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Von der Freiheit „von“ zur Freiheit „zu“Gedanken zu
Erich Fromm und Pessach
Domagoj AKRAP
Erich Fromm wurde am 23. 3. 1900 als
einziges Kind einer orthodox-jüdischen Familie in Frankfurt am Main geboren.
Beide Elternteile konnten in ihrem Stammbaum stolz auf eine Reihe von Gelehrten
und Rabbinern zurückblicken.1
Dieses rabbinische Erbe und die orthodoxe Lebensweise seines Vaters waren für
den jungen Fromm prägend und wohl ein Grund, warum er nach der Matura im Jahre
1918 nach Litauen gehen wollte, um dort Talmud zu studieren. Seinen Traum konnte
er jedoch wegen der Ängstlichkeit seiner depressiven Mutter nicht verwirklichen.
Stattdessen begann er in Frankfurt Jura zu studieren, um bereits nach nur einem
Jahr nach Heidelberg zu gehen und dort zur Soziologie und Psychologie zu
wechseln. Zugleich setzte Fromm seine Talmudstudien fort. Noch in Frankfurt
begann er während der Schulzeit bei Jakob Horovitz Talmud zu studieren, danach
ging er zum charismatischen Rabbiner Anton Nehemia Nobel, dessen Kreis damals
auch Ernst Simon, Franz Rosenzweig und Leo Löwenthal angehörten. In diesem
Umfeld wurde 1920 das berühmte Freie Jüdische Lehrhaus gegründet. Eine
außerordentliche Stelle in Fromms Leben nahm sein letzter jüdischer Lehrer
Salman Baruch Rabinkow ein. Fromm lernte bei ihm fast täglich sechs Jahre lang,
die Persönlichkeit Rabinkows prägte ihn, wie er selbst später sagte, lebenslang.2
In seinen Ansichten verband der aus einer chassidischen Familie stammende
Rabinkow orthodoxe Lebenspraxis mit talmudischer Gelehrsamkeit, wobei er aber
auch für humanistische und sozialistische Ideen empfänglich war. Nach Fromm
könnte sein Standpunkt am besten als einer des „radikalen Humanismus"
beschrieben werden. Im Jahre 1926 brach Fromm mit der orthodoxen Lebensweise und
widmete sich verstärkt der Psychoanalyse und ihrer Verknüpfung mit der
Soziologie. Das Schicksal des später international renommierten
Sozialpsychologen ist ein gutes Beispiel, wie schnell man in den Darstellungen
jüdischen Denkens der Vergessenheit anheim fallen kann, und das, obwohl die
jüdischen Traditionen in Fromms Werken stets präsent blieben und viele seiner
Ansichten erst durch diese vollständig erklärt werden können. Jahrzehnte später
erfüllte sich Fromm mit dem Buch „Ihr werdet sein wie Gott", seiner
eigenen Interpretation der hebräischen Bibel, einen lange ersehnten Wunsch.3
Es ist dies seine ausführlichste Auseinandersetzung mit der eigenen Tradition.
