|
Jüdischer Albanologe: Norbert Jokl
Albert RAMAJ
Unter den Vätern der Albanologie jener Disziplin, die sich
mit Kultur, Sprache, Geschichte, Volkskunde, Musik Albaniens beschäftigt hatte
das tragischste Schicksal zweifellos Norbert Jokl, der von den Nazis wegen
seiner jüdischen Abkunft 1942 umgebracht wurde. Am 25. Februar 1877 kam er als
einziges Kind einer jüdischen Kaufmannsfamilie im südmährischen Bisenz (heute:
Bzenec in Tschechien) zur Welt. Nach dem Abitur nahm er das Jurastudium an der
Universität Wien auf, das er in kürzester Zeit (1901) mit einer Summa cum
laude-Promotion abschloss. Die juristische Praxis scheint ihn aber nicht
befriedigt zu haben. Jedenfalls kehrte er nach einiger Zeit an die Universität
zurück und widmete sich der Sprachwissenschaft: Indogermanistik studierte er bei
Paul Kretschmer, Romanistik bei W. Meyer-Lübke und Slawistik bei dem berühmten
Vatroslav Jagic´. Sein zweites Studium finanzierte er durch Arbeiten in der
Universitätsbibliothek. In Slawistik hat Jokl 1908 eine weitere Summa cum
laude-Dissertation vorgelegt. Kurz vor seiner zweiten Promotion begann er mit 30
Jahren, das Albanische zu erlernen. Die Sprachfertigkeit, die sich Jokl in
relativ kurzer Zeit aneignete, war erstaunlich.
1913 wurde er zum Privatdozenten für den Bereich
«Indogermanische Sprachwissenschaft mit besonderer Berücksichtigung des
Albanischen, Baltischen und Slawischen» ernannt. Zehn Jahre ließ die Ernennung
zum «Außerordentlichen Professor» auf sich warten, 1937 erhielt er den
Ehrentitel eines Hofrats. Seine ganze Liebe galt der Wiener
Universitätsbibliothek, die jeden, der sich ernsthaft mit Slawistik und
Balkankunde beschäftigt, bis heute in Begeisterung versetzt. Seine Anstellung
als (Ober-) Staatsbibliothekar kam seinem Naturell entgegen. – Dass jemand, der
so mit Leib und Seele einerseits Albanologe, andererseits Bibliothekar war, kein
Privatleben hat und Junggeselle blieb wie Norbert Jokl, kann nicht verwundern.
Ein dramatisches Ereignis verhalf ihm zu einer Bibliothek,
die künftig ihresgleichen suchte: Der bekannte Paläontologe und Albanologe
Privatdozent Dr. Franz Baron Nopcsa hatte, bevor er sich 1933 das Leben nahm,
schriftlich verfügt, dass der albanologische Teil seiner gewaltigen Bibliothek
an Norbert Jokl gehe. Damit war der Grundstock zu dessen immenser Bibliothek
gelegt, die zu einem Politikum werden sollte.
Norbert Jokl hat eine Reihe von Monographien hinterlassen,
z.B. seine «Studien zur albanesischen Etymologie und Wortbildung» (Wien 1911),
«Linguistisch-kulturhistorische Untersuchungen aus dem Bereiche des Albanischen»
(Berlin 1923), «Sprachliche Beiträge zur Paläo-Ethnologie der Balkanhalbinsel »
(aus dem Nachlass hrsg. von O. Pfeiffer, Wien 1984), dazu kommen zahlreiche
wissenschaftliche Beiträge und Aufsätze in Fachzeitschriften; Auszeichnungen und
Ehrungen wurden ihm zuteil. Ihm verdankt die Sprachwissenschaft den eindeutigen
Beweis, dass das Albanische – wie bereits vermutet – tatsächlich den
indogermanischen Sprachen zuzurechnen ist. Vielfach werden seine umfassenden
Vorarbeiten für ein «Etymologisches Wörterbuch der albanischen Sprache» erwähnt.
Die Materialien dazu sind im Zusammenhang mit seiner Deportation (1942)
verschwunden.
