Mihail Sebastian starb am 29. Mai 1945 bei
einem tragischen Autounfall. Nach seinem Tod schrieb der inzwischen weltbekannte
Dramaturg Eugène Ionesco: „Er hatte sich einen klaren Kopf und wahre
Menschlichkeit bewahrt. Er war mir ein Freund, ein Bruder, und er war reifer
geworden, ernsthaft und tiefsinnig. Wie schade, dass er nicht mehr unter uns
weilt."
Diese „wahre Menschlichkeit", die
Sebastian Zeit seines kurzen Lebens kennzeichnet und geprägt hat, ging nämlich
in jener Epoche, den düsteren Jahren des Faschismus, manchem rumänischen
Intellektuellen zeitweilig oder für immer verloren. Selbst Mircea Eliade, Emil
Cioran, Constantin Noica und andere Kulturwissenschaftler – darunter auch
Freunde Sebastians, die zur geistigen Elite des Kreises „Junge Generation"
gehörten, marschierten damals in der „Eisernen Garde" der Legionäre mit. Diese
paramilitärische, rechtsextreme Gruppierung huldigte einem eigenartigen
Blut-und-Boden-Kult, wobei sich ultranationale, christlich-orthodoxe und
antisemitische Elemente zu einer seltsamen Art „Ideologie" verklumpten.
Jahre später schildert der in Frankreich lebende Eugène
Ionesco den Ideologisierungsprozess jener Zeit in seinem berühmten Theaterstück
„Rhinocéros" („Die Nashörner"), wo der Hauptheld Béranger untätig zusehen muß,
wie seine intellektuellen Freunde nacheinander dem ideologischen Fanatismus
erliegen. Und in Anlehnung an den rumänisch-jüdischen Literaturkritiker Zigu
Ornea stellt Edward Kanterian, Herausgeber von Sebastians Tagebuch, im Jahr 2004
die rhetorisch wirkende Frage: „Wie war es möglich, dass es inmitten einer
fortgeschrittenen Zivilisation zu solch monströsen Verblendungen, solch
monströsen Verbrechen kommen konnte?" Über diese „Tragödie seiner Epoche" wollte
Mihail Sebastian in einem eigenen Buch ausführlich berichten. Doch er kam nicht
mehr dazu. Und so blieb der Nachwelt nur sein Tagebuch – als „Ersatz", doch auch
als tiefes und bewegendes Zeugnis, das mit den Aufzeichnungen von Primo Levi,
Anne Frank oder Victor Klemperer verglichen werden kann.
Wer war Mihail Sebastian, der am 18. Oktober 1907 als Josef
M. Hechter in Brăila (dt./jidd. Brajla) an der Donau geboren wurde, in einer
multiethnischen rumänischen Hafenstadt, aus der eine Reihe bekannter Künstler
und Schriftsteller, wie Maximilian Herman Maxy, Tuvia Iuster, Panait Istrati,
Heinz Stănescu (Rothenberg), Alexandru Singer u.a. stammten?
Als Sebastian 1935, im Alter von 28 Jahren sein Tagebuch, das
ihn später weltbekannt machte zu schreiben begann, hatte er 1933 den
Novellenband „Frauen" und 1934 den Roman „Seit zweitausend Jahren"
veröffentlicht, und er war als auch brillanter Essayist und namhafter
Kulturjournalist sowie als Redakteur der renommierten Bukarester
Literaturzeitschrift „România literară" bekannt geworden.
In den Jahren 1930 und 1932 hatte Sebastian in Paris gelebt
und dort als Jurist zu promoviert. Damals beendete er auch die Arbeit an seinem
ersten Roman „Die Stadt der Akazien" einer subtilen Liebesgeschichte aus seiner
Heimatstadt, die ihn als feinsinnigen psychologischen Beobachter ausweist. Das
Buch konnte allerdings erst 1935 erscheinen. Mehr Erfolg hatte er mit seinen
„Fragmenten aus einem gefundenen Notizheft" (1932), das zusammen mit Mircea
Eliades Aufzeichnungen „Soliloquien" und Eugen Ionescos Streitschrift „Nein!"
mit dem Literarischen Nachwuchspreis der Königlichen Stiftung ausgezeichnet
wurde.
Als die ultrarechte antisemitische „National-Christliche
Partei" unter Octavian Goga für kurze Zeit (1937/38) an die Macht kam und die
ersten „Rassengesetze" verabschiedete, ahnte Sebastian, dass nun die Juden
Rumäniens einem dunklen Schicksal entgegenlebten. Im Sommer 1941 – unter
Marschall Ion Antonescu – begannen dann die Deportationen nach Transnistrien, in
die östlichen Vernichtungslager. In jenen Jahren, 1941-1942, setzte bei
Sebastian eine Rückbesinnung auf sein Judentum ein, das bis dahin für ihn
„lediglich ein Aspekt seiner individuellen Identität" gewesen war.