Gleich zu Beginn des Buches stellt
Fromm fest:
„Die Bibel ist ein revolutionäres Buch, dessen Thema die
Befreiung des Menschen ist. Seine Befreiung reicht von inzestuösen Bindungen
an Blut und Boden, von der Unterwerfung unter Götzen, von der Sklaverei und
von mächtigen Herren hin zur Freiheit des Individuums, der Nation und der
ganzen Menschheit."4
Wenn zu Pessach die Juden in aller Welt
der Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten gedenken, dann steckt darin viel mehr,
als das bloße Erinnern an die physische Befreiung vom Leid des Frondienstes und
vom Joch des Unterdrückers. Die Israeliten litten in Ägypten nicht nur
körperlich, sie litten auch geistig. Fromm betont daher auch, dass die
Israeliten als Sklaven in Ägypten Gott eigentlich gar nicht dienen konnten, denn
sie waren der wichtigsten Voraussetzung für den Gottesdienst beraubt – der
Freiheit. Moses musste erst das Sklavenhaus Ägypten verlassen um Gottes Auftrag
zur Befreiung entgegenzunehmen, und das Volk Israels musste erst in die Freiheit
geführt werden, um dann durch Moses die Tora empfangen zu können. In der Fremde
ist Moses bereit, Gottes Offenbarung zu vernehmen. Er musste also zuerst seine
Bindung zum Land Ägypten auflösen. Für Fromm stellt dieses Trennen der Bindung
zum Boden ein Motiv dar, das allgemein als notwendige Voraussetzung für
Gotteserfahrungen gesehen werden muss. Wir begegnen ihm bereits bei Abraham, dem
ebenfalls geboten wird, seine Heimat und Familie zu verlassen um in das Land,
das ihm Gott zeigen wird, zu ziehen. Moses erfüllte beide Bedingungen: er befand
sich in der Fremde und er war im Unterschied zu seinen Brüdern in Ägypten frei.
Beim Volk musste die Idee von der Freiheit erst wachsen. Diese beginnt für Fromm
mit der Fähigkeit des Menschen zu leiden.5
Durch das Bewusstmachen des Leides - und die Israeliten haben gewiss unter
Pharao gelitten - wurde die erste Voraussetzung, um eine Idee von der Freiheit
zu erlangen, erfüllt. Denn erst das Leiden veranlasst den Unterdrückten gegen
seine Peiniger aufzubegehren, den gegenwärtigen Zustand zu verändern und sein
Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Wir wissen, dass Gott zuerst Moses von
seiner Mission überzeugen musste, bevor überhaupt an einen Auszug in die
Freiheit gedacht werden konnte. Dabei zeigt uns die berühmte von Moses
vorweggenommene Frage nach dem Namen Gottes, in welchem Zustand sich die
Israeliten zu diesem Zeitpunkt befunden haben. Sie hatten damals von Gott eine
Vorstellung, die eher an die eines Götzen erinnert. Götzen sind, im Gegensatz zu
Gott, Dinge, die zeitlich und räumlich begrenzt sind und Namen haben. Der Götze
ist ohne Leben; Gott hingegen ist lebendig. Für Fromm ist letztendlich der
Gegensatz von Götzendienst und Gottesdienst der von der Liebe zum Toten und der
Liebe zum Lebendigen.6
Das Unvermögen der Israeliten, einen namenlosen Gott zu akzeptieren, begründet
er mit ihrem gesellschaftlichen Zustand der Sklaverei. Nachdem nun das Volk
durch Moses und Aaron von der Mission überzeugt worden ist, gingen die beiden
Brüder mit ihrer Bitte zum Pharao. Dieser willigte ihrem Vorhaben aber nicht
ein, im Gegenteil, sein Herz wurde verhärtet. Je mehr sich im Laufe der
Geschichte Pharaos Herz verhärtet, umso weniger Freiheit blieb ihm, sich zu
ändern. Die Verhärtung des Herzens steht hier für seine falschen Entscheidungen,
und je mehr falsche Entscheidungen er trifft, desto weniger Möglichkeiten zur
Umkehr hat er, bis er schließlich so weit ist, dass er die Gelegenheit zur
freien Entscheidung gänzlich verloren hat. Der Pharao driftet durch seine
Weigerung, das Volk ziehen zu lassen immer mehr in den Abgrund ab, und dadurch
wird sein Spielraum immer geringer, bis er schließlich seine Freiheit eingebüßt
hat. Jedes Mal, wenn die unmittelbare Gefahr vorüber war, verhärtete sich sein
Herz aufs Neue und nur der Tod aller Erstgeborenen bei den Ägyptern hatte ihn,
allerdings nur für kurze Zeit, zur Einsicht gebracht, die Hebräer in die
Freiheit zu entlassen. Auch da konnte Pharao seinen Verlust nicht eingestehen!
