Die Geburtsstunde der ersten wirklich progressiv-jüdischen
Gemeinde in Wien war der 4. Mai 1990, als der erste liberale jüdische
Gottesdienst im Hotel Imperial unter Leitung des damaligen Landesrabbiners von
Niedersachsen, Henry Brandt, stattfand. Kurze Zeit danach konstituierte sich der
Verein „Or Chadasch Bewegung für progressives Judentum".
In den vergangenen 17 Jahren konnte sich das progressive
Judentum in Wien, anfangs gegen harte lokale Widerstände und Vorurteile, mit
Hilfe der Weltunion für progressives Judentum (die heute weltweit größte
jüdisch-religiöse Bewegung mit rund 2 Millionen Mitgliedern) langsam aber stetig
weiter entwickeln.
Dr. Theodor Much bei einer Ansprache
Liberales Judentum steht für ein zeitgemäßes, weltoffenes,
ethisch-moralisch hochstehendes und doch traditionsbewusstes Judentum, in dem
Frauen eine völlige Gleichstellung genießen. Es steht für ein Judentum, das auch
all denjenigen Juden, die sich vom traditionellen Judentum aus verschiedenen
Gründen entfernt haben (und sich nicht selten ausgegrenzt fühlen) ein jüdisches
Zuhause bietet - ein Judentum, das den Menschen hilft, ihr Judentum wieder neu
zu entdecken und in zeitgemäßer Form zu praktizieren. Es ist aber auch ein
Judentum, das bereit ist, Menschen, die den Weg zur jüdischen Religion suchen,
bei ihren Bemühungen zu unterstützen.
Bis vor drei Jahren musste Or Chadasch all seine Aktivitäten
in Räumlichkeiten durchführen, die mit anderen Organisationen und Vereinen
geteilt werden, so u. a. in der Schütteistrasse und in der Haidgasse. Zu den
hohen Feiertagen mussten größere Räumlichkeiten in Wiener Hotels gemietet
werden.
Thoraschrein der Synagoge in der Robertgasse
Die ungünstige Situation änderte sich schlagartig, als mit
Hilfe von Rabbiner Dr. Walter Homolka (Gründer des Abraham Geiger Collegs in
Berlin) und mit finanzieller Unterstützung der Stadt Wien und der Republik
Österreich in enger Zusammenarbeit mit der Israelitischen Kultusgemeinde Wien
die Räume einer ehemaligen Druckerei in der Robertgasse 2 im traditionell
jüdischen 2. Bezirk zu einer modernen und sehenswerten Synagoge umgestaltet
wurden. Nach den Plänen von Mag. Ferydon Heschmat wurde mit dem Umbau begonnen.
Der Rohbau konnte schließlich unter Leitung von Ing. Samuel Huber-Huber
vollendet werden. Die schöne Thoraschranktür und der Lebensbaum der Synagoge
wurden vom bekannten Bildhauer Behruz Heschmat entworfen und angefertigt. Dass
der Traum von einer eigenen liberalen Synagoge mit Nebenräumen und einer
Bibliothek erfüllt werden konnte, verdankt Or Chadasch auch der Israelitischen
Kultusgemeinde Wien. Diese stellte großzügigerweise Räumlichkeiten in einem
Wohnhaus zur Verfügung und zeigte damit, dass ein Zusammenleben von
unterschiedlichen jüdischen Strömungen unter einem Dach durchaus möglich und
„Wien eben anders ist". Die offizielle Eröffnungsfeier, unter Beteiligung vieler
prominenter Persönlichkeit aus Politik, Religion und Kultur, erfolgte am 22.
Februar 2004. Damals wurde auch Rabbinerin Irit Shillor in ihr Amt eingeführt
und Leslie Bergmann zum Ehrenpräsidenten von Or Chadasch ernannt.
Geöffneter Thoraschrein
Heute ist Or Chadasch eine blühende jüdische Gemeinde, die
ihren Mitgliedern und Freunden viel zu bieten hat: so u. a. regelmäßige
Gottesdienste, Feiern zu allen jüdischen Festtagen in einem schönen und modernen
Ambiente, Religionsunterricht für Kinder und Erwachsene sowie Kurse für
Übertrittswillige. Weiters organisiert Or Chadasch regelmäßig literarische und
politische Veranstaltungen. Die Gemeinde beteiligt sich auch am
interkonfessionellen Dialog,
Als Nachfolger von Rabbinerin lrit Shillor, die Or Chadasch
vier Jahre lang erfolgreich betreute, fungiert seit einem Jahr der allseits
beliebte und geachtete Rabbiner Walter Rothschild als spiritueller Leiter der
Gemeinde. Rabbiner Rothschild besucht Wien ein bis zwei Mal im Monat. In seiner
Abwesenheit leiten Gemeindemitglieder die Gottesdienste.
Im März des kommenden Jahres wird Or Chadasch Gastgeber der
alle zwei Jahre stattfindenden Konferenz der Weltunion für progressives Judentum
(European Board) sein, zu der viele Juden aus aller Welt nach Wien kommen
werden. Zur feierlichen Eröffnung der Konferenz ist auch politische und
religiöse Prominenz angesagt.