So vermerkte er in seinem Tagebuch am 17. Dezember 1941: „Auf
einer sonnigen, sicheren und friedlichen Insel, irgendwo im Ozean, wäre es mir
gleichgültig, ob ich Jude bin oder nicht. Aber hier und jetzt kann ich nichts
anders sein. Und ich will auch nichts anders sein." Und wie in einem Credo heißt
es dann: „Ich werde nie aufhören, Jude zu sein, denn dies ist keine bloße Rolle,
die man einfach ablegen könnte... Es ist eine Tatsache.... aber ich werde auch
nie aufhören, ein Mensch von der Donau zu sein" und „nichts anders bleiben, als
Jude, Rumäne und Mensch der Donau".
Trotz des Publikations- und Aufführungsverbots schrieb
Sebastian weiter an seinem Tagebuch, und arbeitete an verschiedenen
literarischen Vorhaben. Außerdem konnte er sich der systematischen Lektüre der
Klassiker wie Balzac und Shakespeare widmen, symphonische Musik aus dem Radio
und von Schallplatten hören. Denn in der südrumänischen Walachei hatte die
jüdische Stadtbevölkerung zeitweilig eine gewisse „Schonfrist", sieht man ab von
den Massakern während der Rebellion der Legionäre im Januar 1941, als 127
jüdische Einwohner ermordet wurden. Ende 1942 verzichtete Antonescu dann sogar
auf die Durchführung seines schon ausgearbeiteten Planes, die rumänischen Juden
in die deutschen Vernichtungslager nach Polen zu deportieren, und so entgingen
viele dem sicheren Tod. Das Schicksal der Juden hingegen, die sich bereits in
den 50 östlichen Ghettos, den 58 Arbeits- und 8 Vernichtungslagern
Transnistriens befanden endete zum Großteil in der Schoa.
Sebastian lebte in jenen Jahren meist zurückgezogen. Kurze
Begegnungen, das Weltgeschehen, die Kriegsereignisse und auch geheime Wünsche
wurden – letztere manchmal nur marginal, doch eindrucksvoll – aufgezeichnet. So
schrieb er z.B. am 25. Dezember 1941:
„Unglaublich schöner Tag, fast wie im
Frühling, mit reiner Luft, Sonne, einer leichten Brise. Irgendwo in den
Bergen mit einer jungen, geliebten Frau zu sein!" Und bald danach, am 30.
Dezember notierte er: „Träumte letzte Nacht wieder, dass ich in Paris bin.
Ein langer Traum, in dem die Freude darüber, in Paris zu sein, sich mit der
Angst vermischte, in einer von den Deutschen besetzten Stadt zu sein. Die
ganze Zeit über fühlte ich mich bedroht und verfolgt."
Doch er arbeitete, wie erwähnt, auch an
literarischen Projekten. Es entstanden die später äußerst erfolgreichen
Theaterstücke „Der Stern ohne Namen" (1944) und „Letzte Ausgabe" (1945). „Der
Stern ohne Namen" erlebte nach 1945 zahlreiche Aufführungen, wobei die Premiere
noch während des Krieges, 1944, stattgefunden hatte und der Autor nur unter
einem Pseudonym genannt werden durfte, da „jüdische Theaterstücke" verboten
waren.
Sein wichtigstes literarisches Prosawerk bleibt aus heutiger
Sicht der Tagebuchroman „Aus zweitausend Jahren" (1934), der erst 1997 auch in
einer deutschen Ausgabe erschienen ist. Hier versucht Sebastian, motiviert durch
die zunehmende antisemitische Stimmung im Land, die „jüdische Frage" zu
analysieren und somit zu thematisieren. Die Hauptgestalt notiert ihre Eindrücke
und Erlebnisse während einer Zeitspanne von zehn Jahren, 1923-1933: Der junge
Jude studiert Jura und danach Architektur an der Bukarester Universität, hält
sich zeitweilig in Paris auf, wird als Jude aus Vorlesungen ausgeschlossen,
bedroht, zusammengeschlagen und muss die Universität verlassen. Schließlich
arbeitet er als Architekt.
„Innerlich bleibt er aber ein Fremder auf
der Suche nach der eigenen Identität, hin- und hergerissen zwischen der
rumänischen Gesellschaft und seinem Judentum. An beiden findet er positive
und negative Aspekte, und keiner der üblichen Auswege aus dieser Zwangslage
befriedigt ihn: weder die Zuflucht zur orthodoxen jiddischen Kultur noch der
kommunistische Parteigang noch der Zionismus noch die Gleichgültigkeit der
Assimilierten. Ihm bleibt die Einsicht, dass seine Ausnahmestellung, der
gebrechliche Gang zwischen diesen Widersprüchen sein Leben, seine Identität
immer ausmachen werden",
schreibt Edward Kanterian im Vorwort zu Sebastians Tagebuch.
