DAVID: Herr Eliad, Sie waren 35 Jahre hindurch als
Direktor des Staatstheaters Ploieşti tätig. Als Kulturmanager und Regisseur
können Sie auf eine verdienstvolle und vielseitige Arbeit zurückblicken. Im
Dezember 1989 wurden Sie dann als Intendant an das Jüdische Staatstheater
Bukarest berufen, dem Teatrul Evreiesc de Stat, kurz TES genannt. Würden Sie uns
bitte, einleitend zu diesem Gespräch, einiges zur Geschichte des jüdischen
Schauspiels in Rumänien sagen?
Harry Eliad: Das ist ein sehr weitgespanntes und auch
ruhmreiches Thema. Bekanntlich gab es bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jhd.
in Rumänien und in Russland literarisch-musikalische Gruppen, die umherzogen und
Couplets und Einakter in jiddischer Sprache aufführten. Das erste jiddische
Theater wurde im Oktober 1876 von Avram Goldfaden (1840-1908) in Jassy (Iaşi)
gegründet. Die alte Hauptstadt der rumänischen Moldau – nicht zu verwechseln mit
dem heutigen Moldawien – war damals eines der geistigen Zentren des östlichen
Judentums. Goldfaden, ein genialer Dramatiker und Komponist, der übrigens
1862-1863 mit hebräischen und jiddischen Gedichten debütiert hat, gilt heute
weltweit als der Vater des Jiddischen Theaters.
DAVID: Goldfaden stammte jedoch nicht aus Rumänien. Und
nach 1883 lebte er bekanntlich in London, Paris und New York, wo er seine
Theaterarbeit fortsetzte und mit großem Erfolg eigene Stücke auf die Bühne
brachte.
Harry Eliad: Das ist richtig. Goldfaden kam aus der
Ukraine, aus Staro Konstantinow. Und ich weiß nicht, ob er überhaupt Rumänisch
gesprochen hat, denn zu jener Zeit war Jiddisch noch eine Art „Weltsprache",
jedenfalls im Osten. Es gab Tausende von Ortschaften, sogenannte Schtetls
– das heißt kleine Städte, Marktflecken, Dörfer –, wo mehrheitlich oder manchmal
nur jüdische Handwerker, Händler und Bauern lebten, die untereinander
selbstverständlich jiddisch sprachen. Man muss sich das einmal
vorstellen: der lebendige Sprachraum des Jiddischen reichte damals von der
Moldau und Bessarabien, über Marmatien, Transkarpatien und die Bukowina bis
hinauf nach Podolien, Galizien, nach Polen, Litauen, in die Ukraine und nach
Russland hinein...
DAVID: Vor der Schoa gab es nicht nur in Jassy ein
Jüdisches Theater.
Harry Eliad: In der Zwischenkriegszeit hatten wir im
damaligen Königreich Rumänien fünf gut funktionierende Jüdische Theater, wobei
hier über 850.000 Einwohner jüdischen Glaubens lebten. In Jassy gab es zu jener
Zeit zwei Jiddische Theater, außerdem zwei in Czernowitz und eines in Bukarest.
Czernowitz, die Hauptstadt der Bukowina, mit über 50.000 jüdischen Einwohnern –
das waren über 51 Prozent der Gesamtzahl – hatte 1940 auch die größte jüdische
Gemeinde Rumäniens.
DAVID: Wann wurde das heutige Jüdische Staatstheater, das
TES, gegründet?
Harry Eliad: Im Jahr 1948, als Folge der faschistischen Ära
und der Schoa, existierten in Rumänien nur noch zwei Jüdische Theater, eines in
Jassy und eines in Bukarest, die dann verstaatlicht wurden. Das Theater in Jassy
trug weiterhin den Namen seines berühmten Gründers, Avram Goldfaden. Weil aber
nach 1948 eine massive Auswanderung nach Erez Israel einsetzte und das Publikum
stark schrumpfte, ging in den 1960er Jahren das Jassyer Theater, nach einer
kontinuierlichen Existenz von etwa 90 Jahren, langsam ein und musste schließlich
geschlossen werden.
DAVID: Doch in Bukarest wurde weiterhin jiddisches
Theater gespielt.
