punkt wohltuend vom aktuellen
geschichtsrevisionistischen Pazifismus mit seiner abstrakten Kriegsgegnerschaft.
Die Frage, die sich hier aber aufdrängt ist doch: war nicht die alliierte Gewalt
gegen Deutschland nicht nur Bedingung für das Beenden des Mordens, sondern auch
für die Herstellung von Zuständen, in denen die Emanzipation zumindest wieder
als denkmöglich erscheint, Geschichte also nicht zum Stillstand gekommen ist?
Daran anschließend stellt sich die Frage, ob die Konstellation, dass nur noch
eine militärische Intervention von außen dem perspektivlosen Morden Einhalt
gebieten kann, und die Grundbedingungen sozialer Emanzipation – sei es
intendiert oder contre coer – wieder herstellen kann, keine einmalige
Angelegenheit in der Weltgeschichte war. Man denke nur an den Einmarsch
vietnamesischer Truppen in Pol Pots Kambodscha oder den Sturz Idi Amins durch
Truppen des dissoziationssozialistischen Tansania. Diese Ereignisse konnte die
SI bei der Niederschrift von "Zwei lokale Kriege" selbstverständlich noch
nicht kennen. Für die aktuellen Debatten sollte man sie aber im Auge behalten,
insbesondere im Hinblick auf die Notwendigkeit des militärischen Sturzes der
trikontinental-faschistischen Baath-Diktatur im Irak und einer möglichen
zukünftigen Intervention im klerikalfaschistischen Iran, bei der in erster Linie
zu fordern wäre, dass Israel nicht alleine die Lasten solch einer zur
Verhinderung der Aufstockung des iranischen Vernichtungspotentials mit
Nuklearwaffen eventuell notwendigen Intervention zu tragen hat.