Ein professionelles Ensemble
Das Gastspiel des Bukarester
Jüdischen Staatstheaters in Wien
(Mai 2007, stadtTheater Walfischgasse)
Andreas Alex. HOLZMANN
In der Nähe der Wiener Staatsoper, in einem Gässchen, aus
dessen Name ein Anflug von liebenswürdiger Selbstironie herauszuhören ist, liegt
das stadtTheater Walfischgasse – klein aber fein, umsichtig
geführt von der Künstlerin Anita
Ammersfeld, die vor einigen Jahren die Leitung des Theaters übernommen hat und
über ein exzellentes Team von Mitarbeitern verfügt. Im Mai dieses Jahres
gastierte hier das Jüdische Staatstheater aus Bukarest1
mit zwei durchaus bemerkenswerten Aufführungen in
Jiddisch mit deutschen Untertiteln: Menachem Mendel, der Geschäftsmann,
ein Musical nach Scholem Alejchems gleichnamigem Briefroman und Der, der die
Watschen kriegt, ein Drama von Leonid Andrejew.
PLAKAT JUEDISCHES STAATSTHEATER
Harry Eliad
(seit 1990 Intendant des Jüdischen Staatstheaters), der Regisseur von
Menachem Mendel, ist ein anerkannter, erfolgreicher Spezialist auf dem
Gebiet des Musicals; er hat sich außerdem ein ehrgeiziges Ziel gesetzt, das er
einfühlsam schon seit geraumer Zeit verfolgt und Schritt für Schritt
verwirklicht – nämlich alle Werke von Scholem Alejchem (1859 – 1916) auf
die Bühne zu bringen. Er bearbeitete liebevoll auch diesen Text des großen
Klassikers der jiddischen Literatur, der, aus der Ukraine stammend, voller
Lebendigkeit die Welt der Ostjuden gegen Ende des neunzehnten und Anfang des
zwanzigsten Jahrhunderts schildert. Dem Regisseur standen Radu Captari
und Nicolae Caragea als Komponisten und Arrangeure von traditionellen
jiddischen Liedern zur Seite. Besondere Anerkennung gebührt auch dem
Choreographen Păstorel Ionescu, der für die Tänze verantwortlich
zeichnete. Menachem Mendel aus Kasrilivke, der Luftikus mit den «Rosinen im
Kopf» (von Nicolae Predica nicht ohne Pfiff gespielt), zieht wie
Klein-Hänschen in die weite Welt – nach Odessa, Jehupez und schließlich nach
Amerika – um sein Glück als (durchaus begriffsstutziger) Geschäftsmann zu
versuchen.
1. Szene aus dem Musical „Menachem Mendel, der Geschäftsmann"
von Scholem Alejchen.
«Ich hab’ keine Ahnung, ob was für mich aus dem Geschäft
rauskommt», meint Menachem. «Es kann schon sein, daß ich mir dabei den
Hals breche. Ich hoffe wenigstens nichts dabei zu verlieren. Ihr werdet mich
sicher fragen, wozu ich dies alles gebraucht habe? ’S wird wohl eine Dummheit
gewesen sein – nur hab ich’s getan und basta! Ich bin ein seriöser Mensch, ein
Geschäftsmann.»
Mihai Ciuca als Marussja im Menachem Mendel Musical
Indessen plagt sich Menachems Frau Scheine Schendl, die in
Kasrilivke geblieben ist, mit den Kindern und den Alltagssorgen. Geni Brenda
– die auch am zweiten Abend im Stück des russischen Autors eine der Hauptrollen
spielt – zeigt sich dieser Rolle gewachsen: Sie ist eine begabte junge
Schauspielerin, ausdrucksvoll, nuanciert, leichtfüßig. Leonie Waldman Eliad
als Scheines Mutter, eine erfahrene, kompetente Schauspielerin und Sängerin,
gießt immer wieder Öl ins Feuer und hackt witzig-bösartig nach ihrem
Schwiegersohn: «Was kümmert’s ihn!? Er spaziert in Odessa herum wie der liebe
Gott in der Droschke... Was fehlt ihm weiter? Womöglich ein klein bißchen
Bauchweh und Schüttelfrost.» Die Börsengeschäfte, von denen Menachem in
seinen Briefen an Scheine faselt, treiben seine Ehefrau zur Verzweiflung – der
entsprechende Börsenjargon («hoß» und «bäß») klingt den beiden
Damen «Türkisch oder Tatarisch». Alle Auftritte sind ergötzlich: Mihai
Ciucă, ein vielseitiger Profi, der hier mehrere Rollen verkörpert, besticht
mit seinem Talent für Komödie und Kabarett (wie er z. B. als prekraßnaja
Marussia verkleidet das Lied von der schönen Stadt am Schwarzen Meer
singt – gemeint ist Odessa –, das ist einfach urkomisch!); oder die Szene auf
dem Jahrmarkt, in der Chane und Brane (temperamentvoll: Natalie Ester und
Cristina Cîrcei) «koschere» Gänse verkaufen und über die Vorzüge des
alten und des neuen Schoichets streiten; oder die erfolglosen Versuche
Menachems, die träge, ansonsten aber gar nicht mundfaule Wirtin (Arabela
Neazi) zu veranlassen, ihm endlich einen Imbiß vorzusetzen; oder die
prägnanten Kurzauftritte Schmelkes (Nicolae Călugăriţa) und des
Stotterers (Mircea Drîmbăreanu). Darüber hinaus bot der Humor Scholem
Alejchems den Jiddischkennern im Publikum (und es waren ihrer nicht wenige) ein
apartes Vergnügen: «A knip in bak, ober di farb sol schtein!» (Ein Kniff
in die Backe, nur soll die Farbe dran kleben!). – Ein gelungener Abend des
Jüdischen Staatstheater-Ensembles, das mit anhaltendem, rhythmischem Applaus
belohnt wurde.