Dass diesem Werk die Suche nach Authentizität, nach einem
ungekünstelten Stil und eine schonungslose Selbstanalyse des Autors zugrunde
liegen, wird deutlich, wenn man in Sebastians Tagebuch nachliest. Im Jahr 1934
jedoch wurde der Roman von der „Kritik" ganz anders „eingeschätzt". Sebastian
hatte seinen ehemaligen Lehrer, den Philosophen Nae Ionescu um ein Vorwort
gebeten, ohne zu ahnen, dass dieser inzwischen mit der faschistischen „Eisernen
Garde" sympathisierte, die ihn später sogar zu ihrem „Vorzeigeintellektuellen"
machte.
Nae Ionescus religiös kaschierter Verriss übertraf alles, was
man bis dahin an antisemitischen Äußerungen aus akademisch gebildeten Kreisen
gelesen hatte. Es war „ein Schlag ins Gesicht, eine der bittersten
Enttäuschungen" in Sebastians Leben. „Nae hat mir sein Vorwort gezeigt. Eine
Tragödie, ein wahres Todesurteil", sagte der Autor damals zu Mircea Eliade. Nae
Ionescus Diktion kulminierte in aggressiven Sätzen wie: „Juda leidet, weil er
Juda ist. Iosif Hechter, du bist krank. Der Messias ist schon gekommen, und du
hast ihn nicht erkannt. Iosif Hechter, fühlst du nicht, wie dich Kälte und
Dunkelheit umfangen?".
Diese Kälte und Dunkelheit – es war jedoch jene, die der
Faschismus verbreitete – hatte Josef Hechter trotz seines Pseudonyms Mihail
Sebastian sehr wohl zu spüren bekommen, ihre Hintergründe erkannt, in seinem
Tagebuch 1935-1944 festgehalten und beeindruckend dokumentiert. So versuchte er
das „Gefühl der Isolation", das sich bei ihm als Jude 1934 einstellte, durch
Lektüre, Musikhören und Arbeit zu überwinden. Gleichzeitig schrieb er unter
ständiger Todesangst weiter am Tagebuch, in dem sich die ganze Tragödie jener
Jahre widerspiegelt, die unaufhaltsame Vernichtung seines Volkes und das
verzweifelte Warten auf den Tag, da ihn das gleiche Schicksal erreichen würde.
Erst 1996 konnten die umfangreichen Aufzeichnungen in
Rumänien als Buch unter dem Originaltitel „Jurnal 1935-1944" erscheinen, danach
wurden sie bald auch ins Englische, Französische und Deutsche übersetzt. Arthur
Miller vermerkte über dieses beeindruckende Dokument vom geistigen Überleben
eines jüdischen Schriftstellers, der trotz ständiger existenzieller Bedrohung
noch die Kraft fand, über das Zeitgeschehen zu berichten: „Dieses Buch lebt, es
zeugt von einer Seele voller Menschlichkeit, aber auch von der wachsenden
Brutalität des letzten Jahrhunderts, die sich vor Sebastians Augen entfaltete."
Als sich die ersten Erfolge einstellten und er im Frühjahr
1945, voller Pläne und Hoffnungen, an die Bukarester Universität berufen wurde,
befand er sich am 29. Mai 1945 auf dem Weg in die Literaturfakultät, wo er seine
Antrittsvorlesung über Balzac halten sollte. Da geschah das Unheil. Er wurde von
einem Lastwagen erfasst und verunglückte tödlich – im Alter von 38 Jahren.
Zwei Jahre danach, 1947, schrieb der bekannte rumänische
Schriftsteller Camil Petrescu: „In einer Zeit, in der so viele zu Lebzeiten
berühmte Autoren vergessen werden, sobald sie tot sind, erscheint Mihail
Sebastians Persönlichkeit von Jahr zu Jahr komplexer. Es werden noch viele Jahre
vergehen, bis ihr eigentliches Wesen erkannt sein wird. Sein Werk wird die
Zeiten überdauern, ohne jede Hilfe, ganz auf grund seiner inneren Substanz."
Heute, an seinem 100. Geburtstag, kann man mit Bestimmtheit
sagen: Sein Werk hat die Zeiten überdauert. Als er noch lebte, war ihm der große
Erfolg nicht beschieden. Vielleicht auch wegen der Tatsache, dass er dem „Bann
der kleinen Kultur" im damaligen Rumänien nicht entkommen konnte, um – wie
Arthur Segal, Victor Brauner, Marcel Janco, Tristan Tzara, Jacques Herold,
Daniel Spoerri, Josef Salamon, Eugène Ionesco, Norman Manea und andere
herausragende rumänisch-jüdische Künstler und Schriftsteller – seinen Weg im
westlichen Europa zu gehen. So lebte er bis zu seinem tragischen Ende in „der
Kloake", wie er in bitteren Stunden das geistige und gesellschaftliche Milieu
jener Jahre nannte.
Doch der Schriftsteller, der einst nichts anderes „als Jude, Rumäne und
Mensch der Donau bleiben" wollte, ist trotzdem heute in Europa und auch in den
USA angekommen. Das aber kann nur der Anfang einer späten Wiedergutmachung sein,
die zur weiteren Kenntnisnahme seines Werkes führen wird.
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