Martin Buber und die jüdische Erziehung
Klaus DAVIDOWICZ
Bereits 1926 erkannte Viktor Kellner,
Direktor des Wiener jüdischen Gymnasiums, der „Zwi-Perez-Chajes-Schule":
„In der Frage der jüdischen Erziehung offenbart sich wie kaum
in einer zweiten von den vielen komplizierten Fragen unseres Diasporadaseins die
ganze Problematik unserer Existenz." (Viktor Kellner, Die Problematik der
jüdischen Erziehung, in: Der Jude, Sonderheft Erziehung [1926], S.10)
Mit dieser Frage der jüdischen Erziehung und Bildung hat sich
Martin Buber (1878-1965), einer der größten Denker des modernen Judentums, sein
ganzes Leben lang beschäftigt. So finden sich in Bubers Arbeiten wichtige
Gedanken und Impulse, die auch heute nichts von ihrer Aktualität verloren haben,
wobei diese pädagogischen Schriften von seinen Arbeiten zum Zionismus, seiner
dialogischen Philosophie und auch zum Chassidismus nicht zu trennen sind. All
seine verstreuten Texte zu Jugend, Erziehung und Bildung sind bereits 2005 im
achten Band der Werke Bubers erstmalig vereinigt worden. Die Hintergründe der
meisten Reden bildet sein Engagement in der zionistischen Jugendbewegung und
jüdischen Erwachsenenbildung, wobei sie in völlig unterschiedlichen
Lebensabschnitten geschrieben worden sind. Sehr bekannt sind die drei Reden
„Über das Erzieherische" (1925), „Bildung und Weltanschauung" (1935) und „Über
Charaktererziehung" (1939), da sie 1953 als „Reden über Erziehung" erschienen
sind (zuletzt im Jahre 2000 in der 10. Auflage).
1922 war Bubers philosophisches Hauptwerk „Ich und Du"
veröffentlicht worden, worin er das dialogische Prinzip als Lebensprinzip des
Menschen entfaltete. Die hierin gewonnenen Erkenntnisse über die Beziehung
zwischen Mensch, Umwelt und Gott wendet er nun auf die Erziehung an.
Dies kann man bereits in seinem Geleitwort „Die Aufgabe" für
das 1. Heft der Zeitschrift „Das Werdende Zeitalter" vom April 1922 sehen. Diese
Zeitschrift des reformpädagogischen „Weltbundes für Erneuerung der Erziehung"
wurde von Elisabeth Rotten (1882-1964) und Karl Wilker (1885-1980)
herausgegeben. In Bubers zweiseitigem Geleitwort beleuchtet er das Verhältnis
zwischen Erzieher und Schüler. Es geht ihm um das Bewusstsein, dass man als
Lehrer eine besondere Verantwortung übernommen hat – die Erziehung.
„Erziehung ist Erschließung [...].Hier
beginnt unsere heimliche Macht und Verantwortung. Gewalt übt der Mensch auch
im Unwillkürlichsten noch: alles kommt darauf an, ob er weiß, was er tut,
und es unter das Gesetz seiner Aufgabe stellt [...] Ob wir es vorhaben oder
nicht, wir erziehen immer „zu" etwas hin; es hängt von uns ab, ob das etwas
ist, was wir nicht wollen, oder etwas, was wir wollen - ohne Willkür wollen.
