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Säulen der modernen Kunst

Von Max Liebermann bis Dara Birnbaum / Marginalien zu einer Zeit der Vielfalt und großer Namen

Claus STEPHANI

Was wäre der deutsche Impressionismus ohne seinen Begründer und Hauptvertreter Max Liebermann? Er war auch der Initiator der Berliner Sezession, 1899, der künstlerischen Opposition gegen die bestehenden konventionellen Standesorganisationen und gegen die offizielle akademische Kunst jener Zeit. Obwohl in dieser Sammlungsbewegung die Impressionisten dominant waren, konnten – ermutigt von Liebermann – in der ersten Ausstellung, die am 20. Mai 1899 eröffnet wurde, auch 28 Gemälde von Edward Munch und je drei von Kandinsky und Hodler gezeigt werden. Und dadurch erhielt die moderne Kunstentwicklung wichtige Impulse, die später zu einer Glanzperiode des deutschen Expressionismus führten. Liebermann wurde 1920 zum Präsidenten der Akademie der Bildenden Künste in Berlin berufen, ein Ehrenamt, das er bis 1933 innehatte. Er verfasste auch eine Reihe bedeutsamer kunsttheoretischer Schriften, die ab 1916 erschienen sind und dann 1957 und 1978 neuaufgelegt wurden.

Marc Chagall, Der Tanz (1950)

Gäbe es den sogenannten Konstruktivismus in der modernen Kunst, wenn nicht László Moholy-Nagy zu Beginn der 1920er Jahre diese Richtung begründet hätte? Zusammen mit El Lissitzky, Kasimir Malewitsch, Lajos Kassak, Antoine Pevsner, Naum Gabo u.a.

Denn es waren die Brüder Antoine Pevsner (Nathan Borissowitsch Pewsner) und Naum Gabo (Neemija Borissowitsch Pewsner), die 1902 die Ideen des Konstruktivismus von Wladimir Tatlin wieder aufnahmen und in Paris fortführten – Pevsner als Theoretiker und Maler, Gabo als Bildhauer, Maler und Architekt. Richtungsweisend wurden die ersten plastischen Konstruktionen Gabos, die während seines Aufenthalts 1914-1917 in Oslo und Kopenhagen entstanden, sowie um 1920 seine ersten kinetischen Skulpturen, während sein Bruder Pevsner, etwa zur gleichen Zeit, das erste abstrakte Enkaustik-Gemälde schuf. Beide verfassten danach, 1920, in Moskau das „Realistische Manifest", in dem sie gegen die Ideen des Kubismus und Futurismus und aber auch – was aus heutiger Sicht besonders wichtig ist – gegen die Politisierung und Parteilichkeit der Kunst im aufkommenden „Sozialistischen Realismus" opponierten.

Max Liebermann, Der Papagaienmann (1902)

László Moholy-Nagy, dessen vielseitiges Arbeitsfeld von der Metall- und Kunststoffformung bis hin zur Fotografie und Typografie reichte, prägte als Professor maßgeblich das Staatliche Bauhaus in Weimar, einst eine bekannte internationale Schule für Architektur und Formgestaltung, wohin ihn 1923 Walter Gropius berufen hatte. Drei Jahre später veröffentlichte er sein berühmtes Bauhaus-Buch „Malerei, Photographie, Film", das wichtige Anregungen über Gemeinsamkeiten dieser kreativen Ausdrucksformen vermittelte.

El Lissitzky (Elijeser Markowitsch Lissizki), der 1909-1913 in Darmstadt Architektur studierte und 1919-1921 an der von Chagall gegründeten Volks-Kunstschule in Witebsk gelehrt hatte, richtete 1923 in Berlin zum ersten Mal einen „Proun"-Raum und in Dresden und Hannover Ausstellungsräume für gegenstandslose Kunst ein. Im Jahr 1925 veröffentlichte er gemeinsam mit Hans Arp die Schrift „Die Ismen der Kunst" und schuf danach, in der Zeit zwischen 1925-1928, als er in Hannover lebte, die Dekorationen für das berühmte „Kabinett der Modernen" im Landesmuseum, die später jedoch von den Nazis zerstört wurden. Seine eigenartige Gestaltungsweise – die Verbindung von dreidimensionalen Formen mit Formen von flächenhaftem Charakter – bestimmte maßgeblich die weitere Entwicklung des europäischen Konstruktivismus.

Roy Lichtenstein, Okay Hot-Shot, Okay (1963)

Und gäbe es die Vielfalt moderner Kunst im 20. Jh. ohne den „linearen" Lyrismus eines Amedeo Modigliani und Anatoli Kaplan, ohne Jules Pascin (Julius Pinkas), Chaim Soutine, Jacques Lipchitz, ohne die Surrealisten Jacques Herold, Arthur Segal, Victor Brauner und Marcel Janco?

