Jesus – Betrachtungen aus jüdischer Sicht
Klaus DAVIDOWICZ
In diesen Wochen kann es leicht passieren,
dass man von ahnungslosen Mitmenschen gefragt wird, warum man eigentlich nicht
Ostern feiere. Falls man nicht ausweichend antwortet, reiht sich hier gerne die
berühmte „Gretchen-Frage" an, wie man es denn als Jude mit Jesus halten würde.
Nun, Jesus (die lateinische Form von Jehoschua, kurz Jeschua) war Jude und starb
auch als Jude. Er wurde – gleich ob er nun ein religiöser oder ein politischer
„Aufrührer" war – von den Römern verurteilt und hingerichtet. Diese schlichte
Wahrheit muss leider immer wieder betont werden. Ebenso verhält es sich mit
einem anderen Faktum: Der „Messias Jesus" spielt im Judentum keine Rolle. Weder
in den Riten noch im Festtagskalender haben Jesus oder gar die Schriften des
„Neuen Testaments" irgendeine Bedeutung. Das mag zwar für Christen vielleicht
immer noch erschreckend sein, aber auf der anderen Seite ist es ja immer noch
nicht zu allen Christen vorgedrungen, dass die Tora mit den sogenannten „fünf
Büchern Mose" identisch ist und das Bild des „alttestamentarischen Rachegottes"
ein völlig überholtes Spukgespenst ist. Das berühmte Liebes-Gebot steht
schließlich schon im „Alten Testament": „Du sollst deinen Nächsten lieben wie
dich selbst." (Lev 19,18). Obwohl es wenig reizvoll war, sich mit einer Gestalt
zu befassen, dessen grausame Hinrichtung und qualvoller Tod den Juden als
Kollektiv bis heute stets zur Last gelegt wird, haben sich vereinzelt Juden im
Laufe der Zeit ihre Gedanken zu Jesus gemacht. Die Kreuzigung Jesu, wie sie in
den kanonisierten Evangelien berichtet wird, ist leider der zentrale Hintergrund
für den christlichen Antijudaismus. Die systematische Verteufelung des Judentums
durch den christlich motivierten Antijudaismus ist schließlich die Wurzel des
modernen Antisemitismus. Auch wenn engagierte christliche Theologen immer wieder
betonen, dass der Prozess ein römisches Gerichtsverfahren und die Kreuzigung
eine römische Todesstrafe war, so hält sich das Bild der „jüdischen
Gottesmörder" bis in die Gegenwart. Selbst in dem bedeutenden Vatikanischen
Konzil von 1965 heißt es nur: „Obgleich die jüdischen Obrigkeiten mit ihren
Anhängern auf den Tod Christi gedrungen haben, kann man dennoch die Ereignisse
seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den
heutigen Juden zur Last legen." Damit wird wenigstens - und selbst das musste
unter heftigem Widerstand errungen werden - die Kollektivschuld ad acta gelegt.
Die zentrale Studie zum Prozess Jesu, „Der Prozess und Tod Jesu aus jüdischer
Sicht" (hebr. 1968; dt. 1997) von Chaim Cohn (1911-2003) wurde leider erst mit
fast 30jähriger Verspätung ins Deutsche übersetzt und daher in der
deutschsprachigen Forschung bislang kaum wahrgenommen. So absurd es klingen mag
- nach der Staatsgründung Israels 1948 gingen wiederholt Petitionen (meist von
protestantischen Geistlichen) ein, dass sein neuer oberster Gerichtshof den
Prozess Jesu wiederaufnehmen solle, „um den tragischen Justizirrtum zu
bereinigen, den unser unmittelbarer Vorgänger, der Sanhedrin, an Jesu begangen
habe". Der israelische Jurist und Rechtshistoriker Cohn wurde mit dem „Fall"
betraut und zeigt in seinem Buch auf beeindruckende Weise, wie unterschiedlich
und widersprüchlich die Passionsberichte sind, und welche Ziele sich hinter der
These von den „jüdischen Gottesmördern" verbergen. Die Evangelisten wollten
zeigen, dass die Juden an der Ermordung Jesu schuld seien und als Strafe dafür
der Jerusalemer Tempel im Jahre 70 n.d.Z. von den Römern zerstört worden sei.