Er ordnete seinen Streitwagen an, die Hebräer zu verfolgen. Damit war sein
Todesurteil unterschrieben. Die Israeliten haben unter der Führung Moses und mit
Hilfe der starken Hand Gottes aus dem Sklavenhaus ausziehen können. Davor wird
ihnen von Gott noch ein gemeinsames Mahl, das Pessachmahl angeordnet. Die
Matzot (ungesäuerte Brote) werden zum Symbol der herrschenden Eile beim
Auszug. Fromm sieht im Pessachfest (so wie auch im Sukkotfest) das
Durchschneiden der Nabelschnur zum Boden dargestellt. Das Fest erinnert an die
Befreiung von der Sklaverei, aber auch an die Freiheit von inzestuösen
Bindungen, worunter Fromm primär die affektive Bindung an die Mutter und die
Natur versteht. Wie entwickelte sich nun die Lage in der neu erlangten Freiheit?
Es folgte eine lang andauernde
Wanderung durch die Wüste, bei der sich sehr bald Selbstzweifel und Angst im
Volk breitmachten. Kaum in die Freiheit gezogen, schon klagten die Israeliten
über Hunger und Durst. Sie zogen die Sicherheit der Sklaverei der unsicheren
Freiheit vor. Es sind dies typische Probleme bei den ersten Gehversuchen in der
Freiheit. Die Hebräer mussten nun mit dem neuen Leben, das nicht in festem
Rahmen und nach vorgegebenen Mustern verläuft, zurecht kommen. Sie hatten keine
Aufseher und keinen Pharao mehr, den sie fürchten mussten und dem sie sich
unterzuordnen hatten. Sie hatten zwar dank Moses die Freiheit „von"
erlangt, konnten aber nicht zur positiven Freiheit, zur Freiheit „zu"
schreiten. Unter der positiven Freiheit verstand Fromm die volle Entwicklung und
Entfaltung des gesamten Individuums und die Realisierung seiner kreativen
Möglichkeiten. Die Freiheit „von" ist dabei eine notwendige
Voraussetzung, allein ist sie aber wertlos, da sie dem Einzelnen keine
Möglichkeiten zur positiven Verwirklichung gibt. Die nun in die Freiheit
entlassenen Hebräer, die bis vor kurzem noch Sklaven waren, wussten nicht wie
mit der erlangten Freiheit „zu" umzugehen. Die gravierende Übertretung
ereignete sich jedoch, nachdem Moses bereits das Gesetz verkündet hatte und der
Bund geschlossen worden war. Während Moses beim Ewigen am Berg Sinai weilte,
begann das Volk Druck auf Aaron auszuüben, er möge ihnen doch Götter machen, die
sie verehren können, da sie nicht wüßten, was mit „dem Mann" Moses geschehen
sei. Fromm stellt richtig fest – das Volk hat, kaum ist der große Führer weg,
Furcht vor der Freiheit.7
Es sehnt sich nach einem Objekt der Hingabe, dem es Opfer darbringen kann. Aaron
gab der Masse schließlich nach und goss ein Kalb aus Gold. Der Begründer des
Priestertums hatte sich mit dieser Handlung fast zum Götzendiener gemacht!8
Das Material für den neuen „Gott" stammte von den Israeliten; es ist das Gold,
das sie aus Ägypten mitgenommen haben. Das Kalb, das sie nun verehrten, mochte
zwar nahe und greifbar sein, es war aber, so wie alle Götzen, nicht lebendig;
erbaut mit dem Gold aus Ägypten, einem Land, in dem fremder (Götzen-)Kult
herrschte. Die Geschichte ist deshalb interessant, weil sie die Gefahren, die
vom materiellen Reichtum ausgehen, aufzeigt und, weil sie zeigt, dass das Volk,
obwohl es bereits zur Freiheit gelangt war, nicht frei war. Geistig waren sie im
Sklavenhaus Ägypten geblieben. Als der Ewige sah, wie „sein" Volk in den
Götzendienst zurückfiel, entschloss er sich, seinen Zorn über sie auszulassen.