Andrei Finti als Der
Der zweite Abend war ebenfalls interessant und attraktiv. Die
Wahl des Textes setzt einen gewissen Mut voraus: Leonid Andrejews Der, der
die Watschen kriegt gehört nämlich der heute ziemlich verpönten Gattung des
Melodramas an oder liegt doch nahe daran. So scheint es jedenfalls, wenn man
nicht genauer hinhört. Gorki sah es anders. Für ihn war Andrejew in jedem seiner
Werke «von einer erschreckenden Hellsichtigkeit in allem, was die düsteren
Seiten des Lebens, die Zwiespältigkeiten der menschlichen Seele [...] »
betraf. Das Stück des bedeutenden russischen Autors, Malers und Photographen
(1871 – 1919), zweimal aus seinem Vaterland vertrieben: 1906 vom Zaren, 1917 von
der Revolution – war seinerzeit durchaus populär (er schrieb es während des
Weltkrieges, vier Jahre vor seinem Tod). Zudem wurde es ein Jahrzehnt später vom
Schweden Victor Sjöström verfilmt und ging als Meisterwerk in die Filmgeschichte
ein: He Who Gets Slapped, (USA 1924). Die jiddische Übersetzung des
russischen Textes besorgte der 1988 verstorbene Israil Bercovici, ehemals
Chefdramaturg des Bukarester Jüdischen Theaters, ein namhafter Historiker des
jiddischen Theaters und einer der wichtigsten Vertreter der jüdischen Kultur in
Rumänien 2.
Natalie Ester, Rudy Rosenfeld und Andrei Finti in L. Andrejews
Drama
Die Fabel ist rasch erzählt: Ein Adeliger
sucht Zuflucht in der Welt des Zirkus, wo er mit Erfolg als Clown unter dem
Künstlernamen «Der, der die Watschen kriegt» auftritt. Er verliebt sich in
Consuella, die Kunstreiterin und (Adoptiv-)Tochter des Grafen Mancini, die den
Artisten Besano liebt, jedoch in die Heirat mit dem reichen Baron Regnard
einwilligt. Diese Konstellation führt schließlich zu Mord und Selbstmord.
Andrejew hat aus dem angeblich melodramatischen Handlungsgerüst eine
feingesponnene, intensive Allegorie der Künstlerexistenz gemacht, bei der sich
Schein und Wirklichkeit, Maske und Blöße, Lachen und Weinen überschneiden;
zugleich hat er eine Reihe von einprägsamen Rollen geschaffen. Regisseur
Elemèr Kincses ist darauf mit Affinität und Ironie eingegangen. Die
Hauptdarsteller wurden dazu angeregt, wesentliche Züge ihrer Rollen
herauszustellen und gegeneinander auszuspielen: Andrei Finţi in der
Titelrolle ist nachdenklich und zerrissen, dennoch trifft er todbringende
Entscheidungen; Geni Brenda als Consuella vereint Naivität und
mädchenhafte Gemütsregungen mit einem gewissen Sinn für Pragmatismus; Mihai
Ciucă (als Graf Mancini) beweist, daß er sich wirksam auch in Bereiche
vorwagen kann, die mit dem Tragischen in Berührung kommen; überzeugend sind auch
Natalie Ester (als furchteinflößende Löwenbändigerin Sinida, die um Liebe
bettelt), Rudy Rosenfeld (als gewitzter, etwas zynischer Zirkusdirektor
Briquet), Mircea Drîmbăreanu (als Besano) und Gheorghe Ciupercescu
(als Baron Regnard)... Das Bühnenbild und die herrlichen Kostüme von Clara
Labancz trugen in nicht geringem Maße zum Gelingen dieses zweiten Abends
bei. Auch diesmal gab es viel Applaus. Das Bukarester Jüdische Staatstheater
unter Intendant Harry Eliad ist ein bemerkenswert professionelles Ensemble!
Anmerkungen
1
Im Rahmen der «Bukarester Festwochen in Wien». – Einen Monat zuvor, im Pessach-Heft
(Nr. 72, April 2007) der Zeitschrift «David» erschien unter dem Titel «Jüdisches
Theater hat hier Tradition» das Gespräch, das Claus Stephani mit Harry Eliad,
dem Intendanten des Jüdischen Staatstheaters in Bukarest, führte.
2
Siehe diesbezüglich das Buch von Elvira Grözinger, Die jiddische Kultur im
Schatten der Diktaturen. Israil Bercovici – Leben und Werk, Philo Verlag
Berlin, Wien 2002. Aus dem 550 Seiten starken Band ist vieles auch über die
Geschichte des Bukarester Jüdischen Staatstheaters zu erfahren.
n
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