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Zwischen den Zeiten, zwischen den Welten – Eine jüdische Familie im Sudetenland

Peter BROD

Schauplatz: Wien. Zeit: Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Es ist die Ära des Kaisers Franz Joseph, aber auch Karl Luegers. Unter der Herrschaft des greisen Monarchen fühlen sich die meisten Juden der Doppelmonarchie wohl, aber der Bürgermeister der Hauptstadt erinnert sie regelmässig daran, dass ihre Stellung in der Gesellschaft keineswegs sicher ist. Freilich, denn „Wer a Jud´ is´, bestimm´ i´!"

Camill Herrmann mit seiner Tochter Elisabeth, ca. 1934 in Rothau bei Graslitz, Westböhmen. Foto mit freundlicher Genehmigung von P. Brod

Camill Herrmann wollte selbst bestimmen, was er ist. Geboren in einer deutschsprachigen jüdischen Familie in Nordböhmen, kam er als Soldat um 1900 nach Wien und liess sich taufen. Was ihn dazu bewogen hat oder wer den Impuls dazu gab, weiss nicht einmal sein noch lebender Sohn Heinrich, Jahrgang 1914. Vielleicht war es der Einfluss von Freunden in der Armee, vielleicht wollte der „Einjährig Freiwillige", der an eine Laufbahn in der Industrie dachte, ein leichteres Entrée bei potentiellen Arbeitgebern haben. Seine Verwandten, die in Saaz mit Hopfen und Saatgut handelten („Jacob Herrmann und Söhne"), sassen, so hiess es später, schiwe – Ausdruck der Trauer einer gesetzestreuen jüdischen Familie über den Verlust eines Sohnes.

Etwas später, ebenfalls in Wien, traf Camill Maria Herrmann, wie er nun nach der Taufe hiess, ein Mädchen aus Wiener Neustadt, das ihm den Kopf verdrehte: Friederike Lahr war das jüngste Kind aus der dritten – und letzten – Ehe des Notars Johann Lahr, einst aus Hohenelbe im Riesengebirge nach Niederösterreich gekommen. Johann hatte viele Nachkommen, von denen einige in Wien Karriere in der Justiz und in der Kommunalverwaltung machten. Man war katholisch und in einigen Fällen deutsch-national. Von dieser Haltung war es später kein weiter Weg zum Nationalsozialismus. Ein naher Verwandter Friederikes, bekannt als Major Fritz Lahr, ging ihn, und während des „Anschlusses" brachte ihm das einige Tage zweifelhaften Ruhms ein, als er kommissarischer Bürgermeister von Wien wurde. (Den Nazis aus dem „Altreich" passte dies nicht, und der Offizier des Ersten Weltkrieges durfte sich noch einmal an der Front bewähren.)

Vom Schmelztiegel Doppelmonarchie hielten beide Familien wenig, obwohl gerade die Lahrs, eine bunte Kombination aus nordböhmischen Bauern, südmährischen Bierbrauern (mit dem schönen Nachnamen Swoboda) und Ybbs-Persenbeuger Gerichtsdienern als Musterbeispiel gelungener Mischung verschiedener „Stämme" des Reiches hätten gelten können. Ein Jude, wenn auch ein getaufter, in der Familie? Für die Wiener Verwandschaft ein grässlicher Gedanke. Bei den Herrmanns in Saaz wird man wohl: „Auch das noch!" gedacht haben.

Die jungen Leute hielten durch und nach mehreren Jahren Bekanntschaft wurden sie in Wien getraut, natürlich katholisch. Sie liessen sich in Rothau bei Graslitz nieder, einem Dorf unweit von Karlsbad, wo Camill eine Anstellung beim Eisenhüttenbetrieb des Grafen Nostitz-Rieneck fand. Mit der Zeit wurde er technischer Direktor des Werkes. Drei Kinder wurden geboren – Norbert, Heinrich und – nach Camills Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft, in die er 1915 in der Festung Przemysl geraten war - Elisabeth. Ihre Muttersprache war Egerländerisch, ein Dialekt, den man schon in Brüx kaum verstand.