Obwohl Jokls Leben und Arbeiten ganz auf die Erforschung des
Albanischen ausgerichtet war, erfüllte sich erst 1937 sein sehnlichster Wunsch:
einmal nach Albanien zu reisen. Anlässlich des 25-Jahr-Jubiläums der
eigentlichen Staatsgründung Albaniens wurde er nach Albanien eingeladen und mit
dem «Skanderbeg Orden» geehrt.
Kaltstellung durch die Nazis
Die Machtergreifung der Nationalsozialisten mit ihrem
Rassenwahn hat letztlich Jokls Leben zerstört. Schon bald nach 1933 war zu
spüren, wie Jokl in Deutschland mehr und mehr ignoriert wurde; mit mancherlei
Zurücksetzung musste er sich abfinden. Der Druck seiner Manuskripte wurde
abgelehnt (besonders schmerzlich: in dem von ihm mitbetreuten «Indogermanischen
Jahrbuch»), Einladungen zu Vorträgen wurden zurückgezogen usw. Bald nach dem
«Anschluss» Österreichs an das «Großdeutsche Reich» (12. 3. 1938) wurde er am
20. Mai 1938 seines Dienstes als Oberstaatsbibliothekar enthoben, am 19. Juni
erfolgte seine Zwangspensionierung. Als Jude war ihm das Betreten öffentlicher
Bibliotheken nicht mehr möglich. Ein Versuch des damaligen Dekans, Viktor
Christian, Norbert Jokl bei den NS-Stellen mit «Mischlingen 1. Grades»
gleichstellen zu lassen und ihm damit weiterhin wissenschaftliches Arbeiten zu
ermöglichen, scheiterte. Sein Lehrer Paul Kretschmer schrieb Jokl betrübt im
April 1940: «Es tut mir recht leid, dass Ihr Gesuch [um Gleichstellung mit
Mischlingen 1. Grades –G.S.] abschlägig beschieden wurde - vermutlich aus
prinzipiellen Gründen. Ich hoffe in Ihrem Interesse, dass Sie in Albanien
unterkommen werden: nach dem, was mir der albanische Konsul sagte, den ich
gestern traf, besteht dazu viel Aussicht. Wenn sich dies entschieden hat, bitte
ich Sie mir dies persönlich mitzuteilen.» (Diese und andere Briefzitate sind
den unter «Literatur» genannten Arbeiten von Mechthild Yvon und Gerd Simon
entnommen.) Einer von Jokls Schülern, Georg Renatus Solta, hat ihn in den
verbleibenden vier Jahren oft besucht und für ihn Bücher aus Bibliotheken
ausgeliehen. 1941 konnte eine Deportation Jokls noch durch eine eindrucksvolle
Intervention der Fakultät unter Dekan Viktor Christian abgewendet werden.
Gern wäre Jokl nach Albanien ausgewandert. Aber selbst
vielfältige Bemühungen, etwa des italienischen Außenministeriums, haben nichts
geholfen. Ernst Koliqi zufolge soll sogar Mussolini bei Hitler wegen einer
Ausreise Jokls nach Albanien interveniert haben. In Albanien wurde alles getan,
um diesem großen Freund des albanischen Volkes die besten Voraussetzungen zu
verschaffen: Die Regierung sicherte ihm die Stellung eines Oberbibliothekars und
Leiters des Staatsarchivs in Tirana zu, ebenso die albanische
Staatsbürgerschaft.
Die berühmte Bibliothek Jokls
Möglicherweise hat Jokl seine fulminante Bibliothek das Leben
gekostet, von der er sich nicht trennen – und die er nach Albanien mitnehmen
wollte: Er hatte sie dem Staat Albanien geschenkt. An diesem Punkt scheint die
Solidarität der Fakultätskollegen ein Ende gefunden zu haben. Die Wiener
Universität wollte Jokls Bibliothek auf keinen Fall verlieren. Sie wurde am 27.
April 1942 beschlagnahmt und an die Nationalbibliothek «ausgeliehen». Man
vermutet, dass sich heute etwa 3000 Bände aus Jokls Besitz in der
Österreichischen Nationalbibliothek befinden. Dekan (und später Rektor) Viktor
Christian, dem der Verbleib der Jokl’schen Bibliothek in Wien offenkundig
stärker am Herzen lag als das Schicksal seines jüdischen Kollegen, trägt
sicherlich Mitschuld an Jokls Deportation – indem er sich nicht entschieden
genug, wie 1941, bei den NS-Behörden für Jokl eingesetzt hat. Aber das ist
Spekulation. Dem sich verschärfenden Druck seit 1941 folgend hatten sich auch
die anderen Kollegen, außer seinem Lehrer Paul Kretschmer und seinem Schüler
Georg Renatus Solta, von Jokl zurückgezogen.