Ein Detail am Rande der Erzählung ist hier bemerkenswert. Fromm sah im Versteil:
„Dich aber will ich zu einem großen Volk machen" (Ex. 32,10) – ein
Versprechen Gottes an Moses, nachdem er beschlossen hatte, das Volk zu zerstören
– eine Versuchung für Moses. Er konnte ja demnach zu einem Begründer einer neuen
großen Nation werden. Moses aber blieb standhaft, er bemühte sich, Gott zu
besänftigen und trat entschieden für das Volk ein, indem er Gott an seinen Bund
erinnerte – „denk an deine Knechte, an Abraham, Isaak und Israel, denen du
mit einem Eid bei deinem eigenen Namen zugesichert und gesagt hast…" (Ex. 32,13).
Gott gab schließlich nach und willigte ein, das Volk zu verschonen. Er blieb ein
treuer Bündnispartner.9
Fromms Interpretation des Auszugs in die Freiheit
„von" und des Kampfes um die Freiheit „zu" mag auf den ersten
Blick befremden, ist aber in jeder Hinsicht ein authentischer Beitrag jüdischen
Denkens. Vielleicht hilft er uns, beim nächsten Pessachfest nicht nur der
Freiheit vom Sklavenhaus Ägypten zu gedenken, sondern auch die notwendige
Freiheit „zu" zu erlangen, denn sie ist das wahre Ziel der menschlichen
Entwicklung.
Fußnoten
1 Zu Fromms Familienhintergrund
s. Rainer Funks Monographie: Erich Fromm mit Selbstzeugnissen und
Bilddokumenten, Rowohlt, Reinbek 1983. Dort befindet sich auf S.18f. ein
Stammbaum mit den Vorfahren väterlicherseits, darunter der „Würzburger Raw"
Seligmann Bär Bamberger. Die Vorfahren von Fromms Großmutter Rahel Bamberger
sollen gar bis auf den berühmten mittelalterlichen Kommentator Raschi
zurückreichen.
2 Fromm in seinen Erinnerungen an
Rabinkow, in: Jung, Leo (Hrsg.): Sages and Saints. New York, 1987, S. 99-105.
3 S. Fromm, Erich: Ihr werdet
sein wie Gott, erstmals erschienen 1966 unter dem Titel You shall be as
Gods. Es muss erwähnt werden, dass Fromm auch in seinen
gesellschaftspolitischen und sozialpsychologischen Werken oft auf biblische
Motive zurückgriff, hier aber erstmals ein Werk gänzlich diesen Themen widmete.
4 Vgl. Ihr werdet sein wie Gott,
Rowohlt S. 9 (bzw. S. 87 in der Gesamtausgabe (GA) Bd. 6).
5 Ebenda, S. 75 (bzw. S. 139 GA
Bd. 6).
6 Ebenda, S. 38 (bzw. S. 109 GA
Bd. 6). Fromm verwendet in seiner Sozialpsychologie für diese Charaktere die
Begriffe „Nekrophilie" (Liebe zum Toten) und „Biophilie" (Liebe zum Leben und
Lebendigen). Er spricht daher vom nekrophilen und biophilen Charakter.
7 Ebenda, S. 90f (bzw. S. 150f.
GA Bd. 6).
8 Fromm meint, in Einklang mit
der traditionellen jüdischen Schriftauslegung, dass Aaron versucht hat, die
ganze Sache hinauszuzögern indem er den Schmuck der Israeliten einsammeln ließ.
Er hoffte in der Zwischenzeit auf die Rückkehr von Moses (so interpretiert
Raschi die Stelle Ex. 32,2). Für diese Auslegung spricht, dass er das Fest zu
Ehren Gottes für den nächsten Tag ausrufen ließ. Die Israeliten haben zwar einen
Götzen erbauen lassen, sie haben ihm aber noch nicht „gedient".
9 Die Episode wird im Talmud Ber. 32a ausführlich
geschildert und interpretiert.n
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