Als 1933 hinter der Grenze zum „Reich", die nur einige Kilometer entfernt war, die Nationalsozialisten zur Macht kamen, wurde es in Rothau langsam ungemütlich. Die Weltwirtschaftskrise zeigte Folgen auch in diesem entlegenen Winkel der Tschechoslowakei und viele Ortsbewohner meinten, jetzt sei die Stunde gekommen, sich von den Tschechen zu lösen und gemeinsam mit „dem Hitler" einer wunderbaren Zukunft entgegen marschieren zu können. Ein neues politisches Gebilde namens Sudetenland nahm Gestalt an, und eine Mehrheit seiner Bewohner warf sich Konrad Henlein zu Füssen, Hitlers gelehrigstem Schüler in Böhmen und Mähren. Camill Herrmann gehörte zwar nach wie vor gemeinsam mit dem Pfarrer, dem Arzt und dem Apotheker zur Rothauer „Elite", doch das Sagen hatten immer mehr die Rabauken mit den weissen Strümpfen von der „Sudetendeutschen Partei", die sich zur „deutschen Weltanschauung" bekannten. Während Fritz Lahr, der Verwandte seiner Frau, im März 1938 in Wien im Handstreich das Rathaus besetzte, musste Camill Herrmann um die Zukunft seiner Familie bangen.

Ein halbes Jahr später war es so weit – die braune Pest eroberte die deutschsprachigen Gebiete der letzten mitteleuropäischen Demokratie. Nach dem Münchner Abkommen wurde das Sudetenland im Oktober 1938 dem „Dritten Reich" einverleibt. Auch hier wurden die Nürnberger Rassengesetze eingeführt und im November, während der „Kristallnacht", brannten auch in Aussig, Reichenberg und vierzig anderen Städten und Dörfern der neuen Reichsgaue die Synagogen. 63 jüdische Friedhöfe wurden verwüstet. Eine beträchtliche Anzahl von Juden hatte sich bereits im September und Oktober ins Landesinnere geflüchtet. Viele von ihnen wurden ein halbes Jahr später, bei der Besetzung der „Rest-Tschechei" und Errichtung des „Protektorats Böhmen und Mähren" im März 1939, von den Nazis eingeholt. Sie teilten dann das Los jener, die in der Heimat verblieben waren, und jenes der Juden im „Altreich", in der „Ostmark" und in anderen Gebieten unter der NS-Herrschaft – Entrechtung, Deportation, und in den meisten Fällen Ermordung. Insgesamt führten die Ereignisse des Herbstes 1938 zur ersten, später kaum wahrgenommenen Vertreibung von Deutschen aus dem Sudetenland – freilich von Deutschen, die ausserdem Juden, Sozialdemokraten, Kommunisten oder andere Nazi-Gegner waren.

Camill Herrmann blieben die schlimmsten Verfolgungsmassnahmen erspart. Allerdings zwangen ihm die Nazis die „Reichsangehörigkeit" auf und unterzogen ihn einer neuen „Taufe": amtlich hiess er nun Camill Israel Maria Herrmann. Seine Ehe wurde als „privilegierte Mischehe" klassifiziert (eines der „Privilegien", ab Herbst 1941 wirksam, betraf den Judenstern, den Camill nicht tragen musste). Norbert Herrmann, nach den Rassegesetzen „Mischling 1. Grades", wurde zur Wehrmacht eingezogen und nach dem Frankreichfeldzug im Herbst 1940 aus ihren Reihen „unehrenhaft" ausgestossen. In Rothau wurde die Lage der Herrmanns untragbar. Unter den lokalen Nazis hiess es zwar, gegen den „Herrn Ingenieur" läge nichts Besonderes vor, aber ihm wurde klar gemacht, er solle verschwinden. Hinzu kam der Druck der Gestapo: im Rahmen ihres zwanghaften Kreuzzugs zur Rettung „arischer" Seelen lud sie Friederike einige Male in ihre Karlsbader Leitstelle vor. Dort versuchten die Kommissare die neue „Reichsangehörige" zur Scheidung zu bewegen. Friederike blieb standhaft – als liebender Ehefrau und Mutter wie auch als Katholikin sei ihr das unmöglich, gab sie zu Protokoll.