Dieses aber kann rechtmäßiger Weise nur eins sein: eben dies, was wir selber
erziehend tun, da wir dem Menschen als unserm Du gegenüberleben, ihn nicht
erfahrend, sondern schauend, nicht benützend, sondern verwirklichend." (Die
Aufgabe [1922], in: Buber, Werkausgabe, Gütersloh 2005, Band 8, S.128-129)
Buber beschreibt hier die nicht zu unterschätzende
Machtposition der Erzieher. Gleich ob bewusst oder unbewusst – „Wir erziehen
immer ‚zu’ etwas hin." Diese Beziehung ist aber nicht einseitig, wie er bereits
in „Ich und Du" erkannt hatte:
„Beziehung ist Gegenseitigkeit. Mein Du wirkt an mir, wie ich
an ihm wirke. Unsre Schüler bilden uns, unsre Werke bauen uns auf….Wie werden
wir von Kindern, wie von Tieren erzogen!" (Buber, Ich und Du, in: Das
dialogische Prinzip, Heidelberg 1984, S.19-20)
1925 fand in Heidelberg die 3. Internationale Pädagogische
Konferenz unter dem Motto „Die Entfaltung der schöpferischen Kräfte im Kinde"
statt, wo Buber sehr pointiert in seiner „Rede über das Erzieherische" sagte:
„Das erzieherische Verhältnis ist ein rein dialogisches." (Rede über das
Erzieherische [1926], in: Buber, Werkausgabe
Gütersloh 2005, Band 8, S.149)
Ein sehr oft übersehenes Element ist die
persönliche Einstellung des Erziehers. Wenn wir uns selbst an unsere Lehrer
erinnern, waren es meist diejenigen, bei denen wir am meisten gelernt haben, die
uns im Unterricht für den Stoff interessieren konnten. Buber ist der Ansicht,
dass der Erzieher das, was er erreichen will, wohl oder übel auch verkörpern
muss. Ein atheistischer Religionslehrer ist fragwürdig und ein Geschichtslehrer,
der sich selbst nicht wirklich für Geschichte begeistern kann, wird nur schwer
Erfolge bei den Schülern erringen können. Ein damit zusammenhängendes Problem
ist die Erwartungshaltung des Lehrers – am besten wäre es, zunächst gar nichts
zu erwarten. In seiner hebräischsprachigen Rede „Über Charaktererziehung", die
er 1939 in Tel Aviv bei einer Tagung der jüdischen Lehrer hielt, formulierte
Buber sehr eindringlich:
„Erziehung verträgt keine Politik. Auch
wenn der Schüler die verheimlichte Absicht nicht merkt, wirkt sie auf das
Tun des Lehrers zurück und entzieht ihm die Unmittelbarkeit, die seine Kraft
ist. Auf die Ganzheit des Zöglings wirkt nur die Ganzheit des Erziehers ein,
seine ganze unwillkürliche Existenz. Der Erzieher braucht kein sittliches
Genie zu sein, um Charaktere zu erziehen; aber er muß ein ganzer lebendiger
Mensch sein, der sich seinen Mitmenschen unmittelbar mitteilt: seine
Lebendigkeit strahlt auf sie aus und beeinflußt gerade dann am stärksten und
reinsten, wenn er gar nicht daran denkt, sie beeinflussen zu wollen." (Über
Charaktererziehung [1939], in: Buber, Werkausgabe Gütersloh 2005, Band 8,
S.328)
Dennoch sollte sich der Erzieher
darüber im Klaren sein, dass er nur ein Element der Erziehung neben „Haus […]
Straße, Radio und Zeitung, Musik und […] Technik" ist.
Die Problematik der jüdischen Erziehung hatte Ernst Simon
(1899-1988) bereits 1926 in einer wunderschönen Metapher beschrieben:
„Jede echte Erziehung muss mit den
Erziehern beginnen. Diese Wahrheit macht das moderne Problem der jüdischen
Erziehung so schwierig. Denn wir haben heute, mit ganz geringen Ausnahmen
keine Erzieher zur vollen und echten Jüdischkeit mehr, und auch noch keine
neuen…Und kaum noch Männer und Frauen, und kaum schon junge Menschen, denen
die neuen Tafeln ihres Lebensweges die gleiche Schrift entdeckten, die auf
den alten, zerbrochenen Tafeln stand. Und doch ist in diesem Bilde der Bibel
das ganze Geheimnis der jüdischen Tradition offenbar: immer wieder die
Tafeln zerbrechen, immer wieder neue Tafeln schreiben, und immer wieder die
paradoxe Identität beider Inschriften, durchaus nachträglich, bestätigt
finden. Wir stehen heute in einer Zeitwende, die soeben die alten Tafeln
zerbrochen hat oder sie gerade zerbricht, die mit dem Schreiben der neuen
noch nicht oder gerade eben beginnt, die aber fast nirgends die Identität,
die Einheit, d.h. die Ewigkeit der Lehre schon wieder entdeckt hat." (Ernst
Simon, Erziehung zur Tradition, in: Der Jude, Sonderheft Erziehung [1926],
S.105)
Man muss also sich selbst und die eigenen
Mängel sehr gut kennen, um überhaupt erziehen zu können. Nur in der
„erzieherischen Begegnung" geschieht nach Buber wahre Erziehung, da sie die
Achtung des Anderen und dessen Einzigartigkeit beinhaltet. Die
zwischenmenschliche Beziehung ist Bubers Zentrum der Erziehung. Erzieher und
Schüler sollen beide natürlich miteinander verbunden dies erreichen wollen -
weder gezwungen, noch absolut frei. So zog er in seiner „Rede über das
Erzieherische" das alte „Meister-Geselle Lehrlingssystem" als Muster heran, da
sie „lernten, ohne es zu merken".