Modigliani kam 1906 nach Paris, wo er Picasso begegnete und sich mit Maurice Utrillo und Chaim Soutine anfreundete. Um 1915/16 entwickelte er einen eigenen Stil, der sich durch manieristische Überlängen und ovale Köpfe auf röhrenförmig wirkenden Köpfen auszeichnet; so debütiert er mit einer Eigenausstellung bei Berthe Weil in Paris. Modigliani schuf einen „eigenen Expressionismus", indem er „die Willkür zur Regel" machte, herkömmliche oder real existierende Formen veränderte, verlängerte, summarisch und ausdrucksstark verzerrte. Seine linear-sensible und zerbrechlich wirkende Kunst wurde wegbereitend für die moderne Malerei.

Victor Brauner, Landschaft in der Dobrudscha (1937)

Und der unvergleichliche Marc Chagall (Moische Segal) – neben Pablo Picasso wohl der herausragendste Künstler des 20. Jhs. – hat nicht er den phantastischen Expressionismus zu einer eigenen Bilderwelt geführt, märchenhaft, voll heiterer Schwermut, Mythologie und Mystik? Was man manchmal heute stilmäßig als „chagallesk" bezeichnet, ist nicht nur die eigene Ausdrucksweise des Künstlers, der einst aus dem Schtetl Liosno bei Witebsk nach Paris kam, sondern die Spiegelungen von Erinnerungen und Eingebungen, die jenseits des realen Alltags stehen.

Chagall war in der östlichen Welt der Ghettos und Schtetls, der vertrauten Traditionen in einer bedrohten Kindheit aufgewachsen, in der Würde, Armut und geistiger Reichtum eng nebeneinander wohnten. So kennzeichnet sein Werk bildhafte Synthesen des östlichen Judentums, die um ewige Themen, wie Heimat, Herkunft, Geburt, Liebe, Hochzeit und Tod kreisen. Dadurch wurde er wegweisend für andere Künstler, wie Jankel Adler aus Tuschyn in Galizien oder Clarette Wachtel aus Ploieşti in Rumänien, die durch ihn ihre verinnerlichte jüdische Identität erkannten, um dann ihre Gedankenwelt auf „chagalleske Art" zu gestalten.

Es war der aus dem rumänischen Galatz stammende Daniel Spoerri (Daniel Isaak Feinstein), der 1968 in Düsseldorf als Objektkünstler die sogenannte Eat-Art begründete, als Abglanz der westlichen Konsumgesellschaft. Er ordnete gewöhnliche Dinge in seine Kunstwerke ein und schuf dadurch eine ironische Brücke zwischen Kunst und alltäglicher Banalität. Spoerri wurde somit zum Hauptvertreter des „Nouveau Réalisme", indem er beispielsweise zum erstenmal als „Fallenbild" einen gedeckten Frühstückstisch fixierte und zum Kunstwerk erklärte.

Tristan Tzara (Samuel Rosenstock), Dichter, Theoretiker und Objektkünstler, der aus dem kleinen moldauischen Schtetl Moineşti (jidd. Mójnescht) kam, lancierte am 8. Februar 1916 in Zürich – im Bierlokal Maieray, dem späteren „Cabaret Voltaire" – die Kunstbewegung des Dadaismus und den Begriff „art abstrait". Yves Klein entwickelte die ersten Theorien zur Monochromie und konzipierte so die monochrome Malerei. Seine „Symphonie monoton" – 1914 uraufgeführt – und seine ungewöhnlichen Materialien und Techniken sowie die Einbeziehung von Feuer, Wasser und Luft in den kreativen Schaffensprozess war für die „Erweiterung und Entgrenzung" des modernen Kunstbegriffs wegweisend.

 

Marc Chagall, Über Witebsk (1915)