Ihre Haltung rettete Camill vor der Deportation und die Kinder vor grösserer Unbill. Die Eltern zogen 1940 mit Elisabeth nach Prag um, weil sie sich in der anonymen Grossstadt mehr Ruhe erhofften. Davon konnte zwar kaum die Rede sein, insbesondere nach der Terrorwelle, die dem Attentat tschechoslowakischer Soldaten auf den obersten Nazimachthaber im Protektorat, Reinhard Heydrich, im Jahre 1942 folgte. Sie mussten auch mit ansehen, wie immer mehr jüdische Verwandte und Freunde aus Prag nach Theresienstadt und „in den Osten" deportiert wurden. Doch die (w)irre Logik der Durchführungsbestimmungen zu den Rassegesetzen schützte sie vor dem Schlimmsten. Als letzter „Mischling 1. Grades" durfte Elisabeth in Prag sogar noch am deutschen Stefansgymnasium ihre Matura absolvieren. Ihre Brüder wurden gegen Ende des Krieges zur Zwangsarbeit eingezogen, sie selbst konnte mit den Eltern bis zur Befreiung der Tschechoslowakei in Prag bleiben.

Damit waren behördliche Schikanen allerdings nicht vorbei. Waren die Herrmanns bis zum 8. Mai 1945 Juden bzw. „jüdisch versippt" und „Mischlinge", wurden sie nach diesem Tag von der siegreichen tschechoslowakischen Staatsmaschinerie plötzlich als Deutsche und damit praktisch als Landesverräter registriert. Für Camill und Friederike, die des Tschechischen kaum mächtig waren, war es eine zeitlang gefährlich, auf die Strasse zu treten. Es bedurfte fast zweijähriger Anstrengungen, bis ihnen die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit zurückgegeben wurde und damit die Möglichkeit, im Lande zu bleiben. Norbert, der Jurist, war des Behördenkampfes müde, und schloss sich 1947 einem Transport sudetendeutscher Sozialdemokraten an, die in die amerikanische Besatzungszone in Deutschland umzogen. Heinrich und Elisabeth blieben mit den Eltern in der kommunistisch gewordenen Tschechoslowakei. In den sechziger Jahren, einige Jahre nach dem Tod ihrer Eltern, zogen auch Heinrich und Elisabeth mit ihren Familien nach Bayern.

Camill und Friederike Herrmann waren meine Grosseltern, Elisabeth meine Mutter. Ich kenne ihre Geschichte aus zahlreichen Erzählungen und weiss, dass sie relatives Glück hatten. Relatives Glück hatte auch mein jüdischer Vater, dem im März 1939 die Flucht nach England gelang und der meine Mutter erst nach seiner Rückkehr ins befreite Prag traf. Das Schicksal der Herrmanns war nicht typisch für die Mehrheit der Juden im Sudetenland, aber man kann an ihm vieles aufzeigen, was später in den Heimatbüchern der aus dem Sudetenland Vertriebenen verschwiegen oder mit ein paar Zeilen abgehandelt wurde. Sie, die Juden, gehörten zu den ersten Entrechteten, Vertriebenen und Ermordeten im Sudetenland. Die Methoden ihrer Ausschliessung aus der Gesellschaft, welche in milderer Form auch bei der Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei zwischen 1945 und 1947 angewandt wurden und über welche die Mehrheit der Vertriebenen bis heute Klage führt, wurden in diesen Raum von den Nazis und ihren sudetendeutschen Anhängern hineingetragen.

Peter Brod, Journalist, lebt nach Jahren des Exils in Deutschland, England und den USA wieder in seiner Heimatstadt Prag

Literaturhinweise:

Anton Otte / Petr Křížek (Hg.): Židé v Sudetech / Die Juden im Sudetenland. Praha 2002.
Jörg Osterloh: Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland 1938 – 1945. München 2006.

 

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