Harry Eliad: Die Initiative zur Neugestaltung des
Jüdischen Theaters in Bukarest kam von Bernard Lebli, der ab 1948 als Direktor
die Leitung übernahm. Das erste Stück, das nach dem Krieg, im November 1948
aufgeführt wurde, trug den unverbindlichen Titel „Allen zu Gefallen" (Pe
placul tuturor). Ab 1955 leitete Franz Josef Auerbach unsere Bühne und
als literarischer Sekretär wirkte der bekannte jiddische Dichter und
Schriftsteller Israel Bercovici. Damals gab es viele herausragende Schauspieler,
die mit großem Erfolg auftraten, und wir hatten oft vollbesetzte Häuser.
Hier möchte ich an einige, heute schon legendäre Namen
erinnern: Sevilla Pastor, Benjamin Sadigursky, Dina König, Lia König, Mauriciu
Szekler, Samuel Fischler, Mano Rippl, Benno Popliker, Seidy Glück, Sonia Gurman,
Isac Havis. Die künstlerische Tradition dieser berühmten Namen wird heute – eben
unter anderen Bedingungen, weil sich auch die Zeiten geändert haben –
fortgesetzt von Schauspielern wie Maia Morgenstern, Leonie Waldmann-Eliad, Rudy
Rosenfeld, Theodor Danetti, Roxana Guttmann, Nicolae Calugarita, Andre Finti,
Natalie Ester, Geni Branda, Mihai Ciuca. Regie führten Franz Josef Auerbach,
George Teodorescu, Iso Schapira und gegenwärtig bin auch ich als Regisseur
tätig.
Heute fasst der sorgfältig renovierte Saal 300 Sitzplätze,
und jeder Platz ist mit einer modernen Simultananlage ausgestattet, d.h. bei den
Aufführungen in jiddischer Sprache kann man am Kopfhörer die rumänische
Übersetzung mithören. Vor fünfzig Jahren waren wir diesbezüglich vom Technischen
her noch recht rückständig. Dafür aber hatten wir ein zahlreiches jüdisches
Publikum.
DAVID: Wie viele Aufführungen gab es hier seit 1948?
Harry Eliad: Das ist schwer zu sagen. Doch eines weiß ich
genau: Seit 1948 hatten wir bisher in unserem schönen historischen Gebäude, das
übrigens inzwischen unter Denkmalschutz steht, über 240 Premieren.
DAVID: Das Jüdische Staatstheater unternimmt oft auch
Gastspielreisen.
Harry Eliad: Ohne Tourneen würden wir wahrscheinlich ein
recht bescheidenes Dasein führen und wären international nicht so bekannt, wie
wir es heute sind. Im vergangenen Oktober z.B. hatten wir eine Reihe von
Aufführungen in Israel. In den Jahren vorher waren wir immer wieder in Rumänien
unterwegs, dann aber auch in der Ukraine, in Deutschland, Polen, Österreich,
Ungarn und sogar in Argentinien und Uruguay.
DAVID: Es gibt eine rührende Anekdote von einer solchen
Tournee. In einer kleinen moldauischen Stadt, einem ehemaligen Schtetl, wo das
TES ein Gastspiel geben sollte, fand sich am Abend nur ein einziger Zuschauer
ein – ein kleiner alter Mann mit weißem Bart und einem schwarzen Hut. Er saß
allein im Saal, hatte den Hut aufbehalten und wartete. Als ihn Regisseur
Auerbach schließlich fragte: „Wo sind denn die anderen?" bekam er zur Antwort:
„Welche anderen?" Auerbach: „Die anderen Juden." Nun sagte der Mann: „Die sind
alle weggezogen. Ich bin der Letzte hier." Daraufhin spielte die Truppe das
Stück nur für diesen einsamen alten Juden, und sie spielte so, als wäre der Saal
voll besetzt. Diese Geschichte hat mir einst Israel Bercovici erzählt, und ich
war damals sehr beeindruckt.
Harry Eliad: Die Geschichte kenne ich, und sie ist wahr.
Das hat sich tatsächlich so zugetragen. Und das zeigt, dass für uns jüdisches
Theater viel mehr bedeutet, als nur ein Spiel auf einer Bühne. Und es zeigt uns
auch, was für wunderbare Menschen jene Künstler waren, die damals auf der Bühne
standen... Ihre Namen hatte ich vorher genannt.
DAVID: Wie kamen Sie in der kommunistischen Ära mit der
Zensur zurecht?
Harry Eliad: Jedes Stück wurde vor der Premiere mehrmals
„avisiert", wobei man manche Dialoge immer wieder „zurechtfeilen" musste.