Natürlich war das ganze eine Folie, um sorgsam Trennungslinien zwischen
Christentum und Judentum zu ziehen, die leider im Laufe der Zeit zu tiefen
Gräben wurden. Es verwundert daher nicht, dass in den rabbinischen oder
mittelalterlichen jüdischen Schriften Jesus, wenn er überhaupt erwähnt wird,
eher polemisiert wird.
„Am Vorabend des Paschafestes hängte man
Jesus (den Nazarener). Vierzig Tage lang vorher rief der Ausrufer: „Er soll
gesteinigt werden, weil er Zauberei getrieben, Israel verführt und abtrünnig
gemacht hat. Wer etwas zu seiner Verteidigung zu sagen hat, komme und trage
es vor!" Da aber nichts zu seiner Verteidigung vorgebracht wurde, henkte man
ihn am Vorabend des Paschafestes." (Babylonischer Talmud, Sanhedrin 43a)
Erst seit rund 100 Jahren setzen sich
auch jüdische Denker zunehmend mit Jesus auseinander.
Die jüdischen Brückenbauer, die sich im deutschsprachigen
Raum mit dem Juden Jesus befassten, wie Martin Buber, Schalom Ben-Chorin oder
Pinchas Lapide, sind mittlerweile alle verstorben. Sie versuchten, auf zuweilen
eher plakative als besonders vielschichtige Weise, den „großen Bruder Jesus"
wieder ins Judentum zurückzuholen. Ihre Arbeiten dienen immer noch als Fundus
vieler Reden und Diskussionen im jüdisch-christlichen Dialog. So beginnt Buber
sein Buch „Zwei Glaubensweisen" mit einer oft zitierten Passage zu Jesus:
„Jesus habe ich von Jugend auf als meinen großen Bruder
empfunden. Dass die Christenheit ihn als Gott und Messias angesehen hat und
ansieht, ist mir immer als eine Tatsache von höchstem Ernst erschienen, die
ich um seinet- und um meinetwillen zu begreifen suchen muss… Mein eigenes
brüderlich aufgeschlossenes Verhältnis zu ihm ist immer stärker und reiner
geworden, und ich sehe ihn heute in stärkerem und reinerem Blick als je.
Gewisser als je ist mir, dass ihm ein großer Platz in der Glaubensgeschichte
Israels zukommt und dass dieser Platz durch keine der üblichen Kategorien
umschrieben werden kann." (Martin Buber, Zwei Glaubensweisen, Gerlingen
1994, S.15)
Wie man sich denken kann, erregte er
mit solchen Gedankengängen heftigen Widerspruch und Anfechtungen bei jüdischen
Gegnern, die er fast ausnahmslos unbeantwortet ließ. Zu Schalom Ben-Chorin
bemerkte Buber: „Jesus ist mein älterer Bruder, aber der Christus der Kirche ist
ein Koloß auf tönernen Füßen." (in: Ben-Chorin, Zwiesprache mit Martin Buber,
Gerlingen 1978, S.63)
Buber sieht verständlicherweise Jesus als einen Menschen,
nicht als einen Gott. Der wahrscheinlich nicht nur für Juden schwer
nachvollziehbare Gedanke, dass Gott sich verkörpert und opfert, ist auch für
Buber kein Thema. Noch deutlicher formulierte es Buber gegenüber Schalom Ben-Chorin.
Er sieht Jesus in einer Reihe der falschen Messiasse – erhabener zwar als ein
Jakob Frank (1726-1791), aber dennoch nicht göttlich:
„Von den messianischen Gestalten der jüdischen
Geschichte, von Bar-Kochba bis zu dem infamen Lügner Jakob Frank, ist Jesus
die erhabenste, die großartigste - aber der Messias ist er nicht… Die Welt
blieb auch nach ihm unerlöst, und wir spüren, wie diese Unerlöstheit uns
direkt in die Poren dringt…" (in: Ben-Chorin, Zwiesprache mit Martin Buber,
S.135-136)
In den älteren wissenschaftlichen
Arbeiten jüdischer Historiker zu Jesus – von Joseph Klausner bis zu David
Flusser - dominiert vor allem die Tendenz, Jesus mit dem rabbinischen Judentum
in Zusammenhang zu bringen, was nicht unproblematisch ist. Die großen Texte des
rabbinischen Judentums sind schließlich erst viel später entstanden. Wichtige
neue Ansätze zum historischen Jesus sind dagegen bei dem britischen Historiker
Geza Vermes (Jesus der Jude, engl. 1973; dt. 1993; Die Passion. engl. 2005,
dt.2006) zu finden.