„Vom Schicksal, von der Natur, von den
Menschen gezwungen werden: der Gegenpol ist nicht, vom Schicksal, von der
Natur, von den Menschen frei, sondern mit ihm, mit ihr, mit ihnen verbunden
und verbündet sein; um dies zu werden, muß man freilich erst unabhängig
geworden sein, aber die Unabhängigkeit ist ein Steg und kein Wohnraum.
Freiheit ist das vibrierende Zünglein, der fruchtbare Nullpunkt. Zwang in
der Erziehung, das ist das Nichtverbundensein, das ist Geducktheit und
Aufgelehntheit; Verbundenheit in der Erziehung, nun das ist eben die
Verbundenheit, das ist aufgeschlossen- und einbezogen sein; Freiheit in der
Erziehung, das ist Verbundenwerdenkönnen. Sie ist nicht zu entbehren und in
sich nicht zu verwerten; ohne sie gerät es nicht, aber auch durch sie
nicht." (Rede über das Erzieherische [1926], in: Buber, Werkausgabe
Gütersloh 2005, Band 8, S.143)
Bubers dialogische Sichtweise der Erziehung
findet sich ebenso in seinen Schriften zum Chassidismus:
„Das Verhältnis zwischen dem Zaddik und seinen Schülern
ist nur dessen (d.h. des vitalen Grundes des Chassidismus) stärkste
Konzentration. In diesem Verhältnis entfaltet sich die Wechselseitigkeit zu
größter Klarheit. Der Lehrer hilft den Schülern, sich zu finden, und in der
Stunde des Niedergangs helfen die Schüler dem Lehrer, sich wiederzufinden.
Der Lehrer entzündet die Seelen der Schüler, nun umgeben sie ihn und
leuchten ihm. Der Schüler fragt, und durch die Art seiner Frage erzeugt er,
ohne es zu wissen, im Geist des Lehrers eine Antwort, die ohne die Frage
nicht entstanden wäre." (Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 1990,
S.24-25)
Wenn es überhaupt ein Ziel in der Erziehung
gibt, dann dies: „Der Erzieher […] hilft, den Menschen […] wieder vor das
Angesicht Gottes zu stellen." (Buber, Über Charaktererziehung [1939], in: Buber,
Werkausgabe Gütersloh 2005, Band 8, S.340)
Gerne wird Buber „Weltfremdheit" und „Abgehobenheit"
vorgeworfen. Natürlich ist er kein Systematiker in seiner Erziehungslehre. Aber
wir spüren in seinen bislang nur wenig erforschten Schriften zur Erziehung eine
deutliche Realitätsnähe, auch wenn seine Ideen weit von unserem Schulalltag, der
von Stundenkürzungen, undurchschaubaren Modulsystemen und am „Burn-Out-Syndrom"
leidenden Lehrern und Schülern geprägt ist, entfernt sind.
„Ist auf einen Umschwung, auf einen Durchbruch zu hoffen? Ich
frage euch, die ihr dies lest. Lehrt eure Kinder jüdische Gehalte, sucht ihnen
das Leben jüdisch zu formen, - aber daran ist’s nicht genug. Ihr müsst mit euch
selber beginnen. Israel ist mehr als Form und Gehalt, es will in unsrer ganzen
persönlichen, mitmenschlichen, gemeinschaftlichen Wirklichkeit verwirklicht
werden. Es liegt an uns, den Kindern die Welt wieder zuverlässig zu machen."
(Die Kinder [1933], in: Buber, Werkausgabe Gütersloh 2005, Band 8, S.237)
Zurück
|