|
Konkrete Erinnerung
Gedenk-Aktionen für die jüdischen Opfer des NS-Regimes in Wien 2006
Tina WALZER
Im letzten Jahr stellten sich drei Aktionen in Wien der
Aufgabe, jüdische Opfer des NS-Regimes wieder sichtbar und damit den Wienern
eine oft allzu nahe Vergangenheit auch begreifbar zu machen.
Wer am 5. Mai 2006 durch Wiens Straßen spazierte, fand an
zahlreichen Haustoren weiße Rosen befestigt, mitunter gar ganze Büschel – Was
war geschehen? Das Datum war zum „Nationalen Gedenktag gegen Gewalt und
Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus" erklärt, und das
schulische Zeitgeschichte-Projekt „Letter to the Stars"
(www.lettertothestars.at) hatte ein sehr konkretes Zeichen des Gedenkens
gesetzt: an jenen Adressen, von denen aus Menschen einst in den Tod deportiert
worden sind. Schüler hatten in der Deportations-Datenbank des
Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes (www.doew.at)
recherchiert und Namen sowie Deportationsdaten der Opfer auf Zetteln
verzeichnet. Diese wurden dann mit 80.000 Rosen versehen und am Ort des
Geschehens angebracht. So konnte sich jeder aufmerksame Passant auf einen Blick
die Deportation aus dem Wohnhaus in Wien ganz unmittelbar vergegenwärtigen. Vor
allem das plötzlich sichtbare, ungeheuerliche Ausmaß der Vernichtung
erschütterte zutiefst.
Tausende Rosen mit den Namen und Todesdaten der Deportierten
wurden am 8. Mai 2006 an Wiener Haustoren angebracht. Foto: cer
Am 10. November 2006, dem Jahrestag der Novemberpogrome 1938,
knieten Menschen, einen großen gelben Stern auf ihrem Rücken und einen
Wasserkübel vor sich, in der Wiener Kärntnerstraße und schrubbten das Trottoir:
„Schaun Sie nicht weg" - Ein tableau vivant, ein lebendes Bild. Die Wirklichkeit
der verfolgten, gedemütigten, mißhandelten Juden prallte plötzlich auf das
Unverständnis, die Neugierde, aber auch die Erschrockenheit der unvorbereiteten
Beobachter. Immer wieder diskutierten die Teilnehmer der Aktion mit den
Passanten und ermutigten diese „zu Wachsamkeit gegenüber allen aktuellen
Versuchen, die Nazi-Verbrechen zu verharmlosen und erneut die Würde und Freiheit
von Menschen zu verletzen". Damit gelang es den Organisatoren Wolfram P. Kastner
http://www.wolframkastner.kulturserver.de, Hubert Kramar und Kajetan Dick
zusammen mit den freiwilligen Darstellern Eva Schuster, Ruth Rohrmoser und
anderen, die Schwierigkeiten beim Erinnern der bekannten Ereignisse, auch in
Hinblick auf eine eigene Haltung als Augenzeuge, und den problematischen Umgang
mit diesem Wissen oder Nichtwissenwollen sichtbar zu machen. Selten ist es
besser geglückt, den Aspekt der Konfrontation so einfach und doch so
vielschichtig zu verdeutlichen.
„Schaun Sie nicht weg" -
Erinnerungsaktion zum 10. November 2006 in der Wiener Kärntnerstraße.
Foto: Jouvenel. Mit freundlicher Genehmigung von Wolfram P.
Kastner
Gedenksteine und Erklärungstafeln bereichern neuerdings das
Erscheinungsbild des 2. Wiener Bezirks: Erklärungstafeln verorten ehemaliges
jüdisches Alltagsleben, jüdische Kultur und die Geschichte von Verfolgung und
Deportation, Gedenksteine verzeichnen Namen, Geburts- und Deportationsdaten
einzelner Opfer und werden an deren Wohnorten angebracht. Elisabeth Ben David-Hindler
entwickelte ihre Idee der „Steine der Erinnerung" (www.steinedererinnerung.net )
aus einer ganz konkreten Notwendigkeit: Nachkommen von Shoa-Opfern haben oftmals
den Wunsch, ihren vertriebenen, deportierten, ermordeten Familienmitgliedern am
letzten Ort ihrer ehemaligen Heimat ein Denkmal zu setzen. Viele heutige
Hausbesitzer jedoch untersagen ihnen das Anbringen solcher Gedenktafeln. Diese
Haltung erzwingt, mit Gedenktafeln auf öffentlichen Grund auszuweichen. Der
Verein „Steine der Erinnerung" führte bereits im Jahr 2005 das Projekt „Straße
der Erinnerung" auf dem Volkertplatz im 2. Bezirk durch, nun ergänzt durch das
Projekt „Weg der Erinnerung durch die Leopoldstadt": Am 12. November 2006 wurde
die erste Etappe in der Tempelgasse 3-5 eröffnet, wo einst der Leopoldstädter
Tempel stand. Mit Unterstützung der Stadt Wien als Grundeigentümerin, der
Bezirksvorstehung, der Bezirksbetreuung Leopoldstadt sowie des Österreichischen
Nationalfonds sollen immer mehr solcher Steine der Erinnerung in der
Leopoldstadt angebracht und ein Großteil der Kosten durch Patenschaften,
Bausteine und Spenden gedeckt werden.
Der Weg der Erinnerung durch die
Leopoldstadt. Darstellung: Verein „Steine der Erinnerung an jüdische Opfer des
Holocaust" November 2006
Die Strategie des NS-Regimes, seine Opfer durch Raub der Individualität quasi
zu entmenschlichen, erleichterte einst auch der Wiener Bevölkerung, bedenkenlos
an der Vernichtung dieser Menschen mitzuwirken. Offenbar ist nun in Wien die
Zeit gekommen, die damals eingeübte Haltung gegenüber den Opfern aufzugeben und
wieder genauer hinzusehen: auf die gemeinsame Vergangenheit. Die Gedenk-Aktionen
haben erreicht, aus der Geschütztheit der verordneten, abstrakten Gedenkkultur
endlich die Gesichter des Alltags herauszulösen. Den Opfern werden auf diese
Weise Persönlichkeit und Würde zurückgegeben, die ihnen dieses Land so lange
Zeit abgesprochen hat. Vielleicht erleben wir es noch, daß auch die Täter, die
Mitläufer, die Nichts-Gesehen-Haben-Wollenden einmal zu solch konkreten Personen
werden. n
Zurück
|
|
|
|