Viktor Christian schrieb Alois Brunner² am 7.März 1942:
«Wie ich erfahre, soll Dr. Norbert Jokl [...] aus Wien […] als Jude
abtransportiert werden. Angeblich sollen Bemühungen der italienischen
Regierung im Gange sein, Dr. Jokl samt seiner wissenschaftlichen Bibliothek
nach Albanien zu bringen. So schmerzlich für die Fakultät der Verlust dieser
Bibliothek wäre, […] so sehe ich doch keine Möglichkeit, sie hier in Wien zu
halten, wenn die italienischen Bemühungen, Dr. Jokl die Ausreiseerlaubnis
nach Albanien zu erwirken, von Erfolg begleitet sein sollten, […]. Sollte
jedoch Dr. Jokl nicht die Ausreiseerlaubnis nach Albanien erhalten, sondern
nach Polen abtransportiert werden, so bitte ich dringend, seine Bibliothek
für die Philosophische Fakultät sicherzustellen. Der Wert der Bibliothek
liegt in der ziemlichen Vollständigkeit, mit der sie das Fachgebiet der
albanischen Sprache umfasst, vor allem aber in den wissenschaftlichen
Aufzeichnungen, deren Verlust für das betreffende Fachgebiet überaus
empfindlich wäre.»
Und in einem Schreiben des Reichsministeriums für
Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (26. 6. 1942) wird Jokls
Bibliothek, die schon ein Institut für sich darstellte, folgendermaßen
charakterisiert: «Der jüdische Albanologe, Professor Norbert Jokl, Wien,
besitzt eine einzigartige wissenschaftliche Bücherei, zu welcher u.a. das
albanische Wörterbuch mit ausführlichen handschriftlichen Überarbeitungen
für eine spätere Neuveröffentlichung sowie ein Katalog gehören. Als Erben
für diese komplette Bibliothek, die für die deutsche Wissenschaft von hohem
Wert ist, hat Professor Jokl den albanischen Staat bestimmt.»
Rettungsversuche nach Albanien
Ein bekannter albanischer Dichter, Lasgush Poradeci, bat die
Albanische Regierung 1938, Norbert Jokl nach Albanien einzuladen. Auch Carlo
Tagliavini, Dr. Nikolla Rrota, Ernest Koliqi, Francesco Ercole und andere haben
in diesem Sinne gewirkt. Ein albanischer Schriftsteller der «Rilindja»-Periode
(1870–1910), Franziskaner aus Shkodra –Pater Gjergj Fishta, kannte Jokl sehr gut
und wusste um die Gefahren, die ihm von den Nazis drohten. Er schrieb am 23.
September 1939 an Francesco Jacomini di San Savino, seit 12. April 1939
Statthalter des italienischen Königs Victor Emanuele III. in Albanien: Man möge
Jokl aus Österreich nach Albanien holen und ihm einen Posten als Bibliothekar
geben, um sein Leben zu retten. «Die ganze albanische Nation wird Ihnen
grenzenlose Dankbarkeit schulden, wenn König Victor Emanuel einen Weg finden
könnte, Norbert Jokl nach Albanien zu verbringen.»
Pater Gjergj Fishta bezeichnet Jokl als größten Albanologen
«aller Zeiten». – Aber auch dieser Initiative blieb der Erfolg versagt.
Die Ausreise nach Albanien und auch die Stelle eines
Bibliothekars dort stellten nicht das zentrale Problem dar – vielmehr war der
Jude Norbert Jokl mit seiner renommierten Bibliothek so zum Politikum geworden,
dass die NS-Behörden dies nicht mehr ignorieren konnten. Bereits am 25. Januar
1941 hatte Jokl seinem Lehrer Kretschmer geschrieben:
«Was meine Person betrifft, so vermochte ich bisher meine
Pläne, mir irgendwo eine neue Existenz zu gründen, nicht zu verwirklichen.