Doch in der Reihe großer Namen der Moderne stehen auch der Bildhauer Alexander Calder, der die ersten eindrucksvollen Werke des abstrakten Surrealismus und strengen Konstruktivismus – mechanische, später luftbewegte Draht- und Metallskulpturen – schuf, und schließlich die richtungweisenden Objektkünstler Man Ray und Robert Rauschenberg; letzterer schuf in den 1950er Jahren als Erster aus verschiedenen Materialien und alltäglichen Fundstücken sogenannte „Combine Paintings", indem er malerische Elemente mit Objekten und Objektteilen künstlerisch verband. Die amerikanische Malerin Helen Frankenthaler prägte mit ihrem abstrakten Expressionismus und ihren lyrischen Improvisationen eine Reihe von amerikanischen Künstlern, wie Morris Louis und Kenneth Noland, während Adolph Gottlieb, mit seinen „Pictographs" (symbolische Zeichenbilder) den Magischen Realismus durch eine eigene Bildsprache und neue Ausdrucksformen bereicherte. Und schließlich sollte in dieser summarischen Aufzählung auch Roy Lichtenstein, der Maler und Grafiker, genannt werden, der zum Hauptvertreter der amerikanischen Pop Art wurde, gefolgt von George Segal, James Rosenquist, Tom Wesselmann und – nach dem Übergang zum Neuen Realismus – auch von Edward Kienholz, der als Maler zum Enviroment fand und durch seine Individuen, die ohne persönliche Merkmale sind, die moralische Dekadenz und die Entfremdung des Menschen in der zeitgenössischen Massengesellschaft sichtbar gemacht hat.

Diese und andere Künstler lebten in Frankreich, Deutschland, in der Schweiz und den USA; und viele von ihnen kamen aus Osteuropa, aus Ungarn, Rumänien, Tschechien, Polen, Russland, Litauen und Bulgarien. Sie alle haben die moderne Kunst durch ihre Ideen und ihr Werk maßgeblich bereichert und geprägt, und sie gehören – wie auch einige andere, die hier nicht mehr genannt werden konnten – zu den Säulen der geistigen und kreativen Elite des 20. Jhs. Ihr Schaffen und ihr Beitrag ist aus dem modernen Kunstgeschehen nicht mehr wegzudenken. Und – was man heute oft nicht immer weiß – sie waren Juden. Auch wenn man ihre Werke – mit wenigen Ausnahmen, wie etwa Marc Chagall und Ephraim Moses Lilien – nicht als jüdische Kunst bezeichnen kann, und obwohl in den verschiedenen einschlägigen Lexika oft nur auf ihre geographische Herkunft hingewiesen wird. Und so erscheint dann z.B. Chagall als „französischer Maler russischer Herkunft", Spoerri als „Rumäne", Moholy-Nagy als „Ungar", Jules Pascin als „Bulgare" usw.

Das erste weithin vernehmbare Sprachrohr der modernen Kunst Europas schuf der Berliner Musiker und Schriftsteller Herwarth Walden (Georg Levin), der 1910 in seiner Heimatstadt die Zeitschrift „Der Sturm" gründete, danach einen Kunstverlag und 1912 die berühmte gleichnamige Galerie. Mit feinem Spürsinn für Qualität förderte er die aufstrebende moderne deutsche Kunst und machte sie europaweit bekannt. Als glänzender Polemiker, Kritiker, Theoretiker des bildnerischen und literarischen Expressionismus schätzte er als erster die Bedeutung vieler junger Künstler jener Zeit richtig ein. Von ihm stammt, heißt es, auch der Stilbegriff des Expressionismus. In der „Sturm"-Galerie fand die Erstausstellung von Paul Klee – zusammen mit Hans Mattis-Teutsch – statt, und in der „Sturm"-Zeitschrift wurde z.B. 1910 zum ersten Mal Oskar Kokoschka vorgestellt; danach, in den folgenden Jahren präsentierte Walden die „Brücke"-Künstler (voran mit Max Pechstein) und die des „Blauen Reiter" (Marc, Kandinsky, Münter, Werefkin, Jawlensky, Mattis-Teutsch, Campendonck u.a.).

Neben Herwarth Walden steht noch eine ganze Reihe anderer prominenter jüdischer Galeristen, Verleger, Mäzene und Sammler, wie Daniel Henry Kahnweiler (Paris), Alfred Stieglitz (New York), Bruno Cassirer, James Simon, Heinz Berggruen (Berlin), Walter Feilchenfeldt (Zürich), Grete Ring (London), Iosif Weinberg (Bukarest), Philip Rothschild, Marquerite „Peggy" und Harry Frank Guggenheim u.a.

Kahnweiler, der eigentlich aus Mannheim stammte, eröffnete 1907 in Paris in der Rue Vignon eine Galerie, die bald berühmt wurde, nachdem er Derain, Vlaminck, Braque, Picasso, Léger u.a. junge, begabte Künstler gefördert hatte und somit oft zum ersten Mal dem französischen Publikum vorstellte. In seinem eigenen, 1909 gegründeten Kunstverlag erschien als erstes Buch „L’Enchanteur pourissant" von Guillaume Apollinaire mit Holzschnitten von André Derain, danach „Saint Motorel" von Max Jacob mit Radierungen von Picasso (1911) u.a.