Auf der anderen Seite verstärkt die katholische Kirche
spätestens seit Johannes Paul II den Dialog mit dem Judentum. Bereits bei seiner
ersten Ansprache an Leiter verschiedener jüdischer Organisationen, am 12.3.
1979, knüpfte Johannes Paul II an Gedanken des 2. Konzils an, ebenso bei seiner
Messe, die er am 7.6. 1979 im KZ Auschwitz hielt. In seiner Ansprache an den
Zentralrat der Juden in Deutschland am 17.11. 1980 in Mainz, betonte er den
Einsatz von Christen während der Shoah bei der Rettung „ihrer jüdischen Brüder".
Daneben sagte er, daß die „falsche religiöse Sicht des Judenvolkes, welches die
Verkennungen und Verfolgungen im Lauf der Geschichte zum Teil mitverursachte"
korrigiert werden müsse. Eine Verurteilung des Antisemitismus sprach er z.B. bei
seiner Ansprache an eine Gruppe der „Anti-Defamation League of B’nai B’rith" am
22.3. 1984 aus, ebenso bei der Kommission für die religiösen Beziehungen zu den
Juden, die 1974 gegründet worden war, und 1985 die „Hinweise für eine richtige
Darstellung von Juden und Judentum in der Predigt und in der katholischen
Kirche" veröffentlichte. Dort steht z.B.:
„Man wird in Erinnerung rufen, wie negativ die Bilanz der
Beziehungen zwischen Judentum und Christentum während zwei Jahrtausenden
gewesen ist. Man wird herausstellen, von wie großer ununterbrochener
Schöpferkraft diese Fortdauer Israels begleitet ist - in der rabbinischen
Epoche, im Mittelalter und in der Neuzeit -, ausgehend von einem Erbe, das
wir lange Zeit gemeinsam hatten. (...) Die Katechese müßte dazu beitragen,
die Bedeutung zu verstehen, welche die Ausrottung der Juden während der
Jahre 1939-1945 und deren Folgen für dieselben hat." (Punkt VI).
Das sichtbarste Zeichen seiner Bemühungen des Verstehens
zwischen Judentum und katholischer Kirche setzte er durch seinen Besuch der
Hauptsynagoge Roms, am 13.4. 1986, unterstützt vom damaligen Rabbiner Roms, Elio
Toaff. Die bereits erwähnte Vatikanische Kommission für die religiösen
Beziehungen zu den Juden veröffentlichte am 16. März 1998 ein weiteres –
umstrittenes - Dokument, eine „Reflexion über die Shoah".
Enttäuscht und verbittert reagierte damals Elie Wiesel: „Ich
habe mir von diesem Papst viel mehr spirituellen und intellektuellen Mut
erwartet. Er hätte das schmerzliche Kapitel der jüdisch-christlichen Geschichte
mutiger abschließen müssen. Johannes Paul II. war der richtige Mann im richtigen
Augenblick, aber leider hat er eine historische Gelegenheit versäumt."
Das „Shoah-Dokument" ist dennoch ein wichtiger Schritt für
die weitere Entwicklung. Auch wenn vieles nichts „Neues" ist, ist es wichtig,
dass daran erinnert wird, z.B. daß Jesus, Maria und die Apostel Juden waren und
die Juden „die älteren Brüder der Christen" sind.
Ich möchte diese kurze Betrachtung mit einem Zitat von Martin
Buber beenden:
„Ich glaube fest daran, dass die jüdische Gemeinschaft im Zuge ihrer
Wiedergeburt Jesus rezipieren wird, und zwar nicht bloß als eine große Figur
ihrer Religionsgeschichte, sondern auch im lebendigen Zusammenhange eines sich
über Jahrtausende erstreckenden messianischen Geschehens, das in der Erlösung
Israels und der Welt münden wird. Aber ich glaube ebenso fest daran, dass wir
Jesus nie als gekommenen Messias anerkennen werden, weil dies dem innersten Sinn
unserer messianischen Leidenschaft … widersprechen würde. In das mächtige Seil
unseres Messiasglaubens, das, an einem Fels am Sinai geknüpft, sich bis zu einem
noch unsichtbaren, aber in den Grund der Welt gerammten Pflocke, spannt, ist
kein Knoten geschlagen… Für uns gibt es keine Sache Jesu, nur eine Sache Gottes
gibt es für uns." (Martin Buber, Pfade in Utopia, Heidelberg 1985, S.378) . n
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