Das Land, dessen sprachwissenschaftlicher Erforschung der größte Teil meiner
Arbeit gewidmet ist, kommt augenblicklich aus bekannten Gründen für mich
kaum in Betracht, wiewohl – ich muss dies dankbar feststellen – zahlreiche
Persönlichkeiten sich für mich auch jetzt in selbstloser Weise einsetzten.
Mehr als je denke ich daher an Auswanderung nach den Vereinigten Staaten.
[...] Für jede Art von Hinweis, für jede gütige Verwendung, jedwede
Empfehlung wäre ich Ihnen, hochgeehrter Herr Kollege, außerordentlich
dankbar.»
Trotz aller Hilfe von verschiedenen Seiten ereilte Norbert
Jokl das Schicksal vieler Juden. Am 7. (oder schon am 2.) März 1942 wurde er von
der Gestapo in seiner Wohnung in der Wiener Neustiftgasse 67 verhaftet. Über
seinen Tod besteht Unklarheit. Er soll am 6. Mai 1942 deportiert worden und auf
dem Transport nach Weißrussland umgekommen sein – oder sich das Leben genommen
haben. Jokls 1942 zwangsweise als «Dauerleihgabe» an die Österreichische
Nationalbibliothek übertragene immense Büchersammlung, die dieser ja dem Staat
Albanien geschenkt hatte, wurde 1946 in die Nationalbibliothek eingegliedert: Es
habe keine Angehörigen mehr gegeben, die Anspruch erheben könnten. Das stimmt
allerdings: Alle Angehörigen Jokls waren dem Naziterror zum Opfer gefallen.
Am 29. April 1982 erfolgte eine späte Ehrenrettung, die das
Verhalten der Universität Wien allerdings nicht rechtfertigte: der Senat
beschloss, den Namen Norbert Jokls auf der Ehrentafel der Universität zu
verewigen.
Literatur: Çabej, Eqrem: Das albanologische Werk Norbert
Jokls. In: Akten des Internationalen Albanologischen Kolloquiums. Innsbruck
1977; Kotrri, Petrit: Norbert Jokl und seine Studien zur albanischen Sprache.
Innsbruck 1996; Krahe, Hans: Norbert Jokl. In: Indogermanisches Jahrbuch,
28/1949; Ramaj, Albert: Vdiq prof. dr. Georg Renatus Solta, balkanolog e
albanolog i shquar nga Vjena (1915–2005). In:
www.albanisches-institut.ch;
Simon, Gerd: Tödlicher Bücherwahn. Der letzte Wiener Universitätsrektor im 3.
Reich und der Tod seines Kollegen Norbert Jokl. In: Buchfieber. Zur
Hintergrundgeschichte des Buches im 3. Reich.
http://homepages.unituebingen.de/gerd.simon/buchfieber.htm;
Tagliavini, Carlo: Nachruf auf Norbert Jokl. In: Indogermanisches Jahrbuch,
28/1949; Yvon, Mechthild: Das Schicksal des Albanologen Norbert Jokl und seiner
Bibliothek. Wien 2004; Zwanziger, Roland: Norbert Jokl Albanologe und
Bibliothekar. Zur 40. Wiederkehr seines Todestages; in: Biblos, 30/1981.
Dieser Artikel ist publiziert in: G2W -Glaube in der 2. Welt
(Ökumenisches Forum für Religion und Gesellschaft in Ost und West) 2/2007 35.
Jahrgang, S. 24-25 (Themenschwerpunkt: Rettung von Juden in Albanien)
1 Albert Ramaj, (albert@albanisches-institut.ch)
Leiter des «Albanischen Instituts» St. Gallen; geboren im Kosovo; studierte
katholische Theologie und Philosophie in Zagreb, Graz, Wien und Luzern.
Zahlreiche Publikationen zu albanischen Themen sowie Übersetzungen in beide
Sprachen. Vor kurzem
ist das Buch von Thede Kahl/Izer Maksuti/Albert Ramaj
(Hgg.) „Die Albaner in der Republik Makedonien. Fakten, Analysen, Meinungen zur
interethnischen Koexistenz". LIT-Verlag, Münster 2006 erschienen.
2 Alois Brunner war die rechte Hand von Adolf Eichmann.n
Zurück
|
|
|
|