Manchmal waren diese angeordneten Änderungen einschneidend und ärgerlich. Erst
nach dem endgültigem „Avis" der oberen „Kulturbehörde" konnte dann die
Aufführung stattfinden. Es war ein stetiger Kampf, eine ideologische
Gratwanderung, doch wir durften uns nicht unterkriegen lassen und haben, so gut
es eben ging, durchgehalten. Im Jahr 2006 waren es dann 130 Jahre seit der
Gründung des Jüdischen Theaters in Rumänien. Darauf sind wir, unter uns gesagt,
sehr stolz. Und diese Tradition verpflichtet, weiter zu arbeiten, denn ein Ende
darf es nicht geben. Kultur war immer schon ein wichtiger Faktor des Judentums,
wenn es um Tradition, Identität und Überleben ging.
DAVID: Was steht in Ihrem diesjährigen Repertoire?
Harry Eliad: Es sind zwölf bis vierzehn Stücke aus der
jiddischen und der klassischen Weltliteratur, von Scholem Alejchem, Gogol,
Tschechow u.a. sowie aus der zeitgenössischen rumänischen Dramaturgie. Am
erfolgreichsten sind jene Stücke, in denen Maia Morgenstern auftritt, eine
Schauspielerin, die auch in Hollywood-Filmen gespielt hat und heute
international bekannt ist. Den größten Erfolg in den letzten zwei Jahren hatten
wir mit dem „Fiedler auf dem Dach" und den beiden Musicals nach Scholem Alejchem,
„Menachem Mendel, der Geschäftsmann" und „Der Verkäufer von Chalojmes" (cholem,
chalojmes heißt auf jiddisch Traum bzw. Träume). Hier wird
nicht nur jiddisch gesprochen sondern auch fröhlich gesungen und getanzt. Viele
bekannte Nigunim, wie z.B. „Ojfm pripetschik brennt ein feierl...", begleiten
die Vorstellung, und vermitteln so eine Rückschau in die farbige verschwundene
Welt der Ostjuden.
DAVID: Unter den 38 Schauspielern des TES, die derzeit
unter Vertrag stehen, sind viele Nichtjuden. Kann man jüdisches Theater spielen,
wenn manche Darsteller einer anderen Ethnie angehören?
Harry Eliad: Gute Frage. Und darauf will ich offen
antworten: Für mich sind diese begabten rumänischen Schauspieler, wenn
sie auf unserer Bühne stehen und mit Herz und Seele jiddisches Theater spielen,
Juden.
Ohne diese mit dem Judentum innerlich zutiefst verbundenen
Künstler könnten wir, als eine alternde und schrumpfende Bevölkerungsgruppe, in
diesem anspruchsvollen Bereich nicht weiter existieren. In Rumänien leben
derzeit noch etwa 10.000 Juden, davon nicht wenige in sogenannten „Mischehen".
Am 31. Mai 2006 zählte die jüdische Gemeinde gerade noch 8711 Mitglieder. Was
ist nun wichtiger? Dass wir alle jüdisch sind oder dass unser jüdisches Theater
weiterhin besteht?
DAVID: Welches ist dann das Publikum, das die
Aufführungen in Ihrem Theater besucht?
Harry Eliad: Da haben wir ziemlich genaue Angaben. Etwa
25 bis 30 Prozent sind Juden, die Jiddisch sprechen und verstehen; bei etwa 30
Prozent handelt es sich um Intellektuelle, Juden und Nichtjuden, ohne jiddische
Sprachkenntnisse; und die übrigen sind meist Jugendliche, die sich für jüdisches
bzw. jiddisches Theater interessieren. In letzter Zeit haben wir öfters
Workshops veranstaltet, weil wir hier im kommenden Jahr ein Internationales
Kulturzentrum der jiddischen Sprache gründen wollen. Außerdem
bereiten wir uns jetzt auf das 3. Weltfestival des Jiddischen Theaters
vor, das 2008 in Bukarest stattfinden wird. Ich könnte nun abschließend sagen:
das Jüdische Theater ist „meine Partei", und ich betreibe eine „Politik" in drei
Richtungen – hervorragende Schauspieler verpflichten, gute und sehr gute Stücke
einüben und Regisseure mit hohen künstlerischen Ansprüchen zur Mitarbeit
heranziehen. Das ist „meine Politik" und unser ständiges Anliegen. Nur so wird
es in Bukarest weiterhin ein Jüdisches Staatstheater geben.
DAVID: Herr Direktor Eliad, Ihnen und Ihren Schauspielern
Masel Tow! Und vielen Dank für dieses ausführliche Gespräch.