Der in Hoboken (New Jersey) geborene Alfred Stieglitz lebte und studierte 1881-1887 in Berlin, bevor er dann 1887 nach New York zurückkehrte und die Photo-Sezession im Dachboden des Hauses Fifth Avenue 291 gründete. Im Jahr darauf gab er die Zeitschrift „Camera Work" heraus, in der künstlerische Fotos mit Beiträgen von Bernhard Shaw, H. G. Wells, Galsworthy, Maeterlinck und Gertrude Stein erschienen. Seine Galerie, die er einfach „291" nannte, wurde weltbekannt, als er 1908 zum ersten Mal Henri Matisse und in den Jahren danach, 1909-1915, Werke von Toulouse-Lautrec, Henri Rousseau, Cézanne, Picasso, Picabia, Brâncuşi, Braque u.a. ausstellte.

Ab 1916 gab er gemeinsam mit Agnès Ernst Meyer die Zeitschrift „291" heraus, an der Marius de Zayas, Francis Picabia, Man Ray und Marcel Duchamp mitarbeiteten, wodurch die „Anti-peinture"-Bewegung eingeleitet wurde. Stieglitz, der eigentlich deutsch-jüdischer Herkunft war, wurde so zum ersten und wichtigsten „Propagandisten" moderner Kunst in den USA. Mit seiner „Armory Show", der ersten großen internationale Ausstellung moderner Kunst in New York im Februar 1913, ist Alfred Stieglitz in die Annalen der Kunstgeschichte Amerikas eingegangen. Denn von diesem denkwürdigen Moment an begann auch hier die Avantgarde „ihr geistiges Terrain zu erobern".

Eine ähnliche bedeutsame, kunstfördernde Rolle wie Stieglitz spielten einst Bruno und Paul Cassirer in Berlin, die als Galeristen und Verleger die deutsche Öffentlichkeit mit den französischen Impressionisten bekannt machten. Sie verhalfen auch Max Liebermann, Max Slevogt und Lovis Corinth sowie den jungen Expressionisten, wie z.B. Oskar Kokoschka, zum Start in die große Kunstszene. Im 1889 gegründeten Verlag, den später Bruno Cassirer leitete, erschien zwischen 1903 und 1933 die bekannte Zeitschrift „Kunst und Künstler", herausgegeben von Emil Heilbutt und danach von Karl Scheffler. Als Bruno Cassirer 1933 Deutschland verlassen musste, übernahmen die Nachfolge Grete Ring in London, Walter Feilchenfeldt in Zürich und J. H. F. Lütjens in Amsterdam.

Es ist wichtig, in einer Zeit, wo sich manchmal – spricht man von den Leistungen des Judentums im weiten Bereich der modernen bildenden Kunst – Vergessen und Unkenntnis breit zu machen scheint, auf diese und andere Namen wieder hinzuweisen. Denn antisemitisches Gedankengut, wie einst die Behauptungen von Richard Wagner, Houston St. Chamberlain, Wilhelm Marr, Adolf Stoecker u.a., dass der jüdische Beitrag zur deutschen und europäischen Kultur „eine bedrohliche Invasion fremder, rassisch minderwertiger ‚Elemente’" sei, „die ohne schöpferisches Talent nur aufgrund der Dekadenz und Korruption der Bourgeoisie Beachtung fänden", wird gelegentlich auch heute noch propagiert. Manchmal auch nur in sogenannten „Leserbriefen" und anonymen „Meinungen aus dem Volk". Und Unwissenheit liefert seit jeher den Dünger zum dunklen Nährboden antisemitischer Ideen.

So versuchen nun diese Marginalien zusammenfassend und konzis Einsichten und Hinweise zu vermitteln auf eine Zeit der produktiven Vielfalt und der großen Namen. Sie begann einst mit Max Liebermann in Berlin und erlebte einen temporären Niedergang im Schatten der Nazi-Ära. Doch sie ist gegenwärtig – ich will mich nur auf vier säulenhafte Beispiele beschränken – mit Clarette Wachtel in Bukarest, die den chagalesk-lyrischen Surrealismus begründet hat, mit Tom Wesselmann in Cincinnati, einem der wichtigsten Vertreter der amerikanischen Pop Art, oder mit Daniel Spoerri in Seggiano (Italien), dem subtil-ironischen Kritiker der Wohlstandsgesellschaft und Dara Birnbaum, der eigenwilligen New Yorker Video- und Multimedia-Künstlerin, noch nicht zu Ende.

Denn diese und die anderen jüdischen Künstler, sind mit ihren Werken und ihrem Vermächtnis – man gestatte mir den Vergleich, in Anlehnung an Jacob Baal-Teshuva – die Fiedler auf dem Dach der modernen Kunst. n

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